Südmexiko-Newsletter August 2022

Sonntag, 28. August 2022

 

IN EIGENER SACHE: Vorbereitung für die Internationale Menschenrechtsbeobachtung in Chiapas - 16. Okt.und 12./13. Nov. (nur mit Anmeldung auf soli@chiapas.ch)

Mehr Infos: https://chiapas.ch/aktiv/einsatz-als-menschenrechtsbeobachterin/


 


 

CHIAPAS


Gemeinsamer Aufruf gegen Angriffe auf Gemeinden des Caracol 10 der EZLN (Ende Juli)

Die Agressionen, bei denen Familien aus meĥreren zapatistischen Gemeinden vertrieben wurden und Felder und Häuser in Brand gesetzt wurden, ereigneten sich Mitte Juli. Dies hatte auch zur Folge, dass die Bricos (Menschenrechtsbeobachtende) sich aus San Gregorio zurückziehen mussten, da sie Morddrohungen erhielten.

Weiterlesen auf Spanisch: https://redajmaq.org/es/pronunciamiento-conjunto-en-contra-de-las-agresiones-las-comunidades-del-caracol-10-del-ezln

Weiterlesen auf Deutsch: https://www.chiapas.eu/news.php?id=11673

Dazu: https://www.npla.de/thema/repression-widerstand/drohungen-gegen-internationale-menschenrechtsbeobachterinnen/


 


 

TREN MAYA


Regierung schafft bei Bau von Tren Maya Fakten (3. August)
Mexikos Regierung schafft weiter Fakten beim Bau des sogenannten Tren Maya. Am
1. August veröffentlichte das offizielle Amtsblatt ein Dekret, laut dem für das Bahnprojekt mehr als eine Million Quadratmeter Land enteignet werden. Diese liegen in vier Gemeinden entlang des »Bauabschnitts fünf« des Tren Maya, berichtete El País México am 2. August.
Weiterlesen: https://www.jungewelt.de/artikel/431771.megainfrastrukturprojekt-in-die-trickkiste.html


Tren Maya: Yucatán im Ausverkauf (22. Juli)
So atemberaubend das karibische Traumziel auch ist, so steht Yucatán doch immer öfter wegen zunehmender Gewalttaten von Drogenbanden in den Schlagzeilen. Der Regierung fällt es zunehmend schwerer, die Streits der rivalisierenden Clans zu deeskalieren. Auch weil sich die mexikanische Mafia in den vergangenen Jahren mehr und mehr zersplittert hat.
Weiterlesen: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165508.mexiko-yucatan-im-ausverkauf.html


 


 

GUERRERO

Verschwundene Studenten aus Ayotzinapa: Keine Hoffnung auf Überlebende, zuständiger Ex-Generalstaatsanwalt in Haft
Das Militär trägt eine Mitverantwortung im Fall der 43 Studenten des Lehrerseminars Ayotzinapa, die 2014 in Mexiko verschleppt wurden. Zu diesem Schluss kommt eine Wahrheitskommission, die am 18. August ihren ersten Bericht in Mexiko-Stadt vorgestellt hat.
Weiterlesen: https://amerika21.de/2022/08/259658/mexiko-ayotzinapa-keine-ueberlebenden


 


 

UNTER BESCHUSS

Erneut ist in Mexiko ein Journalist ermordet worden
Der mexikanische Journalist Juan Arjón López ist am 16. August nahe der Stadt San Luis Río Colorado im Bundesstaat Sonora tot aufgefunden worden. Das hat die Generalstaatsanwältin vom Sonora, Claudia Indira Contreras, bekanntgegeben.
Weiterlesen: https://amerika21.de/2022/08/259632/mexiko-journalist-arjon-lopez-ermordet


 


 

MEXIKO

Public Eye-Recherche: Nestlé ist mitverantwortlich für Todesursache Nr.1
Drei von vier Mexikanerinnen und Mexikanern sind übergewichtig und jede Dritte und jeder Dritte sogar fettleibig (Body-Mass-Index von 30 und darüber). Diabetes ist in Mexiko längst die Todesursache Nummer 1. Deshalb besteuert die Regierung das weit verbreitete Junk-Food. Seit 2020 warnen schwarze Warnhinweise vor ungesunden Lebensmitteln. Dagegen wehrte sich Nestlé mit allen Mitteln. Die Schweizer Behörden halfen dem Konzern tatkräftig dabei. Das zeigen vertrauliche E-Mails zwischen Nestlé und dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco unter SVP-Bundesrat Guy Parmelin, welche Public Eye Anfang Juli publik machte. Weil grosse Medien nur spärlich darüber berichteten, veröffentlichen wir hier die Recherche von Public Eye.
Weiterlesen: https://www.infosperber.ch/wirtschaft/konzerne/mexiko-nestle-ist-mitverantwortlich-fuer-todesursache-nr-1/


Regierung von Mexiko stellt sich weiterhin gegen Bayer-Monsanto
Die mexikanische Regierung wird das Urteil anfechten, mit dem das sechste Bezirksgericht für Verwaltungsangelegenheiten dem Unternehmen Bayer-Monsanto eine einstweilige Verfügung gegen das Präsidialdekret zum Verbot von gentechnisch verändertem Mais und zum Ausstieg aus der Verwendung von Glyphosat zugesprochen hat. Mit der Berufung wird der Fall nun an ein Kollegialgericht weitergeleitet, das über die Bestätigung oder Aufhebung des Urteils entscheiden soll. Der US-Konzern Monsanto ist 2018 von der deutschen Bayer AG übernommen worden.
Weiterlesen: https://amerika21.de/2022/08/259393/regierung-mexiko-monsanto


Mexiko-City: Der Körper hat ein Gedächtnis
Das ambulante Zentrum für Überlebende von Folter und Gewalt von Médecins sans Frontières, bekannt unter seiner spanischen Abkürzung CAI, in Mexiko-Stadt bietet spezialisierte Behandlung für Menschen an, die Folter oder extreme Gewalt, einschließlich Belästigung und sexualisierte Gewalt, überlebt haben.
Viele der Patient*innen im CAI sind Migrant*innen oder Asylbewerber*innen, die eigentlich vor eben dieser Gewalt, Folter und Ausbeutung aus süd- und mittelamerikanischen Ländern fliehen. Teilweise haben sie aber auch noch viel längere Wege hinter sich und kommen aus der Karibik oder sogar vom afrikanischen Kontinent.
Weiterlesen: https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/aktuelles/mexiko-stadt-ambulantes-zentrum-cai-folter-gewalt


 

Frauenmorde in Mexiko: „Kein Wille zur Aufklärung“
Am 2. Juni 2018 wurde im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca die Fotojournalistin María del Sol Cruz Jarquín getötet. Vier Jahre später war ihre Mutter Soledad Jarquín Edgar auf einer Rundreise durch Europa, damit es endlich einen Fortschritt bei den Ermittlungen gibt. Sie sprach mit Abgeordneten des Europaparlaments, vor den Vereinten Nationen in Genf sowie mit verschiedenen Menschenrechts- und sozialen Organisationen. amerika21 konnte sie in Berlin zu einem Interview treffen. Weiterlesen: https://amerika21.de/analyse/259090/mexiko-femizid-edgar-straflosigkeit


Notstand wegen Dürre ausgerufen
Am 12. Juli hat die mexikanische Wasserkommission Conagua (Comisión Nacional del Agua) einen Notstand wegen der Dürre im Land ausgerufen. Nach Angaben des staatlichen Dürremonitors sind fast 70 Prozent Mexikos von Wassermangel betroffen, ein Viertel des Landes sogar von schwerer bis extremer Dürre. Nur ein Achtel verzeichnet keinen Wassermangel.
Weiterlesen: https://www.npla.de/thema/umwelt-wirtschaft/notstand-wegen-duerre-ausgerufen/


 


 

HINWEISE & VERANSTALTUNGEN


Sa, 3. September: Justice for Nzoy/Rassismus tötet! Besammlung um 15.30 Uhr beim Landesmuseum. Rassismus tötet – ganz konkret am 30. August 2021 in Morges (VD). Die Polizei erschoss den 37-jährigen Nzoy aus Zürich, ein Mord mit eindeutig rassistischem Hintergrund. Die Behörden sind bis jetzt nicht in der Lage und offenbar auch nicht willens, den Fall aufzuklären. Wir fordern Gerechtigkeit für Nzoy und solidarisieren uns mit den Opfern rassistischer Gewalt und mit allen antirassistischen Kämpfen weltweit!


 

Fr/Sa, 9./10. September: UNITE, Antifaschistisches Festival, Kochareal Zürich

Programm: https://unite.kochareal.ch/


 

Fr, 16. September: PARK(ing) Day, in verschiedenen Städten weltweit; mehr Infos: https://www.umverkehr.ch/aktuell/veranstaltungen/2022-09-16/parking-day-2022


 


Fr-So, 16.-18. September: Enough Action Days auf dem Park Platz, Zürich. Mit einer Veranstaltung zu Chiapas (Direkte Solidarität mit Chiapas). Wasserwerkstr. 101. Mehr Infos und Programm: https://aktionstage-enough.ch/de


 


Sa, 1. Oktober, Info-Veranstaltung zu Chiapas. LaKuZ Langenthal. Mit der Direkten Solidarität mit Chiapas. Infos: https://lakuz.ch/

Von Unschuldslämmern und dem Hungern

Donnerstag, 25. August 2022

(zas, 25.8.22) So langsam dämmert einzelnen Mainstreammedien, was nicht neu ist (auch in diesem Blog sind wir wiederholt darauf eingegangen. Dass nämlich die globale Hungersnot vielleicht nicht einzig auf Putins Konto geht. So brachte vorgestern der britische Guardian den Artikel, Record profits for grain firms  amid food crisis prompt calls for windfall tax», von Fiona Harvey. Wir lesen:

Die weltgrössten vier Getreidehändler, die den Getreidemarkt seit Jahrzehnten dominieren, haben rekordnahe Gewinne eingenommen.  Sie prognostizieren einen Nachfrageüberschuss bis mindestens 2024, was in den nächsten zwei Jahren wahrscheinlich zu nochmals gesteigerten Umsätzen und Gewinnen führen wird.

Vier Unternehmen – Archer-Daniels-Midland Company, Bunge, Cargill und Luis Dreyfus, bekannt als ABCD – kontrollieren zwischen 70 und 90 Prozent des globalen Getreidemarktes.

Olivier De Schutter, UNO-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, kommentiert:

«Globale Getreidemärkte sind sogar noch konzentrierter als Energiemärkte und sogar noch intransparenter, so dass es ein riesiges Profitierungsrisiko gibt.»

Die Journalistin resümiert:

«Er [De Schutter] sagte, die Nahrungsmittelpreise stiegen dieses Jahr trotz der Annahme von üppigen globalen Getreidereserven, aber seitens der Unternehmen gibt es ungenügende Transparenz bezüglich ihrer Lager es gibt keine Möglichkeit, sie zu Verkäufen in nützlicher Frist zu zwingen.»

«Cargill veröffentlichte einen Rekordgewinn von $ 165 Milliarden in dem Ende Mai zu Ende gegangenen Geschäftsjahr, während Archer-Daniel-Midlands im zweiten Quartal des Jahres den grössten je erzielten Gewinn machte. Der Umsatz von Bunge steig im zweiten Quartal im Vergleich zur Vorjahrperiode um 17 Prozent, wobei die Profite wegen vorgängiger Klagen beeinträchtigt waren. Louis Dreyfus informierte über um 80 % höhere Profite 2021 als im Vorjahr.»

De Schutter sagt:

«Letztlich müssen wir die Monopole brechen, die die globale Nahrungskette im Würgegriff halten. Eine Handvoll Unternehmen kontrolliert die globalen Saatgut- und Düngermärkte, die Tiergenetik, den globalen Getreidehandel und den Nahrungsdetailhandel. Sie machen riesige Gewinne auf Kosten der Bauern, Konsumentinnen und der Umwelt.»

Nochmals die Journalistin:

«Im UK sind die Preise für viele Grundnahrungsmittel gestiegen, zusätzlich zum Kummer wegen der Strompreise, die für den Durschnitthaushalt in diesem Winter auf 3'500 Pfund veranschlagt werden. ArmutsaktivistInnen  warnen davor, dass die Leute eine schwierige Wahl zwischen Essen oder Heizen ihrer Wohnungen treffen müssen.

Soweit die Kernaussagen im Artikel.

«Natürlich» versichert ein Analyst von Moody’s, die Unternehmen handelten nicht «unmoralisch». Ihre Gewinnmargen seien nicht gestiegen. Das wäre schon fast belustigend, wäre es nicht so kriminell. Denn De Schutter gibt die UNO-Zahlen wieder, wonach heute 345 Millionen Menschen, also mehr als 200 Millionen mehr als vor der Covid-19-Pandemie, an «akuter Ernährungsunsicherheit» leiden (Slang für massiv von Hunger bedroht). Weltweit rasen die Nahrungspreise in die Höhe – aber laut Moody’s wird halt massiv mehr gegessen als vorher!

Es sei noch auf einen Artikel von Silvia Ribeiro in amerika.21 hingewiesen: Das Geschäft mit dem Hunger. Die Autorin rückt darin auch weitere Hungertreiber wie die Spekulation ins Blickfeld.

Skandalprozess in Argentinien: Ex-Präsidentin Kirchner soll für zwölf Jahre ins Gefängnis

 

Vizepräsidentin Kirchner mit Präsident Alberto Fernández
Vizepräsidentin Kirchner mit Präsident Alberto Fernández

Buenos Aires. Nach einem Schlussplädoyer, das neun Sitzungstage in Anspruch nahm, hat die Staatsanwaltschaft heute eine Haftstrafe von zwölf Jahren gegen die ehemalige argentinische Präsidentin und aktuelle Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner gefordert. Zudem soll sie keine öffentlichen Ämter mehr ausüben dürfen.

Die Regierung gab wenige Minuten nach dem Auftritt von Staatsanwalt Diego Luciani eine Erklärung ab, in der sie "die gerichtliche und mediale Verfolgung" gegen die derzeitige Vizepräsidentin verurteilte. Der Text stellt klar, dass "keine der der ehemaligen Präsidenten zugeschriebenen Taten bewiesen wurde". Präsident Alberto Fernández bekundete Kirchner "seine tiefste Zuneigung und Solidarität".

Laut Luciani wurde in dem Prozess bewiesen, dass sie der Kopf einer illegalen Vereinigung gewesen sei, die für die Kanalisierung von öffentlichen Aufträgen an befreundete Unternehmer zuständig war (amerika21 berichtete). Die während des Plädoyers gestellten Behauptungen stehen laut Prozessbeobachtern jedoch weitestgehend im Widerspruch zu den Zeugnissen und Beweisen, die im Prozesses vorgelegt wurden.

Luciani bezog sich zudem auf Zeugen, die in diesem Prozess nicht gehört, und auf vermeintliche Beweise, die bisher nicht bekannt waren. Der bekannte Professor und Verfassungsrechtler Eduardo Barcesat bezeichnete den Auftritt der Staatsanwälte als skandalös und "ekelerregend". Sie hätten die Prozessordnung und das Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

Währenddessen kamen einige brisante Informationen zu Tage: Die Tageszeitung Pagina 12 veröffentlichte Fotos, auf denen Luciani und einer der zuständigen Richter, Rodrigo Giménez Uriburu, zusammen im Fußballteam namens Liverpool bei einem Turnier auf dem Landsitz von Ex-Präsident Mauricio Macri spielten. In den folgenden Tagen gab es weitere Bilder, die zeigten, dass auch einer der zuständigen Kassationsrichter, Mariano Llorens, teilnahm.

Macri selbst hatte dem chinesischen Premierminister Xi Jinping bei einem Staatsbesuch stolz ein Video gezeigt, bei dem er ein Tor gegen gerade dieses Team schoss. Seine offizielle Biographin hatte vor zwei Jahren geschrieben, dass sich der innere Kreis seines Vertrauens beim Fussballspiel auf seinem Landsitz Los Abrojos traf.

Der zweite der drei zuständigen Richter, Jorge Gorini, hatte mehrere Treffen mit der damaligen Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die in diesem Fall als Nebenklägerin auftrat.

Die Onlinezeitung El Destape fand zudem heraus, dass der zweite Staatsanwalt, Sergio Mola, ebenfalls Besuche im Präsidentenpalast machte und sich dort mit Fabian Rodriguez traf, den derzeit in Uruguay flüchtigen Organisator der "Mesa Judicial" (Runder Tisch der Justiz) und Richter-Manipulator Macris (amerika21 berichtete). Mola nahm auch an Treffen in der US-Botschaft teil.

Bereits vorher war bekannt, dass die von Macri in das strategische Kassationsgericht versetzten anderen beiden Richter, Mariano Borinski und Gustavo Hornos, den Präsidenten mehrfach besucht hatten. Ein Ablehnungsgesuch seitens der Verteidiger vom Beginn des Prozesses wurde jedoch vom Obersten Gerichtshof zurückgewiesen.

So hatten beide Staatsanwälte, zwei der drei Richter der ersten Instanz und alle drei Richter des Kassationsgerichts Beziehungen untereinander bzw. Kontakt mit den Klägern der Regierung Macri während des Prozesses.

Die Verteidiger Kirchners stellten daraufhin Befangenheitsanträge gegen Staatsanwälte und Richter, die erwartungsgemäß zurückgewiesen wurden. Die Berufung dagegen wird von den ebenfalls als befangen betrachteten Richtern der Kassationskammer, Hornos, Borinski und Llorens entschieden.

Während die rechtsgerichtete Presse der großen Mediengruppen, die seit Wochen die Aktionen der Ankläger voraussagt, den Staatsanwalt als Helden feiert, wächst auf der anderen Seite die Entrüstung.

In Buenos Aires und in Tucuman gab es bereits Demonstrationen gegen den Justizmissbrauch und zur Unterstützung der Vizepräsidentin. Die Puebla-Gruppe internationaler linksgerichtetet Politiker sieht in diesem Fall einen weiteres Beispiel des Missbrauchs der Justiz gegen politische Gegner (Lawfare), in einer Linie mit den Prozessen gegen Lula da Silva, Rafael Correa, Evo Morales und Dilma Rousseff.

Zurück in die nazistische Moderne?

Dienstag, 23. August 2022

(zas, 23.8.22) Wenn einer auf einer ganzen NZZ-Seite (Wissen, wer Feind ist und wo der Feind steht) angesichts des Kriegs in der Ukraine dafür plädiert, sich wieder an Carl Schmitt zu orientieren, ist höchste Gefahr im Verzug. Der Autor Konrad Paul Liessmann ist Philosoph und Ex-Dozent an der Universität Wien. Von Schmitt, jahrelanger «Kronjurist Hitlers», zitiert er nicht die bekanntesten Gedanken wie den folgenden, nach der «Nacht der langen Messer» 1934 (Ausmerzung interner Konkurrenz zu Hitler) formuliert: «Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft» (zit. von Linus Schöpfer in NZZ, 9.4.22, Advocatus Diaboli). Er geht auch nicht auf Schmitts bekannte Maxime – «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet» - ein. Er vermittelt Krieg als Mass aller Dinge. Widerstrebend, scheinbar, aber wahrheitsliebend halt. Das geht so: «Für viele Zeitgenossen bringt der Krieg [in der Ukraine] eine ungeheure Klarheit in ihre Gedanken. Man weiss nun, wo der Feind steht. Und darüber gibt es keine Diskussionen. Die Monate seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine waren auch Monate des Erwachens aus dem tiefen Schlummer einer illusionären Weltdeutung. Zu dieser gehörte der Glaube an die friedliche Koexistenz von Staaten, zu dieser gehörte die Hoffnung, dass Europa neben der ökonomischen Integration nur das Label ‘Friedensprojekt’ benötige, um eine transnationale Zukunft zu haben.»

 Die von Kriegsbeginn an von Macht und Medien pausenlos eingehämmerte Botschaft vom «Erwachen aus der Naivität» also. Das habe Schmitt schon 1932 erkannt, als er «im Freund-Feind-Verhältnis die zentrale Bestimmung allen politischen Handelns» ausgemacht hatte. Mit der Zuspitzung auf Krieg. Darum: «[S]eit Putin wissen wir wieder, dass internationale Politik bedeutet, zu erkennen, welchen Staaten man nicht trauen darf.»

Dieses klare Freund/Feind-Denken, das lange «ein Unding schien», legt heute so Zeugs wie «das Vorantreiben sozialer Fortschrittsprojekte» oder internationale Verständigung bei gegenseitiger Interessenberücksichtigung ad acta. Denn: «Mit dem Feind geht man (…) keine innigen Verbindungen ein. Genau das definiert das Wesen von Feindschaft. Die Beschwörung der Werte ist demgegenüber nicht viel mehr als moralische Tünche.» Und dann geht’s zur Schmitt’schen Sache: «Nicht zuletzt die EU macht die ernüchternde Erfahrung, dass die oft beklagte mangelnde politische Einheit nun durch einen Feind erzwungen wird. Wie selten zuvor erlebt sich die Gemeinschaft als politisches Subjekt. Das Beschwören von Tugenden wie Geschlossenheit, Härte und Konsequenz in Fragen der Sanktionen, die über Russland verhängt wurden, drückt dies aus. Das aber bedeutet: Nicht der Wille zum Frieden treibt das Einigungsprojekt voran, sondern der Wille, sich, wenn bis anhin auch nur indirekt, an einem Krieg zu beteiligen.»

Der Autor fühlt auch Weltschmerz. Wer Frieden will, rüstet auf und denkt in «potenziell tödlichen Gegnerschaften. Wie dieses dennoch einigermassen human gestaltet werden kann, bleibt wohl bis auf weiteres eine ungelöste Aufgabe.»

Letzten April hatte sich, wie oben erwähnt, Linus Schöpfer in «Advocatus Diaboli» ebenfalls Carl Schmitt gewidmet. Inhalt: Der Nazi werde in Kreml-nahen Kreisen, vor allem aber in der chinesischen Führung gut rezipiert. «Niemand … nehme einen in China ernst, wenn man nichts über Carl Schmitt zu sagen wisse», zitiert er einen westlichen Politologen. Wie das auch bei Schöpflin durchschimmert: Der Autor Karlheinz Ott vermittelt ihm die Erkenntnis, dass «der Westen angesichts des Ukraine-Kriegs nicht um die Erkenntnis herumkommt, nicht bloss Feindbilder zu haben, sondern echte Feinde.» Schmitt würde beipflichten. Weiter sagt Ott, nicht nur Rechtsextreme seien von Schmitt angezogen, sondern auch «[w]er in linker Weise in glasklaren Feindbildern denkt, ist mit Schmitt ebenfalls bestens bedient». Lassen wir das mit den «Linken» für den Moment, denn die haben «bloss» Feindbilder, «wir» aber Feinde.

Interessant Schöpflins Hinweis auf den Bremer Politologieprofessor und Autor Philip Manow, der bei Schmitt mit den Jahren «eine Verschiebung von der Politik zur Wirtschaft als wahrem Träger der Macht» sieht. «Schmitt sei» nach Manov «einer der frühesten und fundiertesten Theoretiker der Globalisierung gewesen.»

Der Nationalsozialismus war mitnichten nur primitiv und retro. Er war auch brutal modernisierend. Das macht ihn für zeitgenössische Stürmer attraktiv. Dass damals die nazistische Modernisierung z. B. nicht nur von deutschen Kadern, sondern auch von zahlreichen atlantischen Historikern, Ökonominnen und Polit- und Mediengrössen, etwa auch von einem Keynes, analysiert und in ihren Sozialkriegs- und kriegsökonomischen Belangen übernommen wurde, belegt Detlef Hartmann in Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 2. So etwa die Verbindung von defizitfinanzierter Kriegswirtschaft und Massenproduktion mit Erschliessung beherrschter Zonen (Osteuropa im Fall der Nazis, Lateinamerika für Roosevelts New Deal) und einem tendenziell globalisierten Sozialkrieg gegen unten, die «moralische Ökonomie» der Subsistenzgesellschaften etwa in sowjetischen Dörfern mit Verlängerung in die Fabriken oder im jüdische Stetl in Polen. Die Verbindung also eines neuen produktiven und finanztechnischen Waffenarsenals mit der von den Nazis antisemitisch verdichteten Vernichtung. Eine Blaupause, die vom US-Konstrukt Bretton Woods (IWF, Weltbank u. a.) nach dem 2. Weltkrieg, beginnend mit Lateinamerika, für grosse Teile der Welt übernommen wurde.


 Die Nazis waren Vorreiter eines Keynesianismus. Aber sie waren nicht allein. Hier eine Bemerkung zu Karlheinz Otts Hinweis auf «Linke». Die bolschewistische Führung betrachtete Fordismus/Taylorismus als neutrales Instrument, dessen Einsatz durch eine revolutionäre Führung nur Gutes bewirke. Was im Stalinismus grauenhaft gipfelte, war, das belegt Hartmann anhand zahlreicher Arbeiten mit Informationen aus den seit einigen Jahrzehnten zugänglichen Archive der KP der Sowjetunion, unter Lenin schon früh aufgegleist: mit der Pervertierung der Sowjets zu Transmissionsriemen der bolschewistischen Kommandos oder der «Entkulakisierungs»-Hetze mit klarer Tendenz zum Massenmord. Falls sich also Ott z. B. ebenfalls auf Schmitt-Rezeptionen in China bezöge, wäre das genauer zu betrachten. Allerdings nicht entlang der dummen Linie von «rechts und links berühren sich», sondern umgekehrt vom Begriff einer gemeinsamen kapitalistischen Basis aus. (Wie die bolschewistische Organisation oder etwa die Khmers Rouges, ja ebenfalls aus dem Widerstand entstanden, sich derart «modernem» massenmörderischen Kommando unterordnen konnten, ist eine existentielle Frage.)

Wie erreichten Roosevelt und seine New-Deal-Kader den Wirtschaftsaufschwung? Nicht mit Vollbeschäftigungsmassnahmen à la klassischer Keynes-Rezeption. Mit einer Politik der Aufrüstung. Und wie die Nazis? Mit der massiven Förderung der Kriegsindustrie. Wie die Sowjets? Dito. Und was läuft heute? In Ost und West Kriegstrommeln, Kriege. Die EU – ein taugliches Projekt dank Kriegsorientierung, wie der Wiener Philosoph plaudert.

 

«Strange fruits» (Billie Holliday)

Wir verstehen, welche Früchte beim «Aufwachen» vom Himmel fallen sollen. Wie die, die der Philosoph antönt: Schluss mit Genderscheiss oder Gefühlsduselei in Sachen Migrationsbekämpfung. Oder wenn es von «Verantwortungsbewusstsein» zeugt, dass die olivgrüne deutsche Aussenministerin die Frontex-organisierte Gefangennahme geflüchteter SklavInnen durch die libysche Miliz («Küstenwache») expressiv verbis begrüsst. Oder dass Proteste dagegen, dass Soldaten in der Übung mit der Polizei in Bern die Ausweise derer kontrollieren, die das Bundesamt für Gesundheit frequentieren, wird auf der Rückseite des Philosophenartikels als «wahres, totalitäres Gesicht» der Linken ausgemacht.

Vieles wird noch kommen. 

Ukraine: Die einen bomben, andere befehlen: Weiter so!

 

Replik auf den Bericht im Echo der Zeit vom 23.7. 2022 »Immer mehr Menschen wollen weg aus Kuba»

Freitag, 19. August 2022

Gion Honegger

Christina Scheidegger von «Echo der Zeit» hat mit Dr. Günther Maihold von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (die u.a. auch die Bundesregierung und die Nato berät) ein Gespräch zur Situation in Kuba geführt. Im Zentrum stand die Auswanderung von Cubaner*innen und die Beweggründe dafür. Dr. Günther Maihold hat im Gespräch einige Gründe genannt, die er als dafür verantwortlich hält.

So hat G. Maihold die sehr schwierige wirtschaftliche Situation erwähnt, die dazu führt, dass teilweise Grundnahrungsmittel, Medikamente und Dinge des alltäglichen Bedarfs fehlen. Das ist leider tatsächlich eine Realität und macht das Leben der Cubaner*innen sehr schwierig. Viele jüngere Leute haben daher tatsächlich das Land, wenigstens für einige Zeit, verlassen, um woanders mehr verdienen zu können.

G. Maihold nennt im Gespräch Devisenmangel und Energieschwierigkeiten und meint dazu lapidar: «…die kubanische Ökonomie …traditionell unterversorgt mit Lebensmitteln, Medikamenten, strategischen Gütern…. «und fährt im Plauderton fort von Problemen zu sprechen, «die Cuba schon immer mit sich rumschleppt…»

Die Monroe-Doktrin: Der Griff der USA nach Cuba, Mittel- und ganz Lateinamerika

Es braucht schon einen abgebrühten Zynismus, um die wirtschaftliche Situation Cubas nach 60 Jahren US-Blockade so einseitig wie von G. Maihold in der Sendung von «Echo der Zeit» zu erklären. Meint er mit «traditionell» vielleicht die Tradition der USA, Mittelamerika – und nach Bedarf ganz Lateinamerika – als ihren «Hinterhof», ihren Besitz zu betrachten (Monroe-Doktrin, 1823). Wo man mit militärischen Interventionen und offen militärischen Kriegen (1898 Cuba und Puerto Rico, 1909 Nicaragua, 1954 Guatemala, 1973 Chile, 1983 Grenada, um nur einige wenige zu nennen) beliebig besetzen, politisch kontrollieren (Platt-Amendment, 1903) und für US-Konzerne zur Ausbeutung freigeben kann. Und mit «die Cuba schon immer mit sich rumschleppt…» kann ja nur die US-Blockade, vielleicht aber auch die längere Geschichte der USBesitznahme und Ausbeutung Cubas gemeint sein. Mit einem Wirtschaftskrieg ohnegleichen, führt jede US-Regierung die Politik des Platt-Amendment gegen Cuba weiter, weil sich die cubanische Bevölkerung einfach nicht unterwerfen lassen will und kämpferisch und «leidensfähig» jedem US-Druck widersteht.

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