«Ich will eure Schuld nicht»

Donnerstag, 29. Februar 2024

 

(zas, 29.2.24) Michael Fakhri, US-Sonderberichterstatter zum Recht auf Nahrung und Juraprofessor an der Universität von Oregon, spricht in einem Artikel von Nina Lakhani im britischen Guardian Klartext:

«Es gibt keinen Grund, absichtlich die Durchfahrt für humanitäre Hilfe zu blockieren oder absichtlich kleine Fischereifahrzeuge, Gewächshäuser und Obstplantagen in Gaza zu zerstören - ausser um den Menschen den Zugang zu Nahrungsmitteln zu verwehren ... Die absichtliche Vorenthaltung von Nahrungsmitteln ist eindeutig ein Kriegsverbrechen.»

Erschütternd diese Aussage:

«Wir haben noch nie erlebt, dass eine Zivilbevölkerung so schnell und so vollständig ausgehungert wurde, darüber sind sich die Hungerexperten einig. Israel nimmt nicht nur Zivilisten ins Visier, sondern versucht, die Zukunft des palästinensischen Volkes zu verdammen, indem es seinen Kindern schadet."

Fakhri benennt ein meist verschwiegenes bewusstes Ziel der Bombardierungen:

«Auch die Geschwindigkeit der Unterernährung von Kleinkindern ist erstaunlich. Die Bombardierung und die direkte Tötung von Menschen ist brutal, aber das Verhungern - und die Auszehrung und Verkümmerung von Kindern - ist quälend und abscheulich. Das wird sich langfristig auf die vorsätzlich geschehen ist.»

Einem Teil des medialen Mainstreams ist dieses Ziel eigentlich kein Geheimnis. Nur wird es dort, wenn ab und an in dürren Worten gestreift, sofort eingebettet in die absurde Frage, was denn Israel, was der Westen noch mehr an humanitärem Einsatz leisten könnten. Könnten die Mörder nicht noch feinfühliger vorgehen? Diese Medienleute tanzen so mit beim Todesmarsch von oben.

Die Angaben zur Hungersnot in Gaza, auf die sich Fakhri und die Guardian-Autorin beziehen, stammen aus einem UN-Bericht, der die Verschärfung der Lage durch die Sabotage an der UNRWA auf der Basis von unbewiesenen Behauptungen der israelischen Propaganda noch nicht berücksichtigt. Selbst wenn sich die israelischen «Erkenntnisse» über Hamas-Kooperation einiger UNRWA-Mitarbeiter wider Erwarten nicht als schlicht erfunden erweisen würden, wären sie in keiner Weise eine nach Völkerrecht haltbare Rechtfertigung für den westlichen Stopp der Finanzierung der UNRWA. Wir lesen im Artikel:

«Am Freitag erklärte die UNWRA, dass sie im nördlichen Gazastreifen, wohin zuletzt vor fünf Wochen Lebensmittel geliefert wurden, nicht mehr arbeiten könne.»

Fakhri dazu:

«Die fast sofortige Einstellung der Finanzierung auf der Grundlage unbegründeter Behauptungen gegen eine kleine Anzahl von Menschen hat keinen anderen Zweck als die kollektive Bestrafung aller Palästinenser:innen in mehreren Ländern. Die Länder, die diese Lebenshilfe gestrichen haben, sind zweifellos mitschuldig am Hungertod der Palästinenser:innen.»

Bestimmt «untersucht» irgendein US-israelisches Tentakel den «antisemitischen» Gehalt der Aussagen von Fakhri, für den Fall, dass diese zu publik würden. Nur, viel mehr mediale Aufmerksamkeit erhält ein anderes Thema: Die Berlinale als antisemitische Plattform. Denn der Dokumentarfilm «No Other Land» des Freundespaars Basel Adra (Palästinenser) und Yuval Abraham (jüdischer Israeli) erhielt dort begeisterten Applaus und einen Preis. Wo doch, so der mediale Tenor, bei der Filmvorführung und der Dankesrede der beiden Preisträger viele «Free, free Palestine» skandiert hatten! In der NZZ hat etwa ein kulturbeflissener Schreiber dem Film über den brutalen Siedler- und Armeeterror Eindrücklichkeit zugestanden, aber kritisierte vor allem den israelischen Regisseur, dass er die Vorkommnisse in den besetzten Gebieten nicht ausführlich in den Kontext des 7. Oktobers und überhaupt in den «Konflikt in seiner Komplexität» eingebettet habe.

Die gewohnte erbärmliche Relativierung des Grauens. Wir wissen: Der Konflikt hat nicht mit den schlimmen Ereignissen des 7. Oktobers angefangen, sondern 100 Jahre zuvor mit der westlich gestützten zionistischen Kolonialisierung und seither andauernden Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung. Der Ruf «Free, free Palestine» hat klar nichts mit Antisemitismus zu tun. Das gilt auch für den an der Berlinale ebenfalls skandierten Ruf «From the river to the sea, Palestine will be free». Nicht nur, weil Likud, Netanyahu etc. diesen Slogan gerne für ihr tatkräftig angestrebtes Eretz Israel (Grossreich) adoptieren, sondern weil er richtig ist. Vielleicht wäre «From the river to the sea, all the peoples must be free” besser, weil auch die jüdische Bevölkerung zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer ein klares Recht auf freies Leben ohne Massaker hat. Allerdings, Israel kolonialisiert Palästina, nicht umgekehrt. Auf keinen Fall gibt es ein Recht auf Apartheid, wie es mit dem Begriff vom «Lebensrecht Israels» faktisch transportiert wird.

Yuval Abraham skizziert in seiner Dankesrede kurz, was Apartheid bedeutet: Er lebt unter zivilen Gesetzen und kann sich frei bewegen, sein Freund Basel lebt unter Militärrecht und darf zum Beispiel nicht nach Jerusalem rein. Er plädierte leidenschaftlich für eine Verhandlungslösung. Basel Adra freut sich über den Preis, gleichzeitig kann er sich nicht freuen, da in Gaza der Genozid eskaliert. Er richtet sich an die anwesenden RegierungsfunktionärInnen und andere mit Einflussmöglichkeiten und fordert, deutsche Waffenlieferungen für den Genozid sofort zu beenden.

Das aber kam in deutschen Polit- und Medienkreisen schlecht an. Die Hetze wegen sog. Antisemitismus begann. Hetze – teils rabiat, teils diffus, es reicht, das Thema zum eigentlichen Inhalt zu machen.

Mit Folgen: Vor zwei Tagen schrieb Yuval auf X: 

«Ein rechtsgerichteter israelischer Mob kam gestern zum Haus meiner Familie, um nach mir zu suchen, und bedrohte enge Familienmitglieder, die mitten in der Nacht in eine andere Stadt flohen. Ich erhalte immer noch Morddrohungen und musste meinen Rückflug stornieren. Dies geschah, nachdem israelische Medien und deutsche Politiker meine Preisverleihungsrede auf der Berlinale - in der ich die Gleichberechtigung zwischen Israelis und Palästinensern, einen Waffenstillstand und ein Ende der Apartheid forderte - absurderweise als "antisemitisch" bezeichneten. Der entsetzliche Missbrauch dieses Wortes durch Deutsche, nicht nur um palästinensische Kritiker Israels, sondern auch um Israelis wie mich zum Schweigen zu bringen, die einen Waffenstillstand unterstützen, der das Töten in Gaza beenden und die Freilassung der israelischen Geiseln ermöglichen würde, entleert das Wort Antisemitismus seiner Bedeutung und gefährdet damit Juden in der ganzen Welt. Da meine Grossmutter in einem Konzentrationslager in Libyen geboren wurde und der grösste Teil der Familie meines Grossvaters von Deutschen im Holocaust ermordet wurde, finde ich es besonders empörend, dass deutsche Politiker im Jahr 2024 die Dreistigkeit besitzen, diesen Begriff in einer Weise gegen mich zu verwenden, die meine Familie gefährdet. Vor allem aber bringt dieses Verhalten das Leben des palästinensischen Co-Direktors Basel Adra in Gefahr, der unter einer militärischen Besatzung umgeben von gewalttätigen Siedlungen in Masafer Yatta lebt. Er ist in weitaus grösserer Gefahr als ich. Ich freue mich, dass unser preisgekrönter Film No Other Land eine wichtige internationale Debatte zu diesem Thema auslöst - und ich hoffe, dass Millionen von Menschen ihn sehen werden, wenn er dieses Jahr in die Kinos kommt. Wir haben den Film gemacht, um eine Diskussion anzustossen. Man kann harte Kritik an dem üben, was ich und Basel auf der Bühne gesagt haben, ohne uns zu verteufeln. Wenn es das ist, was ihr mit eurer Schuld für den Holocaust tut - ich will eure Schuld nicht.»

 

 

Haiti: Ungebremste Bandengewalt

Mittwoch, 21. Februar 2024

 

Port-au-Prince, 20. Februar 2024*

Das Réseau Réseau national de défense des droits humains (Rnddh, Nationales Netzwerk für Menschenrechtsverteidigung) konstatiert in einem Interview mit Alterpresse eine Negation der Menschenrechte in Haiti infolge der Zunahme der Gewalt der bewaffneten Banden in Haiti.


Der Terror bewaffneter Banden, unter dem die haitianische Bevölkerung leidet, reflektiert eine staatliche Unsicherheit, die von einem Team von Verantwortungslosen eingeführt wurde, die mit den Banden gemeinsame Sache machen, kritisiert der Exekutivdirektor des Rnddh, Pierre Espérance.

Es ist inakzeptabel, dass das Oberkommando der haitianischen Nationalpolizei (Pnh) mit Banden wie Chen Mechan und Kraze baryè unter einer Decke steckt, tadelt das Rnddh und betont, dass die Gewalt bewaffneter Banden auf dem Gebiet Haitis zunimmt, weil der Staat nicht im Interesse der Bevölkerung arbeitet.Das Rnddh gibt den Behörden auf höchster Ebene des Staates die Schuld, die "das Leben der Bürgerinnen und Bürger banalisieren".

Etwa zehn Personen, darunter der Fahrer Jean Rony Kersaint alias Ti Blan und neun weitere Fahrgäste, wurden bei einem Angriff bewaffneter Banditen auf einen Minibus des öffentlichen Nahverkehrs, der auf der Strecke Mirebalais/Port-au-Prince unterwegs war, am Sonntag, den 18. Februar 2024, in Morne-à-Cabris (nordöstlich der Hauptstadt Port-au-Prince) erschossen und mehrere weitere verletzt, bestätigte die Vereinigung der Eigentümer und Fahrer von Haiti (Apch) gegenüber AlterPresse/Alterradio.

Die Gewalt der bewaffneten Banden von Chen Mechan und Jeff Larose, die seit mehreren Tagen in der Plaine du Cul-de-Sac (nördlich von Port-au-Prince) wütet, hat laut Zeugenaussagen Dutzende von Menschen getötet und viele weitere vertrieben.

Seit mehr als zwei Wochen können Lastwagen mit Handelswaren die Häfen von Port-au-Prince nicht verlassen, die vor den Augen der staatlichen Behörden von den bewaffneten Banden kontrolliert werden, verurteilt das Rnddh. Darüber hinaus ist eine unbestimmte Anzahl von Familien gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, um der Gewalt der Banden zu entgehen, während die De-facto-Regierung nichts unternimmt, um die Machenschaften und Verbrechen der Kriminellen zu unterbinden, kritisiert es.

Die vertriebenen Opfer werden nicht betreut, so das Netzwerk. Die Zahl der Vertriebenen in den ersten beiden Wochen, die auf fast 10’000 geschätzt wird, erhöht die Zahl der Vertriebenen seit Beginn des Jahres 2024 laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) auf fast 20’000.

·       Alterpress, 20.2.24: Violences des gangs : Le Rnddh dénonce une négation totale des droits humains en Haïti

Haiti, Oktober 2023: Vertriebene in Port-au-Prince. Bild: OCHA.

(zas, 20.4.24) Am 19. Februar 2024 veröffentlichte die OCHA, die UNO-Agentur für humanitäre Notfälle, unter anderem, dass aufgrund der Bandengewalt seit letztem Oktober drei Spitäler/Kliniken in der Hauptstadt ihre Tätigkeit eingestellt haben, gefolgt vom Fontaine- und vom Bennett-Spital. Das erinnert an den Terror der israelischen Streitkräfte in Gaza, wo sie ein Spital nach dem anderen angreifen. Zu Parallelen Haiti / Gaza: Jeder Mensch ist ein Mensch – #ToutMounSeMoun aus Correos 207.