Nicaragua «Jetzt müssen die Militanten einbezogen werden»

Donnerstag, 30. August 2018



Ein am 3. August in der Schweiz realisiertes Interview mit M. V., Aktivist des FSLN seit den 80er Jahren, 2014 politischer Sekretär seines Quartiers in der nördlichen Stadt Matagalpa. In wenigen Sätzen ein Reichtum von Informationen über die Dynamik der Ereignisse; über die, die vorher mit der Linken regierten und jetzt mit der Rechten regieren wollten; und über das, was im Frente anstehen sollte. Eine Stimme der Militanten.

Gérald Fioretta und Vivianne Luisier

Was geschah in Matagalpa in den ersten zwei Wochen der Unruhen?
Es gab eine grosse Verwirrung, denn wir wussten nicht, wer der Feind ist. Nicaragua war ein tolles Land! Dann kam das Rentendekret. Aber schon vorher gab es das Problem des interozeanischen Kanals und des Brandes im Reservat Indio Maíz.
Die ersten Tage waren die Demos klein und friedlich. Dann kam es zu versuchten und tatsächlichen Plünderungen. Danach zu den tranques (Barrikaden). Es gab welche im Süden von Matagalpa. Es gab ein paar Einfälle in Quartiere wie Palo Alto oder Guanuca (Anm. d. Red.: traditionell revolutionäre Stadtteile), aber dort kam es sofort zur Selbstverteidigung.

Und in der Stadt selbst gab es auch Barrikaden?
Viele haben den Kampf am Anfang gut gefunden, aber als sie die Zerstörungen und die Toten gesehen haben, haben sie gesagt: «Das wollen wir nicht». Sie wussten nicht, wie das alles einordnen, woher die Schläge kamen.
Zuerst hat es drei Tote gegeben. Da braucht es eine Untersuchung oder was, aber die Presse hat sofort gesagt, das sei die sandinistische Polizei gewesen. Nach und nach sahen wir, dass diese Bewegung nichts mit sozialen Forderungen zu tun hatte, sondern mit Vandalismus. Vom Sozialen ging es ins Politische.
An den tranques waren von Matagalpa insgesamt etwa 120 Leute aktiv. Sie schrien, dass Daniel abhauen müsse und die Sandinistas auch. Als der PLC und der MRS (Anm. d. Ü.: klassische Rechte bzw. nach weit rechts abgewanderte Frente-Abspaltung] sich offen in die Sache einbringen wollten, haben die Studenten anfangs gesagt, sie wollten keine politische Partei. Denn die Studenten waren zu Beginn alle zusammen, die von den Privatunis und die von der (staatlichen) UNAN. Während einer Demo begann vor der Kirche San José das Schiessen, bald war das Ziel, Sandinistas zu töten.

Wie lief die Selbstverteidigung in Palo Alto und Guanuca?
Nachts hatten wir Angst: Wir sahen Vermummte auf Pick-ups, die bewaffnet durch die Gegend rasten. Da dachten wir, dass wir uns in den Quartieren selber verteidigen müssen. Es gab Sitzungen «für die Verteidigung des Lebens», denn es hat immer mehr Tote und Zerstörungen gegeben. Die Geschäfte wurden schon von Schutzdiensten bewacht, aber wir (Anm. d. Red.: die sandinistischen Aktiven) haben die Leute zur Selbstverteidigung aufgerufen.
In Palo Alto stellten Männer, Frauen und Kinder die vigilancia revolucionaria (die revolutionäre Wache). Wir haben grosse Töpfe Kaffee für die Nacht vorbereitet, wie früher. Denn die azul y blanco («blauweissen», Nationalfarbe) wollten das nagelneue Gesundheitszentrum und den CDI (die Krippe), wo täglich 250 Kinder sind, zerstören. Sie wollten alles schleissen.
Das Regionalspital wurde von etwa 60 Ex-Mitglieder der Bande von La Chispa (Armutsquartier neben dem Regionalspital) geschützt. Die Armee bewachte die Sozialversicherung, die Bibliothek, das Einwohneramt. Das Bürgermeisteramt und das Lokal des FSLN bewachten die compañeros, aber ohne die Leitung … Zwei Male wollten die «azul y blanco» den Frente angreifen, aber es gelang ihnen nicht.

Und jetzt, Anfang August, wie geht es in Matagalpa?
Alles ist gefilmt. Sie sind blöd, sie haben sich gefilmt, weil sie dachten, dass sie alles rasch umstürzen würden. Und jetzt sind diese Filme Beweismittel gegen sie und das bringt sie ins Gefängnis. Diejenigen, die die tranques finanziert haben, werden gejagt werden. Sie dachten, sie gewännen und würden so weiter befehlen: Nachdem sie mit der Linken befehlt haben, dachten sie, mit der Rechten weiter zu befehlen.
Auf den 19. Juli (Anm. d. Ü.: Jahrestag der sandinistischen Revolution) waren alle tranques aufgelöst. Aber jetzt gilt es, die tranques in den Institutionen zu säubern, das ist eine andere Sache! Was geschah, war ein Hinterhalt, etwas Subtiles, Unvorhergesehenes.
Aber der Comandante bleibt: Er wird nicht einfach so gehen. Es war immerhin er, der in der ersten Linie der Revolution gestanden ist. Aber ab jetzt müssen iom Gegenzug die Militanten des FSLN mehr einbezogen werden. Wenn wir mit Leuten oder einem Ereignis nicht einverstanden sind, müssen wir das sagen können.
Wir hatten die guardia somocista, den servicio militar (Armeedienst in den 80er Jahren), 17 Jahre neoliberale Regierungen, das war alles Leiden und jetzt noch das. Was wir jetzt erlebt haben, war fast noch schlimmer als der Krieg 1979.
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(GF, VL) Auf die Frage «Ist jetzt endlich Ruhe eingekehrt?», war die telefonische Antwort vom 20. August nicht erfreulich. Ja, die Lage ist ruhiger, aber sie ist zerbrechlich, wie der Mord an einem in Matagalpa bekannten Sandinista, Lenín Mendiola, zeigt. Lenín war nicht am Demonstrieren. Die Angst geht weiter um und am Abend schliessen sich die Leute bei sich zuhause ein. Und gleichzeitig fangen die Entlassungen im staatlichen Bereich an und werden gefährliche Ressentiments schaffen.

Frei Betto vor den Wahlen in Brasilien «Es braucht eine politische Alphabetisierung des Volkes»

Interview mit Frei Betto vor den Wahlen in Brasilien
«Es braucht eine politische Alphabetisierung des Volkes»
Von Sergio Ferrari
Befreiungstheologe, ehemaliger politischer Gefangener der 1970-erJahre, Schriftsteller: Der brasilianische Dominikaner Carlos Alberto Libânio Christo, besser bekannt als Frei Betto, ist einer der luzidesten Analytiker der Realität in seinem Land. Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen vom 7. Oktober in Brasilien spricht Betto über die komplexe wie herausfordernde Lage.
Frei Betto
 Inzwischen ist der inhaftierte ex-Präsident Lula von seiner Arbeiterpartei (PT) offiziell als Kandidat nominiert worden – der UNO-Menschenrechtsausschuss forderte die brasilianische Regierung am 17. August auf, Lulas Kandidatur zu ermöglichen. Die Rechte ist gespalten, doch sticht der Kandidat Jair Messias Bolsonaro (Partido Social Liberal) mit seinen extremen Positionen hervor. Auf linker Seite ist das Spektrum weniger breit: nebst Lula, der laut Umfragen am meisten Wählerstimmen holen würde, tritt der aufstrebende Sozialaktivist Guilherme Boulos an, der vom Partido Socialismo y Libertad (PSOL) lanciert wurde.
Der 73-jährige Frei Betto hat 60 Bücher zu verschiedensten Themen publiziert –  von den Briefen aus dem Gefängnis (1977) über die historischen Gespräche mit Fidel Castro zu Religion («Nachtgespräche mit Fidel») bis hin zur «Mosca azul», worin Betto die Probleme und Widersprüche des PT an der Macht thematisiert. Der Freund von Lula gehörte von 2003-2004 dessen Kabinett als Berater des Anti-Hunger-Programms «Hambre Cero» an. Nach Differenzen über die Regierungsführung zog er sich in der Folge aber zurück. Heute gehört Frei Betto zu den kritischen sozialen Akteuren im Land. Der Freidenker bezeichnet sich selber als «IGN», die Abkürzung für «Nichtregierungsindividuum» (Individuo no gubernamental).
Interview:
Laut den sozialen Bewegungen, der Linke und zahlreichen Analysten leidet Brasilien unter den Folgen der Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff im Jahre 2016 aufgrund nicht bewiesener Anschuldigungen. Wie beurteilen Sie die anstehenden Wahlen vom 7. Oktober in diesem Kontext?
Frei Betto: Das werden die unvorhersehbarsten Wahlen, die Brasilien je erlebt hat. Knapp sieben Wochen vorher ist der Ausgang kaum zu beurteilen, weil der Kandidat mit den meisten zu erwartenden Wählerstimmen Lula heisst. Er kommt je nach Umfrage auf 30 oder 32 Prozent. 21 Prozent der Wähler sind noch unentschlossen, gefolgt von 19 Prozent, die den rechtsextremen Militär Bolsonaro wählen wollen. Der Politikanalyst Marcos Coimbra ging Mitte August davon aus, dass sich im zweiten Wahlgang der PT-Kandidat - Lula oder Fernando Haddad, sofern Lula nicht antreten darf - und Bolsonaro gegenüberstehen werden.
Ist zu erwarten, dass diese Wahlen zu einer Deblockierung der Situation und einer erneuten demokratischen Dynamik führen?
Frei Betto: Die Beschränkung der Demokratie drückt sich in den Anschuldigungen gegen Lula aus, dem wichtigsten nationalen Kandidaten. Es handelt sich um Vorwürfe (wegen Korruption, Anm. der Red.), die nicht belegt sind. Es ist merkwürdig, dass er in der Küstenstadt Guarujá für einen Fall angeklagt wird, der São Paulo betrifft, und er in Paraná gefangen gehalten wird - wiederum einem anderen Bundesstaat. Es liegt auf der Hand, dass der demokratische Prozess in Brasilien verletzt wird, wenn die Justiz Entscheide trifft, deren wichtigstes Ziel es ist, Lula von einer dritten Präsidentschaft abzuhalten.
Trotzdem hat die Arbeiterpartei Lula am 15. August offiziell als Kandidaten registriert – begleitet von einer Kundgebung mit mehr als 50’000 Personen. Erachten Sie die Kandidatur als symbolischen Akt oder könnte sie von den Wahlbehörden tatsächlich akzeptiert werden?
Frei Betto: Es gibt Präzedenzfälle von Kandidaten, die durch die Justiz verurteilt waren, deren Registrierung aber bewilligt wurde. Einmal gewählt, durften sie ihr Amt antreten. Insofern kann man nicht sagen, dass Lula schon aus dem Rennen ist. Seine Anwälte werden bis zu einem Entscheid des obersten Gerichtes kämpfen. Im Falle eines Ausschlusses von Lula wird Fernando Haddad kandidieren, früherer Erziehungsminister der PT-Regierung. Als Vizepräsidentin wird Manuela d’Avila von der kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) antreten.
Falls Lula als Kandidat ausgeschlossen wird: Haben andere progressive Kandidaten, wie zum Beispiel Guilherme Boulos (PSOL), aus Ihrer Sicht eine Wahlchance?
Frei Betto: Laut den Umfragen verfügt Lula über ein Potential von 30 Prozent der Wählerstimmen, die auf einen Ersatzkandidaten übergehen könnten. Das ist eine sehr bedeutende Zahl. Doch alles deutet darauf hin, dass nicht alle potentiellen Lula-Wähler seinen Ersatz wählen würden. Ich denke, viele Stimme werden auf Guilherme Boulos sowie auf Ciro Gomes (Partido Democrático Laborista, Alianza Brasil Soberano) oder Marina Silva (REDE) übergehen.
Sie sind befreundet mit Lula, der sich engagiert für das Volk und insbesondere die sozialen Bewegungen eingesetzt hat. Gleichzeitig haben Sie gewisse Politiken und Methoden des PT während dessen 13-jähriger Regierungszeit stets kritisiert. Welche Herausforderungen stellen sich für die Partei Ihrer Ansicht nach in Zukunft?
Frei Betto: Ich hätte es geschätzt, wenn der PT sich der Selbstkritik gestellt und Korruptionsvorwürfe an die Adresse seiner Mitglieder durch eine Ethikkommission hätte untersuchen lassen. Sofern die Partei es schafft, mit Lula oder Haddad zu siegen, gehe ich davon aus, dass sie eine progressivere Regierung stellt als früher mit Lula oder mit Dilma – oder es zumindest versucht. Man muss dabei daran erinnern, dass in Brasilien der Präsident von der Unterstützung beider Parlamentskammern abhängt. Und ich habe keine Hoffnung, dass der künftige Kongress nach den Wahlen weniger konservativ sein wird als der heutige. In diesem Sinne bleibt der Linken nichts anderes übrig, als zur Arbeit an der Basis zurückzukehren und die politische Alphabetisierung des Volks zu fördern.
Die Wahlen in Brasilien finden in einem für Lateinamerika komplexen Moment statt. Die neoliberale Offensive wird einzig durch den Amtsantritt von Mexikos künftigem Präsidenten Andrés Manuel López Obrador am 1. Dezember ausgeglichen.
Frei Betto: Brasilien und Mexiko sind die zwei mächtigsten Länder in Lateinamerika. Sofern der PT oder der PSOL in Brasilien gewinnen, wird die Verbindung zu López Obrador sehr wichtig sein, um den progressiven Regierungen auf dem Kontinent Mut zu machen und die Souveränität Venezuelas und der Kubanischen Revolution zu verteidigen. Sollte Ciro Gomes gewinnen, wird Brasilien eine zweideutige Politik haben, manchmal progressiv, manchmal unterwürfig. Die übrigen Kandidierenden – inklusive Marina Silva – stellen sich nicht gegen die neokoloniale Politik des Weissen Hauses, das unter anderem erreichen möchte, dass wir die Beziehungen zu China und Russland kappen. 
Mobilisierung für die Freilassung von Lula. Bild: Gustavo Bezerra.

Übersetzung: Theodora Peter

Wichtige Urgent Action zu Mexiko: Sergio Rivera Hernández gewaltsam verschwunden

Querid@s amig@s
 
In Mexiko gibts Hoffnung, aber auch ein gefährliches Machtvakuum... Darf ich euch auf eine urgent action aufmerksam machen, die mir sehr am Herzen liegt?

Vor einer knappen Woche ist der indigene Aktivist Sergio Rivera Hernández gewaltsam verschwunden, er hatte vorab schon Morddrohungen gekriegt. Sergio ist Teil von MAIZ, einer sozialen Organisation, die u.a. mit dem CNI (Zapatista-nahe) zusammenspannt. Konkret wehrt sich Sergio und die Nahua-Gemeinden in der Sierra Negra von Puebla gegen ein Wasserkraft-Projekt einer Bergbaufirma namens Autlán, die Mangan abbaut (wird bspw. in Autofabrikation verwendet, in Puebla befinden sich Werke von Audi und VW).

Alles weitere zur Urgent Action steht auf dieser Homepage, wo man die direkt unterschreiben kann:
https://www.chiapas.eu/ua2.php?id=132

Hintergrund zum Widerstand in der Sierra Negra:
Artikel im Dossier zu Wasserkraft:
Erfolgreiche Staudamm-Widerstände in Oaxaca und Puebla (S. 39-42)
https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/wasserkraft-fluch-oder-segen/

Diese Urgent Action hat in den ersten drei Tagen 40 Unterschriften gesammelt, nicht viel, aber aus dem Ausland und deshalb doppelt wichtig.
Ähnliche Aktionen auf englisch und spanisch:
https://www.frontlinedefenders.org/es/case/disappearance-sergio-rivera-hernandez
https://redtdt.org.mx/?p=11698

Heute gab es Proteste in der Hauptstadt Mexiko Stadt. Wir hoffen sehr, dass Sergio bald wieder auftaucht, seine compas, seine Frau und seine Kinder, das jüngste einen Monat alt, brauchen ihn.

Herzlichen Dank und liebe Grüsse

Nicaragua: No Regime Change, Ungewisse Zukunft

Sonntag, 26. August 2018


(zas, 26.8.18) Vorbemerkung: Vieles hat sich ereignet, aber fast einen Monat lang Nica-Eintrag auf diesem Blog. Hier nun einige Momente der Entwicklung, so kurz wie möglich.
Das Regierungslager hat im Juli klar Oberwasser gewonnen. Die rund 40 grossen Strassensperren (tranques) der Regime-Change-Gruppen konnten alle geräumt werden – bis heute gibt es keine neuen. Dabei kam es zu Schusswechseln, es gab Tote, mehrheitlich auf Seiten der tranqueros. Verlässliche Angaben dazu fehlen. Von rechts wird die Beteiligung von bewaffneten Zivilisten bei den Räumungen – „Paramilitärs“ – denunziert. Die Regierung sagt, es handle sich um Mitglieder der legal konstituierten Hilfspolizei, die in Fällen von Kapazitätslimiten der Polizei eingesetzt werde. Tatsache ist jedenfalls, dass diese zivil gekleideten Bewaffneten Sandinistas sind.
Mit der Räumung dieser tranques ist ein wichtiges Moment des realen Terrors in Nicaragua entfallen. Viele Rechte haben sich einer Verhaftung mit der Flucht nach Costa Rica entzogen, so sollen sich allein aus dem von tranques besonders heimgesuchten Departement Carazo mindestens 200 tranqueros dort aufhalten. Die rechten Medien sprechen von Flucht vor Ermordung. Tatsache ist, dass es seit dem Ende der tranques zu vier Politmorden kam, drei an Sandinistas, einer an einem Polizisten. Auch der frühere Revolutionsbarde Luis Mejía Godoy gab an, ihm sei aus Sicherheitsgründen zur Flucht geraten worden. Man hört aber auch, der frühere Vizepräsidentschaftskandidat der Partei MRS sei zu einer geplanten Konzerttournee aufgebrochen und habe dies politisch «verschönert».
Die rechten Strassenmobilisierungen sind für den Moment klein geworden; über die Grösse der sandinistischen Aktivitäten (beide Lager mobilisieren unter dem Motto Gerechtigkeit für die Opfer) liegen uns keine zuverlässigen Angaben vor. Allerdings war die 39. Jahresfeier der Revolution von 1979 am 19. Juli ein Grosserfolg für den FSLN. Die Schätzungen gehen von landesweit mehr als einer halben Million Mobilisierten aus.
 
19. Juli 2018 im Städtchen Jinotega
Ungute Tendenzen
Die Frage ist, wie die Regierung und der FSLN nach diesem vorläufigen Sieg vorgehen. Da ist einmal das Riesenproblem der schwer geschädigten Wirtschaft (s. u.). Dann aber verdichten sich negative Anzeichen. Das Motto des 19. Juli - „El comandante se queda“ (er bleibt) - kann man optimistisch als Antwort auf die Forderung nach „Regierungsübergabe sofort“ interpretieren; negativ natürlich als Zeichen, dass sich nichts ändere. Letzteres auch in Bezug auf den FSLN, der zwar als Strömung in der Bevölkerung über enorme Kräfte verfügt, aber unter der autoritären Führung von Rosario Murillo, Vizepräsidentin und Gattin von Daniel Ortega, an realem Innenleben massiv verloren hat. Autoritär scheint die Antwort auch in anderen Bereichen zu sein. So wurde etwa dem (rechten) Sportjournalisten von Radio La Primerísima und einem Kollegen des Ultrasenders Radio Corporación von der Leitung des Baseball-Stadions in Managua der Zutritt zu dieser Einrichtung verboten. Begründung: Sie seien für die aufgrund von verschiedenen Kämpfen am Gebäude entstandenen Schäden mitverantwortlich. (Die rechten Medien stellten das Stadion während Wochen als Hort sandinistischer Scharfschützen dar, deren Kugelregen unbewaffnete DemonstrantInnen während jeweils Stunden friedlich trotzten.) Offenbar liegt gegen beide Reporter nichts weiter vor als Antiregierungskommentare. Das Stadionverbot kommt einem Berufsverbot gleich.
Schlimm ist ein Vorgehen der Polizei in Diriamba, wo sie einen Verhafteten wie im Wildweststreifen kurz an ihren (im Schritttempo) fahrenden Pick-Up gebunden haben. Was immer dem Mann vorgeworfen wird, hier braucht es ein Strafverfahren, die von den Bullen gelieferte Entschuldigung reicht nicht. Andernorts scheint die Polizei behutsam vorzugehen. Aber dieser Vorfall weist auf eine gefährliche Kultur der Straflosigkeit hin. Auch Vorkommnisse wie die Verhaftung letzten Montag des zeitweiligen Rechtsberaters des Episkopats, Carlos Cárdenas, deuten in diese Richtung. Ein Mitglied der vom Parlament ernannten Wahrheitskommission (s. u.) jedenfalls verurteilte diesen Vorfall in scharfen Worten. 
 Der sog. Nationale Dialog ist faktisch gestorben. Ortega hatte am 19. Juli richtigerweise die Komplizenschaft des entscheidenden Teils des Episkopats mit den Regime-Change-Verbrechen gebrandmarkt. Zu dieser Komplizenschaft hatte auch ein vom Episkopat verfügtes On/Off des Dialogs in Übereinstimmung mit den taktischen Bedürfnissen der Kräfte des Regime Change gehört (s. frühere Blog-Einträge). Eine zumindest erweiterte Mediatorengruppe (etwa um den nicht furibund antisandinistischen Ex-Präsidenten von Guatemala, Vinicio Cerezo, Chef des Zentralamerikanischen Integrationssystems SICA) lehnt die Rechte entschieden ab. Es ist unklar, ob das Regierungslager Hand für einen wie auch immer gearteten Kompromiss geboten hätte, der schlicht wiederspiegeln würde, dass beide Kräfte im Land realen Rückhalt haben. Die Rechte dagegen hatte gezeigt, dass für sie nur eine Kapitulation der Regierung zur Debatte stehen konnte.



Wirtschaft …
Die unmittelbaren ökonomischen Folgen der Unruhen sind schlimm, die mittel- und langfristigen können katastrophal sein. Das von der Vizepräsidentin geleitete Portal El 19 Digital resümierte ein paar Angaben des Finanzministers Iván Acosta vor dem Parlament vom 14. August so:

«Bis dato ging die Zahl der Arbeitsgeber um 8'708 zurück (um 25 % im Vergleich zum April); davon 90 % im Bereich der Mikro- und Kleinunternehmen. Der staatliche Sektor erlitt als Folge des Putschismus Schäden in der Höhe von $ 205 Mio., 90 % davon konzentriert auf die Bürgermeisterämter und das MIT (Ministerium für Strassenbau), vor allem an Wagen, Baumaschinen und Gebäuden. Der Tourismussektor erlitt Infrastrukturschäden in der Höhe von $ 277 Mio. und verlor zudem $ 231 Mio. an Einnahmen. Dem Transportsektor (Fracht und Passagiere) entgingen Einnahmen in der Höhe von $ 525 Mio. (wegen von den Todes-tranques verhinderten Arbeiten).»

Das rechte Blatt El Nuevo Diario steuerte gleichentags bei, Finanzminister Acosta habe ausgeführt, dass «119'567 Arbeitsplätze» verloren gingen, «von denen 71'000 Beiträge in die Sozialversicherung gezahlt haben». Und der TV-Sender 89 präzisierte, dass die restlichen fast 50'000 Arbeitslosen bisher Teilbeträge in die Sozialversicherung einbezahlt hatten. Wie viele Jobs im informellen Sektor insgesamt verloren gingen, ist nicht bekannt. Weiter werde projiziert, dass infolge der Krise die Staatseinnahmen um rund 7.5 Mrd. Córdobas zurückgegangen seien, was 9.2 % des bisher geltenden Budgets oder 1.7 % der nationalen Wirtschaftsleistung entspreche (1 USD = ca. 31 Córdobas). Infolgedessen beschloss die Parlamentsmehrheit auf Antrag der Regierung eine Budgetkürzung von rund 87 Mrd. Córdobas auf 81 Mrd. Córdobas, primär im Bereich von geplanten Renovationsprojekten in Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Es werden laut Regierung weder Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor gestrichen noch soziale Dienstleistungen gekürzt.

und Sanktionen
Die Zahlen sind eine Sache. Das Leben der Leute eine andere. Die Zerstörung von Arbeitsplätzen betrifft fast ausschliesslich den nicht-grosskapitalistischen Bereich. Das wird durch ein rasant zunehmendes Sanktionsregime der internationalen Gemeinschaft Washingtons verschärft. Am 18. August durfte La Prensa berichten, laut dem US-Botschafter vor der OAS, Carlos Trujillo, «sind neue Sanktionen am Kommen (…) mit neuen Optionen». Trujillo wird weiter mit der Aussage von «sämtlichen möglichen Sanktionen gegen die Regierung von Nicaragua» zitiert. Im US-Kongress arbeite man an zwei einschlägigen Gesetzesvorschlägen, dem Nica Act von 2017 und dem Nicaragua Human Rights and Anticorruption Act of 2018. Wohin das führt, ist kein Geheimnis.
Am 20. Juli teilte die holländische Regierung mit: «Wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung und parapolizeiliche Gruppen hat die niederländische Regierung die Kooperation mit der Regierung von Nicaragua beim Bau des Spitals in Bilwi, Nicaragua, suspendiert.» Am 21. Juli durfte Confidencial, gestützt auf Aussagen des Aussen- und des Kooperationsministers von Luxemburg berichten, aufgrund der «Gewalteskalation, der Repression und der willkürlichen Verhaftungen» friere das grossherzogliche Steuerparadies seine Kooperation mit Nicaragua ein. Denn diese habe «stets auf dem Respekt der Menschenrechte und der demokratischen Werte» gegründet. Dafür werde Luxemburg, so die Minister, «seine Unterstützung für die Zivilgesellschaft» in Nicaragua stärken. Und es gibt die Verlängerung ins Zivilgesellschaftliche. Die engagierte Tessiner NGO Aiuto Medico al Centroamerica (AMCA) berichtete vor kurzem: „Seit Jahren unterstützt AMCA ein Projekt für Kinder mit Krebs im Spital La Mascota in Managua. Ein privater Verein für die Unterstützung dieser Kinder (eine Art Liga gegen Kinderkrebs) half uns vor allem bei der Finanzierung von Krankenschwestern. Jetzt haben sie ganz eindeutig aus politischen Gründen (es handelt sich um ein Regierungsspital) beschlossen, ihre Hilfe zu stoppen! Wir versuchen, unsere eigenen Hilfsmittel zu erhöhen… Ist das die Zivilgesellschaft, die Nicaragua retten will?“

Keine Verweigerung medizinischer Betreuung
Ein „Argument“ für die Sanktionen ist die Behauptung, die staatlichen Spitäler hätten einzig sandinistische Verletzte behandelt und die oppositionellen abgewiesen. Weswegen Letztere nur ins Privatspital Vivian Pellas hätten gebracht werden können, oft nach langen Odysseen, bei denen immer wieder Verletzte gestorben seien. Wir hörten das nicht nur von den rechten Medien, sondern auch von eigenen Kontakten im Land. Eine Perversion, die uns in Depressionen stürzte – was ist aus dem Sandinismus geworden? Ein zum Naqchdenken anregendes Beispiel für die suggestive Kraft der Manipulation. Die Projektverantwortliche von AMCA in Managua schrieb nach Bekanntwerden des holländischen Stopps der Kooperation beim Bau des Spitals an der Karibikküste:

„Die Situation ist komplex, es hat schwierige Momente gegeben, aber es gab nach allen eingezogenen Auskünften im Gesundheitsministerium, im Silais [speziell auf arme Bevölkerungssegmente ausgerichtete Gesundheitseinrichtungen], im Kinderspital Mascota, im Frauenspital Bertha und im Spital der Stadt Boaco nie eine Hilfeverweigerung. „
„Im Bertha z. B. erklärte mir die Direktorin, haben sie, obwohl kein Allgemeinspital, in Erwartung von vielleicht vielen Verletzten den Notfallbereich ausgeweitet. Das Bertha hat auch für PatientInnen anderer Spitäler Tomographien gemacht. Sie hat mir einen Fall geschildert, wo sie eine Computertomographie für einen aus dem Spital Metropolitano Vivian Pellas überwiesenen Patienten vorbereitet hatten, der aber lange nicht kam. Als er dann kam, erklärte ein Angehöriger, dass sie ihnen im Metropolitano gesagt haben, sie müssten die Ambulanz selber bezahlen, weswegen sie dann mit eigenen Transportmitteln kamen. Sie haben die Tomographie gemacht und den Patienten dann in Begleitung eines Arztes per Ambulanz ins Lenín [Fonseca, weiteres staatliches Spital] gebracht. Einen anderen Fall schilderten sie mir so: Die Ambulanz kam mit zwei Schwerverletzten: einer Person mit Trauma, überwiesen ins Augenspital, und eine für das Bertha angemeldete Schwangere. Die Ambulanz fuhr zuerst zum Bertha, wo die Schwangere aufgenommen wurde, und dann weiter. Die dem Wagen folgenden Angehörigen stoppten die Ambulanz, haben ihren Patienten herausgenommen und ihn vor das Bertha gebracht, wo Dutzende von Leuten die Szene mit Handys filmten und anschliessend in den Social Media und den Medien eine Aufnahmeverweigerung denunzierten.“

Das Vivián Pellas hat im Übrigen einen miserablen Ruf wegen absolut überteuerter Betreuung. Es ist nach der Frau des steinreichen Oligarchen Carlos Pellas benannt. Luxemburg gab am 31. Juli eine verstärkte Kooperation mit der nicaraguanischen Stiftung Aproquen für medizinische Hilfsmittel bekannt. Aproquen wurde von Vivián Pellas gegründet und betreibt eine Station für Verbrennungsopfer im Spital Vivián Pellas.
Auch die vom Parlament eingerichtete Wahrheitskommission (s. u.) äusserte sich am 10. Juli zum Thema Aufnahmeverweigerung:

„Die Kommission konnte ermitteln, dass das Gesundheitsministerium und die [staatliche Sozialversicherung] INSS ausdrücklich Anweisungen für die medizinische Betreuung von Personen erteilten, die die Spitäler [und andere Gesundheitseinrichtungen] aufsuchten. Dies wurde in situ überprüft, ebenso mit der Durchsicht der Listen von hunderten von Namen von in diesen Einrichtungen betreuten Personen.“
„Was die öffentlichen Anschuldigungen über die Aufnahmeverweigerung im Spital Cruz Azul in Managua betrifft, konnten wir verifizieren, dass das Sicherheitspersonal dieses Spitals aus Angst vor den verbalen Drohungen der Ankommenden die Türen nicht aufschloss. Dies ist der einzige von der Kommission identifizierte Fall einer Inkonsistenz zwischen der institutionellen Orientierung für eine allgemeine Betreuung und der individuellen Reaktion eines Mitglieds des Sicherheitspersonals dieses Spitals.“ 

[Dies betrifft den Fall des am 20. April mutmasslich wegen verspäteter Hilfeleistung verstorbenen 15-jährigen Álvaro Conrado.]

„Seinerseits betont der Direktor des Roten Kreuzes: ‚Wir hatten’beim Transport von Verletzten ‚keine Aufnahmeverweigerung des nächstgelegenen öffentlichen oder privaten Spitals oder des Ortes, wohin die transportierten Personen gefahren werden wollten.‘“
„Für die Kommission gab es keine Behinderung des Amulanzdienstes durch das Gesundheitsministerium, was sich auch darauf bezieht, dass 64 Ambulanzen beschädigt wurden, 50 bei Strassensperren und 14 in den Parkings ihrer Gesundheitszentren. Es ist nötig darauf hinzuweisen, dass dies mehr als 20 % des nationalen Ambulanzwagenparks entspricht.“
„Obwohl in den Social Media verbreitet wurde, dass die Bevölkerung wegen möglicher Festnahmen Angst habe, ins Spital zu gehen, stellte die Kommission nicht ein Mal fest, dass betreute Personen der Polizei übergeben worden wären.“


Verschwundene? Gefolterte?
El Chipote wird der grosse Untersuchungsknast in Managua genannt. Ort der extremen Folter, wie uns die Rechte unablässig einzubläuen versucht hatte. Nachdem die Mitglieder der CIDH, der Menschenrechtskommission der OAS, bei ihrem Besuch am 3. Juli in diesem Gefängnis eine Reihe von Gefangenen ausführlich befragt hatten, wie die Delegationsleiterin Antonia Urrejola betonte, verstand man sich von einem Tag auf den anderen auf ein neues Narrativ: nicht mehr, dass die Verhafteten gefoltert, sondern dass sie verschwunden würden. Denn Urrejola hatte festgehalten, dass zwar die Verhafteten zu wenig frische Kleider, Medikamente und Hofgang erhielten, aber: «Wir haben mit mehreren von ihnen gesprochen und die sind den Umständen entsprechend wohlauf.» Von nun verlegte sich die rechte Propaganda auf die bange Frage: «Wo sind sie?».
Nun, am 16. August kritisierte der GIEI, die «Gruppe interdisziplinärer unabhängiger Experten» von OAS/CIDH, die Regierung in scharfen Worten. Der GIEI soll den nicaraguanischen Behörden «helfen», die Untersuchungen zu den Morden im Zusammenhang mit den Tumulten aufzuklären. Die Gruppe schreibt, seit Beginn ihrer Arbeit am 2. Juli versuche sie vergeblich, von den Behörden die Untersuchungsdossiers zu erhalten. Und ruft deshalb «die Regierung von Nicaragua dazu auf, innert kurzem den bedingungslosen Zugang zu den [Dossiers], dem Wiedergutmachungsplan und sonstigen angeforderten Informationen zu gewähren». An ihrer Pressekonferenz wurden die GIEI-Mitglieder auf die - laut den rechten Medien 700 – Verschwundenen angesprochen. Da musste die Sprecherin passen: «Wir haben keine Information zu Verschwundenen», um gleich anzufügen, das heisse nicht, dass es sie nicht gäbe, bloss eben, bis zu ihnen hat es keine Information geschafft. Interessant ist die Antwort auf die Frage einer Journalistin von Radio La Primerísima, ob der GIEI der Einladung der Wahrheitskommission zu einem Treffen und Austausch gefolgt sei. Einladung) Nie bekommen. Und aus eigener Initiative bei der Kommission anklopfen? Der Wissensdurst hatte offenbar seine Grenzen.
Zwei Tage vor dem Protest des GIEI hatte das Oberste Gericht zu einem Streitpunkt Stellung genommen. Es ging um die Prozessbeobachtung im Verfahren wegen des Mordes am Journalisten Ángel Gahona, zu dem CIDH und GIEI Zulass begehrten. Das Gericht erklärte, laut OAS-Übereinkunft müssten ausländische Organisationen für eine Prozessbeobachtung ein Gesuch an das Aussenministerium stellen. Bis dato sei weder von CIDH oder GIEI ein Gesuch eingetroffen. Vielleicht gilt Entsprechendes auch für Dossiereinsicht?

„Lügen, grosse Lügen und Statistiken“
Es gibt das Aufrechnen von Toten: „So viele Tote von meiner Seite, so viele von deiner.“ Zynisch aber auch das systematische Lügen mit falschen Zahlen von Toten zwecks Stimmungsmache (und nicht unschuldig das kritiklose Nachplappern). Das betreiben in Nicaragua auf jeden Fall die dortigen rechten Menschenrechtsorganisationen, die CIDH, Amnesty, Human Rights Watch etc. Vielleicht auch spiegelbildlich die Regierung, doch real gibt es dafür weniger Hinweise. S. dazu auch Kehrt die Tendenz?: Die Überprüfung der Todeslisten der CIDH und nicaraguanischer Organisationen ergab a) den Einbezug in diese Listen von Verkehrstoten, Doppelaufzählungen, an Krankheiten oder wegen Raubüberfällen Gestorbenen etc., und b) vor allem, dass von nachweislich in direktem Zusammenhang mit den Protesten ermordeten je rund die Hälfte den beiden Lagern zuzurechnen ist. Die vom Parlament ernannte Wahrheitskommission, präsidiert vom Befreiungstheologen Molina Oliúm, dem Gründer des bekannten Centro Antonio Valdivieso, hat dieser Tage einen detaillierten Vergleich ihrer eigenen Angaben zu den Ermordeten mit jenen der CIDH und der Episkopat-nahen Organisation ANPDH veröffentlicht. Selber kam die Kommission, gestützt auf Angaben der Untersuchungbehörden, der Medien, der anderen Organisationen und auf eigene Recherchen zum schlimmen Ergebnis von 266 Ermordeten zwischen 18. April und 15. August. Die CIDH gab für den 19. April bis 19. Juni die Zahl von 212 an, die ANPDH kam für die Periode vom 19. April bis 25. Juli auf 448 Tote. Die Kommission kritisiert bei der CIDH den Einbezug von nicht im Zusammenhang mit dem Konflikt gestorbenen 34 Menschen, weitere 10 Duplikaten sowie 13 Personen, zu den sich nirgends staatliche Angaben (Gerichtsmedizin, Spitäler etc.) finden lassen. Die Übereinstimmung mit der ANPDH betrifft 233 der angeführten 448 Fälle. Kommissionsmitglied Cairo Amador betonte an der Pressekonferenz den provisorischen Charakter auch ihres Berichts. Er erwähnte die Einsicht Mark Twains von den drei Sorten von Lügen: „Lügen, grosse Lügen und Statistiken.“ Es brauche einen Abgleich der „benutzten Methodologie und Kriterien“. Interessant wäre auch ein Vergleich der Befunde der Wahrheitskommission mit jenen der Regierung, die für die Zeit vom 19. April bis 25. Juli 197 Morde erfasst. Eine wichtige Differenz von 69 Ermordeten, von der sich nur wenige Fälle mit der von der Kommission untersuchten längeren Periode erklären lassen. 
Mitglieder der Wahrheitskommission.
 Am 10. Juli hatte die Wahrheitskommission einen ersten Bericht veröffentlicht. Darin schrieb sie: „In der untersuchten Periode [18. April bis 4. Juli) ist ein konstanter Anstieg von Gestorbenen zu verzeichnen, die grösste Anzahl zwischen den Massenanlässen. Ab dem 30. Juli lässt sich eine Zunahme beobachten, die mit dem Aufbau der Strassensperren (…) und ihrer späteren Räumung zusammenfällt“ (s. 7). Diese Sperren „wurden zu Szenarien vielfacher Menschenrechtsverletzungen [… die] grossmehrheitlich von Personen beschützt wurden, die verschiedene Typen von Schusswaffen trugen, sowohl nachgebaute wie industriell angefertigte. Der Einsatz der von Schockgruppen begleiteten Ordnungskräfte haben die Todeszahlen in klarer Verletzung der Menschenrechte noch weiter erhöht. Die Kommission hat 108 aufgrund der Strassensperre gestorbene Personen registriert. Sie hat auch viele Anklagen erhalten wegen Folter, Erniedrigungen, sexueller Gewalt, Todesfällen wegen der Verhinderung von Krankentransporten und Unterversorgung in verschiedenen Landesteilen erhalten. Ebenso wegen Teuerung der Grundbedarfsartikel, schulischem und Arbeitsabsentismus“ (s. 14/15).

„Die Kommission ist besorgt wegen der [Misshandlungs-] Anklagen von Bürgern beider Seiten (…) wir haben eine anhaltende Gewalt beobachtet, die Praxis der Entführung als Moment, um Unsicherheit zu schaffen und die Opfer mit Schlägen, Knochenbrüchen, Geisselungen, Verbrennungen mit chemischen Substanzen, Vergewaltigungen oder Verbrennungen bei lebendigem Leib bis zum Tod zu foltern. Die Kommission erkannte, dass diese Handlungen mehrheitlich in Gegenden mit Strassensperren und Protesten erfolgten, vor allem gerichtet gegen staatliche Funktionäre und Personen aus dem Regierungslager“ (s. 28).

Interessanterweise spricht sich die Kommission auch für die Umsetzung der von der Regierung mit der OAS ausgehandelten Schritte hin zu einer Wahlreform (s. 59) und der 15 Forderungen der CIDH vom letzten Mai bzgl. restlose Aufklärung der Morde aus.