Venezuela: Eine andere Perspektive

Dienstag, 31. Mai 2016

https://amerika21.de/analyse/153300/andere-perspektive

31.05.2016 Venezuela / Politik / Wirtschaft

Jacquelin Jiménez, Erzieherin und Ordensschwester aus Venezuela, berichtet über die Knappheit an Lebensmitteln, Medikamenten und anderen Grundbedarfsgütern
Schlange vor einer Farmatodo-Filiale, Apotheke und Drogeriemarkt in einem
Schlange vor einer Farmatodo-Filiale, Apotheke und Drogeriemarkt in einem
"Es braucht keine Flügel, um einen Traum zu verwirklichen,
es reichen die Hände, es reicht das Herz,
es reichen die Beine und das Engagement"
(Aus einem Lied von Silvio Rodríguez)
In den vergangenen Tagen haben mich immer wieder verschiedene Personen aus anderen lateinamerikanischen Ländern angerufen, um sich über unseren Zustand zu informieren. Sie waren besorgt, weil sie von der Nahrungsmittelknappheit im Land erfahren haben. Selbst der Chef-Koordinator dieser kleinen internationalen Gemeinschaft, der ich angehöre, hat aus Rom angerufen. Ein klares Indiz dafür, dass die Nachrichten alarmierend sein müssen! Aus diesem Grund verfasse ich diesen allgemeinen Bericht, der aus meiner persönlichen Perspektive, aus der Perspektive unserer Arbeitskollektive, unserer politischen Kollektive, unserer Gedanken und Leidenschaften unsere Situation darstellen soll.
Wir bestätigen das Fehlen einiger Lebensmittel, die üblicherweise unsere Ernährungsgrundlage darstellen. Konkret bedeutet das: Es fehlt Reis, es ist schwierig einen Liter Öl zu bekommen, Nudeln findet man häufig nicht und ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal Zucker in einem Geschäft gekauft habe. Aber trotzdem hat dieser in unserem Haushalt niemals gefehlt. Überlegen Sie sich einfach, wie man es über enge oder ferne Kontakte und mit etwas zirkulierendem Geld anstellen kann, ein Lebensmittel zu bekommen, das nicht lebensnotwendig ist, aber doch grundlegend für einige Speisen…
In den Geschäften fehlt Maismehl, aber der Verkauf von Arepas 1 und Empanadas 2 in den Straßen hat nicht nachgelassen. Es fehlt Weizenmehl in den Geschäften, daher gibt es kein Brot in den Bäckereien, aber keine einzige der Bäckereien in unserem Bezirk hat geschlossen oder aufgehört süßes Brot, Torten und Kekse zu hohen Preisen zu verkaufen. Das einzige was fehlt ist normales Brot, welches regulär zu 50 Bolívar angeboten werden muss, das aber, wenn man es findet 150, 200 oder 350 Bolívar kostet. Und die Regulierung der Preise? Nun ja, es gibt nun mal kein Weizenmehl!
Es fehlt jedoch keine Sorte Gemüse und genauso wenig fehlen Proteine aus Geflügel, Fleisch oder Fisch, die zum zehnfachen Wert ihres Preises vom Vorjahr angeboten werden. Das gleiche gilt für Frischkäse, Schinken und andere abgepackte Lebensmittel. Es gibt sie alle, jedoch zu SEHR hohen Preisen…Und die Regulierung der Preise? Staatsversagen beziehungsweise fehlende Sanktionsmöglichkeiten, weil diejenigen, die die Gesetze machten auch die Schlupflöcher einbauten.
Die wichtigen Medikamente, die gebraucht werden, um eine reguläre Behandlung von Blutdruck, Kreislauf oder Krebs zu ermöglichen, sind verschwunden. Man muss sehr viele Leute fragen, hart verhandeln oder intensiv suchen, um jedwedes essenzielle Medikament zu bekommen.
Putzmittel für den Haushalt und Artikel für Körperpflege haben sich im Vergleich zum Vorjahr um 1.000 Prozent verteuert. Und der wunderbare Kaffee ist, so man ihn findet, unbezahlbar. 250g geschmuggelter Kaffee kosten 800 Bolívar, das sind nach dem offiziellen Kurs fast zwei Dollar oder weniger als ein Dollar auf dem Schwarzmarkt. Wieviel kosten 250g Kaffee an jedem anderen Ort der Welt?
Milchpulver ist verschwunden und flüssige Milch oder ähnliche Produkte werden zu einem Preis von 500 Bolívar angeboten, während sie im letzten Jahr noch 25 Bolívar kosteten. Ein Dollar hatte vor einem Jahr den offiziellen Wert von 10 Bolívar und heute einen Wert von 420 Bolívar. Und auf dem Schwarzmarkt wird der Dollar für 1.000 Bolívar verkauft, was für uns die Preise aller Produkte in die Höhe treibt. Um die Komplexität dessen zu verstehen, was in unserem großen Land vor sich geht, ist es wichtig die folgenden Wirtschaftsdaten zu kennen.
Das Finanzsystem hat alle möglichen Formen und Möglichkeiten gesucht, um sich den Kontrollen für Devisentransfer und für die Preise von Grundnahrungsmitteln, die wir 15 Jahre lang hatten, zu entziehen. Die Industrie hat Lücken in den Kontrollmechanismen gefunden, die uns Venezolanern den Zugang zu einer geregelten Ernährung und, selbstverständlich, emotionale Stabilität gesichert haben, um eine Familie zu unterhalten und in Erholung, Kunst und Ferien zu investieren.
Heute haben wir unkontrollierte Preise, keine Produktion und es findet ein Horten der wenigen produzierten Güter statt, die die Eigentümer von Geschäften dann auf den Markt werfen, wenn ihnen der Sinn danach steht.
Armes Venezuela, nicht wahr? Wie ist es möglich, dass das in einem so reichen Land passiert? Was macht die Regierung? "Dieser Maduro ist nutzlos"3, sagen einige Bewohner und Regierungschefs anderer Länder, die Respekt einfordern, den sie selbst nicht zu zollen bereit sind.
Sogar Google hat uns ein ikonografisches Foto gewidmet, das 2011 in New York aufgenommen wurde und ein Geschäft mit leeren Regalen zeigt und das die Engpässe in Venezuela bereits 2013 zur Schau stellte, bevor es überhaupt zu der jetzigen Krise gekommen war.
Oh je, wurde Google etwa getäuscht? Oder hat Google die ganze Welt getäuscht? Seit Google existiert, existiert auch die Medienmanipulation. Das Foto wurde von ihnen veröffentlicht und nie haben sie sich für die Verbreitung von Halbwahrheiten bei diesem Land entschuldigt. Das Leben ging weiter, als wäre nichts gewesen…
Erinnern wir uns daran, dass die Regale vor 20 Jahren mit all dem gefüllt waren, was uns heute fehlt. Wir müssen uns aber auch daran erinnern, dass die Mehrheit der Venezolaner diese Dinge NICHT kaufen konnte, weil wir weder das Geld noch die Jobsicherheit hatten, die wir heute, jedoch mit unsicherer Zukunft, haben.
Alles, was heute in diesem wunderbaren Land fehlt, wird weder von dieser Regierung produziert noch wurde es von einer vorherigen Regierung produziert, noch wird es von nachfolgenden produziert werden. Diese Dinge werden von einer bürgerlichen, kapitalistischen Industrie produziert, die die Preise und damit ihre Gewinne manipuliert und davon besessen ist, die legitime Regierung zu stürzen, die durch weltweit gültige, demokratische Prozesse gewählt wurde.
Es gibt in einigen Ländern dieser Welt Regierungschefs, die nicht von ihrem Volk gewählt wurden. Dies ist jedoch bei uns nicht der Fall. Und obwohl vielleicht einigen das Wahlergebnis nicht gefällt, ist und bleibt es das offizielle Wahlergebnis. Wenn uns die Wahlergebnisse nicht gefallen, müssen wir die Mechanismen und die Organisation des Wahlprozesses ändern. Ändern wir das System, aber verleumden wir nicht den gewählten Kandidaten.
Maduros Regierung wird hinterfragt, aber die manipulatorischen Praktiken der Industrie werden es nicht. Das Horten von Lebensmitteln in den großen Lagerhäusern eben dieser Industrie und das Zurückfahren der Produktionsleistung finden statt, um die Bevölkerung, die diese Regierung unterstützt, gegen sie aufzuwiegeln.
NICHT hinterfragt wird die Finanzdiktatur, die uns Venezolaner jeden Tag den Bedrohungen des Hungers und jede Woche der Unsicherheit bezüglich der Medikamente und der Unruhe aussetzt, dass der Tag kommt, an dem unsere garantierten Löhne, die Präsident Chávez4 uns hinterlassen hat, diesen Monat schon nicht mehr ausreichen, um dem Unternehmermonstrum die Stirn zu bieten.
Denn es ist eine Finanzdiktatur, die wir erleben, es ist ein industrieller Staatsstreich. Die Industrie produziert stur zu wenig, weil sie nicht mehr produzieren will; weil sie uns Chavistinnen und Chavisten, die wir es wagen, an uns als Menschen mit Zukunft zu glauben, am Boden sehen will. Weil es sie stört, dass die Regierung Bildung, Selbstachtung, Sinn für das Heimatland, kostenlose Gesundheitssysteme, Arbeits-, Lohn- und Sozialrechte geschaffen hat. Diese Regierung hat für die armen Mehrheiten dieses Landes die würdigsten Lebensbedingungen und Lebensinhalte geschaffen und das wird nicht so leicht vergessen. Gibt es deshalb mehr lange Schlangen an Orten, an denen man günstig einkaufen kann, als dass es Proteste gibt?
Die Unternehmen und die Geschäfte haben es vorgezogen, mit uns zu spielen und nur noch die Hälfte zu produzieren, damit wir miteinander um Grundbedarfsgüter streiten. In einer Schlange von 300 Personen werden nur Sechser-Packs Zahnpasta verkauft und wenn 50 Personen in der Schlange verbleiben, dann wird gesagt, dass es keine mehr gibt. Wenn man eine Tube pro Person verkaufen würde, hätte man mehr als 300 versorgen können. Aber nein, es ist zwingend notwendig, Sechser-Packs zu kaufen… wir werden zum Streit untereinander angestiftet!
Sie wollen die Gefühle der Solidarität, die Hoffnung in die Zukunft und den kollektiven Aufbau, die in unserem Mutter-Vaterland aufblühten, zerstören.
Diese Industrie zieht es vor, Geld zu verlieren, um wieder an die Regierung zu kommen und damit ihre Privilegien zurückzuerlangen, wieder die Schlagzeilen zu bestimmen, wieder ins Theater zu gehen, ohne sich unter die Armen mischen zu müssen, wieder in exklusive Restaurants zu gehen, ohne dass am Nebentisch irgendein Arbeiter oder Angestellter sitzt, dessen Gehalt ausreicht, um zumindest einmal im Monat dasselbe Restaurant zu bezahlen, dass der Konzernchef jeden Tag besucht.
Das Wenige, was von den staatseigenen Betrieben produziert wird, wird von der Regierung seit fünf Jahren zu geringen und regulierten Preisen angeboten. Und die Mehrheit steht heute in langen Schlangen, um rechtmäßig an diese Produkte zu kommen und die niedrigen Preise stur zu verteidigen, als eine Form, diese Regierung zu unterstützen. Zur gleichen Zeit kaufen wir allerdings auch das überteuerte Fleisch und die Haushalts- und Pflegeprodukte sowie das Gemüse, deren Preise auf magische Weise jeden Tag steigen.
Unsere Essgewohnheiten ändern sich, statt Reis wird nun Yuca gegessen, wir trinken Kräutertee statt Kaffee und mit viel Neugier probieren wir neue Rezepte aus, um Arepas aus Kochbananen herzustellen und wir bewirtschaften sogar unsere Innenhöfe. Lichter und Schatten des Widerstandes mit verschiedenen Arten und Sichtweisen der Welt, die Komplexität des Lebens selbst, hier oder dort, wo sie das lesen.
Dieses großmütige Volk ist noch nicht wegen Nahrungsmangel auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren, die großen Nachrichtenagenturen verbreiten immer noch keine derartigen Nachrichten. Warum ist das wohl so? Auch die Opposition tut dies nicht.
Die Opposition protestiert für ihre politischen Gefangen, die in Wahrheit gefangene Politiker sind und einige wenige versammeln sich und fordern Amnestie, um Maduro loszuwerden.
Aber sie schaffen keine Großkundgebungen oder massive Demonstrationen, um gegen den Mangel an Lebensmittel und Medikamenten zu protestieren. Bisher hat die Opposition es noch nicht versucht, die Frustration der politischen Lager für sich zu vereinnahmen. Warum ist das wohl so? Es scheint so, als sei dies noch immer kein Geschäft…
Einige essen zuhause wie gewohnt. Andere leiden schon unter der Lebensmittelknappheit, dem Schmerz über den Tod wegen fehlender Medikamente und das wenige Geld am Monatsende. Wie sind die Mehrheiten und die Minderheiten in den Widerständen der jeweiligen politischen Modelle einzuschätzen; die einen eingefroren und ihre historische Macht nutzend; und die anderen in Alternativen und ohne große Regierungserfahrung, die als von der Weltbühne verschwindend gebrandmarkt werden.
Zweimal konnte Präsident Chávez nicht gestürzt werden, obwohl sie 2002 und 2003 die Industrie stilllegten, weil der historische Zeitpunkt der politischen Beziehungen und alternativen Regierungen in Lateinamerika ein anderer war, es war die beste Zeit der Solidarität und Integration.
Zwölf Jahre enge Handelsbeziehungen und Vereinigung von Kräften, um zu beweisen, dass andere Formen der Verhandlung und des Handels jenseits der merkantilistischen Bereiche und Zinszahlungen möglich sind. Diese Beziehungen haben uns damals vor einem Staatsstreich bewahrt und es kann sein, dass unsere Opposition dies heute immer noch fürchtet. Jedoch sind die Bedingungen für Beziehungen zu anderen Regierungen in Lateinamerika heute anders und der Staatsstreich könnte kommen.
Die nordamerikanische Regierung prognostiziert, dass Maduro nicht bis Dezember durchhält. Diese nordamerikanische Regierung, die uns für eine Bedrohung hält, als ob unsere Regierung ihnen Schaden zugefügt hätte oder Anzeichen gezeigt hätte, in anderen Ländern einzufallen, so wie sie es tun.
In diesen 17 Jahren lateinamerikanischer Glanzzeit hatten die ewigen Eliten, die unser Land regierten, um sich zu bereichern und die Armen auf ihre Plätze zu verweisen, genug Zeit, jedes einzelne Land zu studieren, ihre Kräfte zu reorganisieren und heute ohne Maß und Mitgefühl auf uns loszugehen. Sie verzeihen uns nicht, dass wir versuchen wollten, unsere eigenen Regierungsformen zu haben, unsere eigene Art und Weise, von Lateinamerika aus zu entscheiden und zu handeln – und weder von der Weltbank noch von der kolonialistischen europäischen Konzeption bestimmt.
Die altehrwürdigen Familiendynastien, die in katholischen Schulen und Universitäten ausgebildet wurden, um zu regieren ("Um zu unterdrücken" sagt man ja nicht), haben dies schon viel zu lange nicht mehr machen können. Diese politische Kaste ist es, die Dilma Rousseff unter nicht bewiesenen Korruptionsvorwürfen ihres Postens enthoben hat. Aber das Wort einer weiblichen Anführerin einer Arbeiterpartei steht gegen das mächtige Wort von Unternehmern mit parlamentarischer Immunität.
Es sind nicht mehr die Tatsachen, die über unsere linken Regierungen etwas aussagen: Soziale Sicherheit, stabile Arbeitsplätze, Bildung in unseren Dörfern – sondern es ist die Klassenherkunft, die Ethnie oder das Geschlecht von Präsidenten und Präsidentinnen wie Dilma5, Evo6, Chávez oder Maduro, die für die Familien der guten alten Weltdemokratie, den Erben der Konquistadoren, nicht vertrauenswürdig sind. Diese Kaste, diese an die Regierungsmacht gewöhnte Gruppe, konnte keine Wahlen gegen die brasilianische Arbeiterpartei oder die Sozialistische Partei Venezuelas gewinnen. Nur die berechtigte Erschöpfung eines Teils des Chavismus angesichts unserer jetzigen Situation hat ihr eine Mehrheit im venezolanischen Parlament eingebracht.
Diese Machtgruppen, diese Unternehmen, diese Finanzinteressen konnten sich die Weltwirtschaftskrise und die Fehler zunutze machen, die linke Regierungen gemacht haben. Ebenso nutzen sie den Überdruss aus, den die Manipulation von Informationen in den Bevölkerungen schafft. Und sie zerstören legitime Regierungen.
Nach den Ereignissen in Brasilien ist die Wahrscheinlichkeit eines Staatsstreiches in Venezuela oder der Absetzung Maduros auf welchem Weg auch immer – auch über den demokratischen Mechanismus des Referendums – deutlich größer, nachdem die Bevölkerung durch die Lebensmittelknappheit ausgezehrt wurde.
Bevor Präsident Chávez starb, hatten wir die größte kollektive Zufriedenheit aller Zeiten erlebt. Unsere Arbeitslosigkeit beläuft sich heute auf 6,7 Prozent, unsere Kinder gehen täglich zur Schule und haben Schulranzen und Lernmaterialen, die vom Bildungsministerium zur Verfügung gestellt werden. Das funktioniert immer noch und es gibt keine Schulabbrecher bis zur Hochschulreife, in den letzten drei Jahren hat sich langsam eine Ausfallrate zwischen 7,4 und zwölf Prozent aller Erstklässler etabliert.
83 Prozent der Rentner im ganzen Land wurden in das Rentensystem integriert, was insgesamt 3.031.381 Pensionären entspricht. Alle Ordenschwestern des Heiligen Herzens in Venezuela haben die Erfahrung, dass wir von unserem Entgelt, Sozialversicherung und Renten leben.
Mehr als der Mangel einiger Lebensmittel, medizinischer Hilfsmittel und Medikamente besorgt uns, dass der mögliche baldige Triumph der kapitalistischen Industrie in Venezuela, auf welchem Weg auch immer, zum Verlust der größten Sicherheit im sozialen Bereich, bei den Löhnen und der Bildung führt, die wir jemals hatten.
Wir sehen Massenentlassungen kommen, wie sie die neue argentinische Regierung durchführt und die Schließung des Ministeriums für Kultur nach dem Vorbild der neuen brasilianischen Regierung, die eine provisorischr Regierung sein soll und bereits wie eine totalitäre regiert.
Zu den Sorgen unserer Freunde in der ganzen Welt sagen wir, dass für uns jeder Tag ein Tag des Widerstandes ist; ein Tag der Sorge und Tätigkeit, um das solidarische Band angesichts so großer Zunahme des Individualismus, so viel Spekulation mit der Gegenwart und so viel Nervosität wegen der Zukunft zu verteidigen.
Jeden Tag müssen die Hoffnungen erneuert werden, die unsere Erinnerung an das bereits Erreichte in Bezug auf Gerechtigkeit und Menschenwürde wach halten und verhindern, dass wir uns abwenden und zu Salzsäulen erstarren.
Wir müssen das Vertrauen in die Menschheit selbst und in andere Formen der Macht zurückgewinnen , die wir kollektiv und nach unserem Rhythmus aufbauen. Die Politik und ihre verschiedenen Formen der Staatspolitiken zugunsten der Vergessenen der Geschichte und der heute von den Kriegs- und Informationsindustrien Besiegten, müssen dringend neu entwickelt werden, damit sie auf der Suche nach einer gerechteren und schwesterlichen Welt nicht die Verlierer sind.
Jacquelin Jiménez ist Erzieherin und Angehörige des Ordens Schwestern vom Heiligen Herzen in Venezuela
  • 1. Arepas sind runde Maisfladen, die in Venezuela mit verschiedenen Füllungen viel gegessen werden, vor allem zum Frühstück. Sie gehören zu den Grundnahrungsmitteln
  • 2. gefüllte Teigtaschen
  • 3. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro
  • 4. Hugo Chávez, Mitbegründer der "Bolivarischen Revolution" und der Integration Lateinamerikas, war von 1999 bis 2013 Präsident von Venezuela. Er starb am 5. März 2013
  • 5. Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT, Präsidentin von Brasilien, aktuell durch einen kalten Putsch vorläufig suspendiert
  • 6. Evo Morales, seit 2006 erster indigener Präsident von Bolivien

Venezuela: Von Wirtschaft und Umsturz

Freitag, 27. Mai 2016



(zas, 27.5.16) Wer den Fehler macht, die Zeitung aufzuschlagen oder die Tagesschau zu konsumieren, bekommt, was Venezuela betrifft, die Botschaft von der „humanitären Krise“ vermittelt, von den enormen Warteschlangen für Artikel des Grundbedarfs und einem zusammenbrechenden Gesundheitssystem, erzeugt von chavistischer Misswirtschaft.  Gegen die sich an die Macht klammernden Chavistas regt sich demokratischer Widerstand, der zunehmend brutaler unterdrückt wird. Internationale Hilfe wird ein Thema. In der New York Times, im Guardian, im Wall Street Journal jagen sich Berichte, die eines klar machen: Auf der Erde gibt es eine Hölle, sie heisst Venezuela. Die Artikel haben ein gemeinsames Merkmal: Sie triefen von Hass. Die chavistische Ungeheuerlichkeit, für die Unterklassen ein gutes Leben anzustreben, soll ausgemerzt werden.


Wirtschaftskrieg

Kein Bier in der Hölle

Vor kurzem kam auf der halben Welt die Nachricht: Jetzt müssen die VenezolanerInnen selbst auf ihr Bier verzichten. Das Unternehmen Polar, das 80 % des nationalen Bierkonsums abdecke, sehe sich ausserstande, weiter zu produzieren. Denn, so Polar-Eigentümer Lorenzo Mendoza, die chavistische Regierung verkaufe ihm keine Dollars mehr, um die ausländischen Lieferanten zu bezahlen. (Die Deviseneinnahmen des Landes stammen fast zu hundert Prozent aus dem staatlichen Ölexport. Der Privatsektor erwirbt vom Staat für seine Importe sündhaft billige Dollars für 6.3 Bolívares pro Dollar, der auf dem Schwarzmarkt mehr als 1000 Bolívares kostet.) Nun, von Januar 2004 bis Dezember 2012 hatte Mendozas Polar-Gruppe (Alimentos Polar, Provencesa, Pepsico Venezuela, Cervecería Polar) vom Staat fast $ 3 Mrd. erhalten – für Importzwecke. Für die Periode von Januar 2014 bis September 2014 schüttete der Staat Polar über $ 450 Mio. für den gleichen Zweck aus. Allein Cervecería Polar (die Bierbrauerei) kommt auf $ 700 Mio. in den genannten Zeiträumen.
Im Herbst 2015 liess Mendoza einige Angestellte öffentlich von der Regierung verlangen, sie solle $ 18 Mio. Schulden begleichen, die Polar bei ausländischen Lieferanten habe, ansonsten seien ihre Arbeitsplätze gefährdet. Im Oktober 2015 kaufte er das grosse Migurt-Unternehmen des Pascual-Konglomerats in Spanien. Am 31. März 2016 schrieb die chavististische Noticias24: „Fran Quijada, Präsident der nationalen Gewerkschaft [im Getränkesektor] bestätigte am 10. März in einem Fernseh-Interview, dass das [Polar-] Konsortium ‚mit den Dollars, die es in Venezuela erhielt, in Tampa, USA, gerade ein Malz- und Gerstenunternehmen gegründet hat‘“.
Die staatlichen Importdollars sind jetzt zurückgegangen – die Ölpreiskrise lässt grüssen. Um 65 % im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr, sagen rechte venezolanische Medien, die sich auf (für mich unauffindbare) Berichte der Devisenbehörde Cencoex berufen. Doch Lorenzo Mendoza, Dauergast auf der Forbes-Liste der Superreichen und am WEF in Davos, der 2002 begeistert den Militärputsch gegen Chávez unterstützt hat, klagt schon lange über mangelnde Importdollars. Seine „Produktionsprobleme“ (nicht nur im Bierbereich) fallen seit Ende 2012 auffallend mit zugespitzten politischen Konfrontationsphasen zusammen. Das hat etwa die Zeitung Ciudad CCS beschrieben: „Laut Berichten des Unternehmens über seine Produktionsniveaus zwischen Januar 2012 und Januar 2016 lässt sich unerklärlicherweise darstellen, dass die Produktion jeweils [parallel zu Politereignissen] abrupt einbrach, etwa nachdem Hugo Chávez am 8. Dezember 2012 seine letzte Botschaft an die Nation richtete [eine faktische Todesankündigung]; Tage vor den Präsidentschaftswahlen vom 14. April 2012, während der guarimbas2014  [Strassenunruhen für Regierungssturz] und vor den Parlamentswahlen vom 6. Dezember 2015.“

Einbrüche bei der Nahrungsmittelproduktion von Polar bei Ankündigung Krebsleiden von Chávez, letzte Botschaft von Chávez, Präsidentschaftswahlen April 2013, Gemeindewahlen Dezember 2914, Strassenunruhen Februar 2014, Obama-Dekret: Venezuela ist Bedrohung, Parlamentswahlen Dezember 2015. Quelle: Ciudad CCS.

Drogenkrieg: Neue Vollmachten für Washington

Montag, 23. Mai 2016



(zas, 23.5.16) Am vergangenen 16. Mai setzte Barack Obama ein neues Gesetz in Kraft, den Transanational Drug Trafficking Act. Die US-Medien haben dem im Senat von Dianne Feinstein und Chuck Grassley parteiübergreifend vorgespurten Gesetz bisher geschlossen keine Beachtung geschenkt. Im Gegensatz zu kolumbianischen Medien. Denn die Neuerung besteht in einer Bestimmung, die theoretisch auch einfache Coca-BäuerInnen mit der Auslieferung in die USA bedroht. Feinstein sagt in einer Pressemitteilung: „Drogengrosshändler von Ländern wie Kolumbien oder Peru benutzen oft mexikanische Drogenhändlerringe als Maultiere, um illegale Drogen in die USA zu bringen“. Solche Dealer, so Feinstein und Grassley, haben sich bisher mit der Schutzbehauptung, sie hätten nicht gewusst, dass die Ware in die USA ginge, der Auslieferung entziehen können.  Damit sei jetzt Schluss. 

Letzten Oktober, als die Vorlage im Senat angenommen wurde,  zitierte das kolumbianische Blatt El Tiempo aus dem Gesetz, dass „jede Person, die eine kontrollierte Substanz (aus der Liste verbotener Substanzen) oder eine Chemikalie herstellt,  die weiss, vorhat, oder Grund zur Annahme hat, dass diese Substanz oder Chemikalie illegal in die USA (…) eingeführt werden wird“, von der US-Justiz zur Auslieferung ausgeschrieben werden kann. „Diese Änderung ist bedeutsam“, so das Blatt weiter, „denn sie erlaubt die Auslieferung jeder Person in Kolumbien, die Coca sät oder produziert, auch wenn sie selber gar nicht direkt in die USA exportiert“.  El Tiempo sieht dieses Gesetz im Widerspruch zu den auch vom kolumbianischen Präsidenten Santos unterstützen Bestrebungen, von der gescheiterten Linie des Drogenkriegs made in USA wegzukommen. Der kolumbianische Justizminister verweist dagegen darauf, dass für eine Auslieferung ein Teil des Delikts in den USA begangen sein müsse, was beim Coca-Pflanzen nicht der Fall sei.
Quelle: Colombia Reports
 Colombia Reports zitiert den bekannten Lobbyisten und Analytiker aus dem Dunstkreis der Demokratischen Partei, Adam Isaacson vom Washington Office on Latin America, mit etwas genaueren Hinweisen: „Die grösste Wirkung dieses Gesetzes könnte darin bestehen, US-Auslieferungs-Gesuche für Kader von bewaffneten Gruppen zu erleichtern“, die Isaacson als „FARC, ELN und Bacrim“ (heutige Umschreibung für Para-Militärs) identifiziert. Ein Sprecher der Coca-PflanzerInnen in Nordost-Kolumbien nennt das Gesetz „gefährlich“: „Es geht gegen die Abkommen in Havanna und trägt in tausende von kolumbianischen Familien Unruhe, die als einzige Alternative den Coca-Anbau hatten“ (id.).
Das Gesetz birgt tatsächlich einen gewissen Sprengsatz für die Friedensverhandlungen der Guerillas mit der Regierung. Eine Bedingung für die Waffenniederlegung der FARC ist natürlich, dass keinem US-Auslieferungsgesuch stattgegeben werde. Beim ELN wird das nicht anders sein. Die US-Drogenbehörde DEA, in Kolumbien, wo man sie kennt, mit denkbar schlechtem Ruf ausgestattet,  hat reichlich Erfahrung darin, den von ihr gelenkten Drogenhandel Missliebigen anzuhängen. Vermutlich wird das die Verhandlungen in Havanna, die kurz vor Abschluss zu stehen scheinen, nicht beeinträchtigen. Aber es wäre ein probates Mittel in den Händen Washingtons, bei allfälligem späteren „Ungebührlichkeiten“ ehemaliger Guerillas nicht wirklich für law, aber für order zu sorgen.

Brasilien: ein kleines Lied

Sonntag, 22. Mai 2016

Cultura contra ditadura
Du willst kapieren, was in Brasilien passiert? Hier eine Einführung. Mitreissend, herzerwärmend.

Patria de Maíz - today

hier klicken
Wie es so ist, MigrantIn zu sein - Beat vom belgisch-salvadorianischen Duo Shaka y Dres und vielen anderen (und eine kleine Referenz an die nicaraguanische Liedikone Luis Enrique Mejía Godoy)

Dialog in Venezuela möglich, Kritik an deutscher Berichterstattung

https://amerika21.de/2016/05/152957/venezuela-maduro-dialog-ard

Unasur bietet Vermittlung an. Milizen und Armee bei Manöver. Oberstes Gericht gibt Dekret von Maduro statt. Kritik an Bericht der ARD über Proteste
Spaniens Ex-Premier Zapatero und Präsident Maduro nach den Beratungen über die Lage in Venezuela
Spaniens Ex-Premier Zapatero und Präsident Maduro nach den Beratungen über die Lage in Venezuela
Quelle: Minci
Caracas. Die Union südamerikanischer Nationen (Unasur) will zwischen der Regierung und der Opposition in Venezuela vermitteln, um die Krise in dem südamerikanischen Land zu lösen. Das berichten venezolanische Medien unter Berufung auf die Regionalorganisation. Zu dem Verhandlungsteam gehören demnach unter anderem der ehemalige spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero sowie die Ex-Präsidenten von Panama und der Dominikanischen Republik, Martín Torrijos und Leonel Fernández. "Ich werde die internationale Gemeinschaft bitten, das Ansinnen eines großen nationalen Dialogs (in Venezuela) zu unterstützen, damit wir in einem sinnvollen Zeitraum einen Plan erstellen können", sagte Zapatero auf einer Pressekonferenz in Caracas nach einem Treffen mit Präsident Nicolás Maduro. Der Weg hin zu solch einem Dialog werde aber "lang, hart und schwer" sein, prognostizierte der Sozialdemokrat. Wichtig sei, dass sich alle Seiten "an die demokratischen Regeln, den Rechtsstaat und die Verfassung halten".
Bei der Opposition traf das Angebot von Zapatero, der seit geraumer Zeit Kontakt zu beiden politischen Lagern unterhält, auf Interesse. In einem Kommuniqué bekräftigte das Oppositionsbündnis "Tisch der demokratischen Einheit" (MUD) seine Bereitschaft, an jeder Art von Dialog teilzunehmen, "der für das Land sinnvoll ist". Man werde sich aber an keinen Gesprächen beteiligen, "die von der Regierung als Ablenkungsmanöver benutzt werden", heißt es indem Dokument weiter. Das MUD-Bündnis werde bei etwaigen Gesprächen daher auf eine klare Tagesordnung bestehen.
Angehörige der Milizen beim Manöver "Unabhängigkeit 2016" in Venezuela
Die Gesprächsinitiative wurde publik, nachdem der Oberste Gerichtshof am Donnerstag den von Präsident Maduro ausgerufenen "wirtschaftlichen Notstand” für rechtens erklärt hat. Ein entsprechendes Dekret sei verfassungskonform, hieß es von dieser Seite. Angesichts des Wirtschaftsnotstandes werden die Armee und zivile Basiskomitees befugt, Lebensmittel zu verteilen und – bei Verdacht auf Hortung – zwangsweise auf den Markt zu bringen.
Angesichts der zunehmenden Gewalt bei Demonstrationen der Opposition und einer mutmaßlichen Einflussnahme auf die Proteste aus dem Ausland haben Regierung und Armee des südamerikanischen Landes zu einer großangelegten Übung aufgerufen. Nach Angaben der unabhängigen Tageszeitung Últimas Noticias nehmen mehr als 1.500 Mitglieder der Milizen an dem Manöver "Unabhängigkeit 2016" teil. Dabei gehe es darum, die Nationalen Bolivarischen Streitkräfte zu unterstützen. Das Manöver sei notwendig, "weil einige Gruppen die Unabhängigkeit und Souveränität Venezuelas mit gewalttätigen Aktionen angreifen wollen, um so eine ausländische Intervention zu rechtfertigen", sagte Verteidigungsminister Vladimir Padrino López.
Von der massiven Gewalt gegen Sicherheitskräfte ...
Quelle: El Informador
Bei den Protesten von Regierungsgegnern wurden nach Angaben venezolanischer Medien mehrere Einsatzkräfte verletzt. Nach mehreren heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei wurde ein führender Funktionär der Opposition festgenommen. Der Mann soll für Angriffe auf Vertreter der Bolivarischen Nationalpolizei (PNB) am Mittwoch verantwortlich sein. Bei dem Inhaftierten handelt es sich um Ángel Coromoto Rodríguez, den Sicherheitschef von Parlamentspräsident Henry Ramos Allup von der sozialdemokratischen Partei Demokratische Aktion (Acción Democrática, AD).
Für Kritik sorgte indes auch die deutsche Berichterstattung über die Proteste in Venezuela. ARD-Korrespondent Peter Sonnenberg hatte am Freitag von einer Demonstration in Venezuela berichtet, bei der offenbar auch eine Kamerafrau seines Teams von einer Tränengasgranate getroffen wurde. Nach Darstellung Sonnenbergs griff die Polizei demonstrierende Studenten und Demonstranten ohne Grund an. In dem Beitrag heißt es:
... sah ARD-Korrespondent Peter Sonnenberg nichts
Quelle: tagesschau.de
Und von einem Moment auf den anderen kriegen wir die Staatsgewalt zu spüren. Als alles noch ganz friedlich erscheint, kommt eine der Demonstrantinnen auf mich zu. (...) Wahrscheinlich fliege hier gleich Tränengas, sagt sie. Oft schießen die Polizisten in die Luft, mit scharfer Munition. Im nächsten Moment hören wir Tumult von der Straße. Die Polizei kesselt Studenten ein und kurz darauf fliegen Tränengasgranaten auf uns Journalisten und auf absolut friedliche Demonstranten.
Von einer anderen Kameraeinstellung aus wird jedoch ersichtlich, dass die Polizei keine Studenten eingekesselt hat, sondern selbst zum Ziel heftiger Attacken von Demonstranten wurde. Dabei kam eine Polizistin zu Fall und wurde von mehreren Vermummten mit Steinen, Stöcken und Tritten traktiert. Erst daraufhin sind Detonationen – mutmaßlich von Tränengasgranaten – zu hören und die Angreifer ziehen sich zurück. Das Handyvideo wurde unter anderem von der Seite "El Informador" ins Netz gestellt und von Medienaktivisten mit dem ARD-Beitrag zusammengeschnitten. Die Darstellung des ARD-Beitrags zeugt "von mangelnder journalistischer Professionalität und Berufsethik", heißt es von dieser Seite.

Brasilien: … und das ist erst der Anfang

Freitag, 20. Mai 2016



Sozialprogramme
„Temer kritisierte Lulas eingeengten Blick und seinen exzessiven Fokus auf Sozialnetzprogramme, die Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung nicht fördern“.
aus US-Botschaft Brasilien, 11. Januar 2006, in Wikileaks: PMDB leader ponders party’s electoral options.
Temer hatte seine Freunde aus dem Norden gerade über seine danach enttäuschte Hoffnung aufgeklärt, bei den nächsten Wahlen aus der Allianz mit dem PT auszusteigen. Er musste sich noch etwas gedulden. Die US-Offiziellen kommentierten ihre Auskunftsquelle so: „with friends like these…“

Lebensrecht für alle? Funktioniert nicht.
In einem am 17. Mai 2016 in der Folha de S. Paulo veröffentlichten Interview sagt der [neue] Gesundheitsminister, dass der Staat aus finanziellen Gründen, auch wegen Missbrauch, den allgemeinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem nicht mehr garantieren könne. Der Folha fiel etwas auf:
„Was tun? Die Verfassung ändern, die Gesundheit als universelles Recht festlegt?“
Antwort:
„Was sagte Sarney [Staatspräsident 1985-90], als er die Verfassung verkündete? Dass Brasilien unregierbar würde. Warum? Weil es da nur Rechte gibt, keine Pflichten. Es wird uns nicht gelingen, die Rechte zu garantieren, die die Verfassung vorschreibt. In einem bestimmten Moment werden wir sie neu verhandeln müssen, wie in Griechenland, wo die Renten gekürzt wurden, oder in anderen Ländern, wo die Verpflichtungen des Staates neu ausgehandelt werden mussten, weil er sie nicht mehr garantieren konnte. Es bringt nichts, für Rechte zu kämpfen, die der Staat dann nicht erfüllen kann.“
Der ehemalige Bundesabgeordnete, dessen Wahlkampagne eine Privatversicherung finanziert hatte, sieht eine Lösung:
„Je mehr Leute privat versichert sind, desto besser. Denn so können sie die Pflege beanspruchen, für die sie selber aufkommen, was die entsprechenden Regierungsausgaben reduziert.“
Barros, reich, weiss und wie andere Kabinettsmitglieder in Korruptionsuntrsuchungen verwickelt


Warum auch wohnen?
„Die städtische Bewegung MSTS (Movimento dos sem teto) kritisiert die Interimregierung Temer, weil sie den Bau von 11‘250 Sozialwohnungen wegen der Wirtschaftskrise suspendiert hat. Das MSTS kündigte Strassenblockaden im ganzen Land an. Der neue Stadtentwicklungsminister Bruno Araújo informierte gestern, dass er den von Staatsbanken finanzierten Bau 11‘250 Wohneinheiten nicht bewilligen werde. Er erklärte, eine „Überprüfung“ und Neudefinition der „Prioritäten“ sei nötig, um das Sozialprogramm Minha Casa Minha Vida (Mein Haus, Mein Leben) an die Brasilien drückende Wirtschaftsnot anzupassen.
aus Resumen Latinoamericano, 18. Mai 2016: El recorte de Temer sigue por las viviendas
Temer, mal sachte!
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Justiz I
Am 12. Mai 2016 wurde die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff ihres Amtes enthoben. Am Vortag hatte das Oberste Bundesgericht (STF) verfügt, gegen ihren im Oktober 2014 unterlegenen Widersacher Aécio Neves von der Rechtspartei PSDB eine Untersuchung wegen Korruption im Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal einzuleiten. Die Anschuldigung stützt sich auf Aussagen des geständigen Kronzeugen und ehemaligen PT-Senators Delcidio do Amaral. Seine Aussagen dienen seit Monaten dem Versuch der Justiz, Rousseff und Lula Korruption vorzuwerfen. Gilmar Mendes ist Richter am STF und seit letztem 12. Mai zudem Präsident des Obersten Wahlgerichts. Er leitet im STF den Versuch, Lula eine Wahlkandidatur 2018 zu verunmöglichen und ihn womöglich ins Gefängnis zu bringen. Ebenfalls am 12. Mai „suspendierte“, wie das Putschorgan Globo schrieb, Mendes die Beweissammlung gegen Neves, da „Aécio Neves neue Dokumente vorgelegt hat und Gilmar Mendes der Ansicht ist, diese Dokumente können beweisen, dass der Antrag [der Staatsanwaltschaft] für eine Verfahrenseröffnung ohne neue Beweise erfolgt ist.“

Zwei alte Kumpels: Mendes und Neves bei einem Anlass 2009. Quelle: estadão.com
Justiz II
„Vor genau zehn Jahren, zwischen dem 12. und dem 20. Mai 2006, wurden nach einer Erhebung der Harvard-Universität mindestens 564 Personen im Staat São Paulo umgebracht, die Mehrheit in Situationen, die eine Beteiligung der Polizei dabei nahe legen. Die Mehrheit der Fälle, betonen Ermittler, gehören zu einer Racheaktion von Agenten der Sicherheitskräfte gegen angebliche Angriffe der Gruppe Primeiro Comando da Capital (PCC), die sich in den ersten beiden Tagen der Periode ereigneten. Das Gemetzel jenes Jahrs ist als Mai-Verbrechen bekannt, dem grössten im 21. Jahrhundert. Zehn Jahre später ist ein Beamter der Sicherheitskräfte für die Todesfälle verurteilt worden. Er hat rekurriert, ist frei und ist weiter bei der Militärpolizei im Einsatz[Sicherheitspolizei unter dem Kommando der jeweiligen StaatsgouverneurInnen].“
aus Brasil de Fato, 13. Mai 2016, Gisele Brito: Mães de Maio: a reação contra a violência do Estado
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Regierungsprogramm einer Diebesbande
aus rebelion.org, 11. Mai 2016, Juan Luis Berterretche: El programa de gobierno de la banda de ladrones.

„Sie stahl nichts, wird aber von einer Diebesbande abgeurteilt.“ New York Times, 15. April 2016
„Seit Beginn der zweiten Präsidentschaft von Dilma Rousseff mit dem 2014 gewählten Kongress – gewählt auf der Basis  eines Gesetztes, das die Unternehmensfinanzierung von Wahlkampagnen erlaubt – ging die Macht an eine Legislative über, die von ParlamentarierInnen, die ihre Stimme verkaufen, in Geiselhaft genommen wurde. Es handelt sich dabei um eine erdrückende Mehrheit in beiden Kongresskammern. Was die Times eines Diebesbande nannte, dominiert sowohl in der Abgeordnetenkammer wie im Senat.“
„Die Stimmen für den Putsch kamen von der Mehrheit der im Kongress vertretenen 28 Parteien, von denen keine fünf etwas aufweisen, das mit Nachsicht als „programmatisch“ bezeichnet werden könnte. Die verschiedenen Parteien, auf die sich die Evangelikalen aufteilen, finanzieren sich mit Offshore- Geldwaschgeschäften, durchgeführt von Multimillionen-schweren „Pastoren“ mit einem Glauben, der sich zur mittelalterlichen Intoleranz bekennt. Mehrere Dutzende Korrupte widmeten am „parlamentarischen“ Schmierenstück vom 17. April [in der Kammer] ihre Pro-Impeachment-Stimmabgaben Gott.“
„Der PMDB von Michel Temer ist eine Einheitsfront von einzelstaatlichen Oligarchien ohne irgendein programmatisches Ansinnen, das über die Verteidigung der in den Einzelstaaten und Regionen über die Jahre errungenen politischen und wirtschaftlichen Privilegien hinausginge. So dass eine neue Regierung Temer Geisel und Teil der Diebesbande sein wird, wo nicht existierende Programme oder Parteidisziplin niemanden kümmern. So dass alle parlamentarischen Abstimmungen wie bisher gekauft werden müssen, mit Geld, Posten und Pfründen.“
„Die nächste Regierung wird schlicht und einfach die Diktatur einer Diebesbande sein.“
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„In einer Nation, wo es jetzt schon zu Staatsterrorismus gegen Favela-BewohnerInnen kommt, speziell gegen junge Schwarze und Pardos [Begriff für Dunkelhäutige verschiedener ethnischer Herkunft], die im neuen Jahrhundert zu Hunderttausenden ermordet worden sind; in einer Gesellschaft mit einem strukturellen Rassismus gegen mehr als die Hälfte der Bevölkerung; in einem Brasilien, in dem Folter in den überfüllten Gefängnissen und in den Polizeistationen nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist; in ausgedehnten ruralen Gegenden, in denen die Justiz den Pistoleros der Grossgrundbesitzer, der Agroindustrie, der Waldabholzer, der Wasserstromwerke  und der Minenunternehmer Straffreiheit garantiert, wäre es ein schwerer Fehler, etwas auf einen demokratischen Dialog zu geben.“

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„Der kommende Präsident Michel Temer war drei Mal Sicherheitsminister in São Paulo gewesen, dem repressiven Zentrum der Diktatur. Er nahm dieses Amt war, um in der Transitionsperiode von der Diktatur zur Demokratie die Verbrechen und die Folter der zivilen und militärischen Polizei zu vertuschen. Als Dank dafür wurde er zwei Mal zum Abgeordneten der Kugelfraktion gewählt [unter bancada da bala werden die militaristischen und killfreudigen ParlamentarierInnen zusammengefasst] (…. ). Erinnern wir uns, um seinen Werdegang zu vervollständigen, dass er Zeuge der Verteidigung des Folteroberst Mörders der Militärdiktatur war: des Obersts Brilhante Ustra. Dem der jetzige Chef der Kugelfraktion, Jair Bolsonaro, seine Stimmabgabe für das Impeachment gewidmet hat.“
„Die enormen Mobilisierungen gegen die PT-Regierung rissen die Mehrheit der brasilianischen Mittelschicht und einen wichtigen Sektor von Arbeitern und Volkssektoren mit, die  von der Sparpolitik Rousseffs betroffen waren. Eine zu den Versprechen des PT in der Wahlkampagne von 2014 konträre Politik, die die Wirtschaft in eine Rezession stürzte, die als die schlimmste der letzten 116 Jahre gelten kann. Mit einem BIP-Rückgang von 3.8 % im letzten und von 3.5 % in diesem Jahr, wie die internationalen Organisationen projizieren. Mehr als 10 Millionen waren im Januar 2016 arbeitslos, ohne die Unterbeschäftigtem, Prekarisierten und nicht mehr Arbeitssuchenden miteinzuberechnen.“
„Die Priorisierung des Privatsektors als Motor der Wirtschaft und die radikale Reduktion des Gewichts des staatlichen Sektors  [unter Mendes] zielen vorallem auf die Zerstörung von Petrobras und die Privatisierung des Ölsektors in die Hände der imperialistischen Unternehmen, die den Pré-sal  [riesige Ölvorkommen in Küstennähe] privatisieren wollen. Diese Orientierung haben die PT-Regierungen mit dem Akzeptieren der Korruption in Petrobras zwecks Finanzierung von Wahlkampagnen oder Offshore-Konten übernommen. Mit dem Putsch soll die Privatisierung jetzt eine neue Dimension erhalten. Das geht viel weiter. Ihr Motto lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: „Alles privatisieren“, wie dies José Olympio Pereira, Präsident von Credit Suisse Brasil, kürzlich in seiner Rede an der Brazil Conference in Boston ohne Umschweife gesagt hatte[1].“
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 [Realen Widerstand sieht der Autor einzig in der Welle von SchülerInnen- und LehrerInnenkämpfen gegen die Privatisierung des Erziehungssystems, die in den letzten Monaten in mehreren Einzelstaaten, vor allem aber in São Paulo, zu grossen Mobilisierungen, Besetzungen und Auseinandersetzung mit den Repressionskräften geführt haben. Zwar ordnet er Kräfte wie die Landlosenbewegung MST und die Stadtbewegung MSTS explizit als künftige Repressionsopfer ein, mehr aber nicht. In der Jugendbewegung, für die er aber Siegeschancen nur in langer Frist sieht, fällt ihm positiv das Agieren von trotzkistischen und anarchistischen Kräften auf. Der Autor gehört ins Lager jener, die im PT und nahestehenden Kräften bloss moderatere Formen der bourgeoisen Herrschaft mit der objektiven Funktion, radikaleren Kräften der Reaktion das Terrain zu bereiten, sehen.]
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Transozeanisches
„Die von Michel Temer angekündigten sozioökonomischen Massnahmen sind die gleichen, wie sie hier [Argentinien] Macri durchsetzt, dessen Finanzminister Alfonso de Prat-Gay den Regierungsverlust des PT in Brasilien feierte, denn so werde es möglich, den Mercosur dem Abkommen mit der EU und den Beitritt beider Länder zu der von den USA gepuschten Pazifischen Allianz zu vollziehen.“
„(… )  Vor 30 Jahren nahm Uruguay ein Gesetz über die Hinfälligkeit der Strafverfolgung des Staates am gleichen Tag an, als der argentinische Kongress das Gesetz des Punto Final (Schlussstrich) verabschiedete. Die Entschlossenheit der USA, die Strafverfolgung der Armeeverantwortlichen für die Verbrechen unter den beiden Diktaturen zu beenden, ist so gut dokumentiert wie die Intervention des damaligen [argentinischen] Präsidenten Raúl Alfonsín bei seinem uruguayischen Kollegen Julio María Sanguinetti und dem Sohn des Oppositionsführers Wilson Ferreyra Alduante. Diesem übermittelte Alfonsín eine Message der US-Botschaft bezüglich Putschwahrscheinlichkeit von 50 % für den Fall, dass die Prozesse nicht gestoppt würden.“
aus Página/12,  15. Mai 2016, Horacio Verbitsky: Usos de la corrupción
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Die Expertin made in USA
„[2013] schickte Barack Obama Liliana Ayalde als Botschafterin nach Brasilien. Sie ist Expertin für „weisse Putsche“, denn vor ihrem Antritt in Brasilien (wo sie weiter amtet), war sie bestimmt aus reinem Zufall Botschafterin in Paraguay, am Vorabend des „institutionellen“ Sturzes von Fernando Lugo.“
Atilio Borón, 12. Mai 2016: Asalto al poder
 
Kennt sich aus in weissen Putschen.

Das Vertrauen made in USA
„Natürlich verfolgen wir die Ereignisse dort. Diese Frage nach der Regierung und ihrer Zusammensetzung ist eine interne Angelegenheit, über welche das brasilianische Volk und die brasilianischen Behörden entscheiden. Wir sind zuversichtlich, dass sich Brasilien auf demokratische Weise den Herausforderungen stellen wird“.
Pressesprecher John Kirby an der täglichen Pressekonferenz des State Departments vom 13. Mai 2016.

Democracy (made in USA) - was sonst?
„US-Offizielle verteidigten zum ersten Mal die Legalität des Impeachment-Prozesses gegen Dilma Rousseff. In einer Debatte in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) diesen Mittwoch sagte [US-Botschafter] Michael Fitzpatrick: ‚Ich glaube nicht an einen „weissen“ oder wie immer gearteten Putsch. Was in Brasilien geschah, erfolgte im Rahmen eines verfassungskonformen Prozesses unter völliger Respektierung der Demokratie.‘“
[Viel mehr war während der Monate des sich entwickelnden weissen Putsches aus Washington nicht zu hören. Diese „Kraft des Schweigens“ bezeugt diskrete Täterschaft, die jetzt sofort uzm business as usual übergeht.]


[1] Die Brazil Conference wurde letzten April von der Harvard-Universität und dem MIT organisiert. Zu Pereiras Vortrag, s. Brasil precisa de maciço programa de concessões, diz presidente do Credit Suisse.