Kolonialismus verdrängen?

Donnerstag, 7. August 2025

 

(zas, 7.8.25) Man wiederholt uns: Im Kolonialismus gab es in jenen verflossenen Zeiten, als es ihn gab, Schatten und Licht. Doch heute? - vorbei ist vorbei!

Die Journalistin Beatrice Achtermann von der Deutschland-Staffel der NZZ geht deshalb vom Heutigen aus. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes störe die EU-Ansätze für «beschleunigte Asylverfahren» zwecks Abschiebung in «sichere Herkunftsländer», konstatiert sie ungehalten. («Beschleunigte Asylverfahren» - häufig Slang für Morden weit weg). Sie weiss: «Das Leben ist eine Lotterie. Wo man geboren wird, ob in Krieg oder Frieden, kann man nicht entscheiden. Könnte ein Mensch vor der Geburt selbst bestimmen, auf welchem Kontinent er zur Welt kommt, würden sich wohl viele für Europa entscheiden. Der hohe Lebensstandard, der breite Bildungszugang und die politische Stabilität demokratischer Staaten bieten zwar keine Garantie, jedoch die beste aller Chancen für ein gutes Leben. Doch jedes Glücksspiel kennt auch Verlierer.»

Ein paar Jahrhunderte kolonialer Zerstörung, fortgeführt bis heute, tun nichts zur Sache. Ist alles Glücksspiel. Hurra Europa! Anderswo halt Armut, Repression, Krieg, Klima. Doch es «gibt kein universales Recht auf eine freie Wahl des Wohnortes.» Denn so was würde «Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und sozialen Ausgleich» in Europa bedrohen.

Dies «ignorieren» die Richter mit ihrem Urteil, wonach Zackzack-Abschiebungen nur in jene Herkunftsländer gestattet sind, wo «der Staat der gesamten Bevölkerung Schutz bietet (…) Doch final zu beweisen, dass ein Land für alle seine Bevölkerungsgruppen sicher ist, ist unmöglich.» Halt.

 «Die Lotterie des Lebens», erfahren wir, produziert Benachteiligte ohne Zugangsrecht zu Bevorteilten.

Hoffnung winkt der Journalistin dank der für nächstes Jahr geplanten Verschärfung des EU-Asylrechts. Doch da vorerst noch «supranationale Gerichte die Gesetze von Nationalstaaten» als ihre «Verfügungsmasse» behandeln, bleibt «Regierungschefs, die (…) die Wähler ernst nehmen wollen, im Zweifel nichts anderes übrig, als die Gesetze zurechtzubiegen oder den EuGH ganz zu ignorieren.» So wie Donald Trump oder Giorgia Meloni, schreibt die Komplizin.

 

Französische Eigenheiten in Afrika

Moderater, aber ebenfalls geschichtsresistent, ein Beitrag vorgestern im Nachrichtenmagazin Echo der Zeit. Da geht es um Eigenheiten afrikanischer Gerontokraten, die nicht von der Präsidentschaft lassen können. Konkret um Alassane Outtara (83) von Côte d’Ivoire und Paul Biya (92) von Kamerun. Ouattara, früher beim IWF, hat als Finanzminister die Lebensbedingungen der Leute vermiest und war jahrzehntelang ein Joujou des Élysée. 2010 /11 konnte er dank Paris seinen Rivalen Gbabgo ausbooten. 3000 Menschen waren dabei gestorben. Die Medien frohlockten. Vordergründig ging es um einen Wahlbetrug Gbagbos, jener von Outtara war no news im imperialen Mainstream.

Zu Kamerun geht der Afrikakorrespondent in die Tiefe: Zwar gebe es Opposition, aber sehr viele Menschen seien unter der Präsidentschaft Biya geboren worden und könnten sich wohl keinen anderen Präsidenten vorstellen. Tja. Vor lauter Tiefsinn vergisst der Afrikakorrespondent ein Wort: Frankreich. Eine von jacobin.com publizierte Passage aus dem Buch The Cameroon War: a History of French Neocolonialism in Africa[1] hilft weiter. Paul Biya war unter Ahmadou Abidjo Premier und ab 1982 dessen «direkter Erbe» als Präsident. 1960 waren Kamerun «unabhängig » und Abidjo von Frankreich zum Präsidenten gemacht worden. Vorausgegangen waren 20 Jahre eines Massakers, von dem Frankreich offiziell erst seit Hollande etwas schwant. Eine von Macron eingesetzte bilaterale Kommission wiederholte kamerunische Erkenntnisse: «Frankreich führte wirklich ‘Krieg’, verursachte tausende von Toten und wandte die gleichen Taktiken wie in Algerien an: Folter, Bombardierungen, Wehrdörfer, politische Morde, psychologische Kriegsführung und so weiter.»


 

Man spricht von einer guerre cachée, einem versteckten Krieg. Wir lesen: «Die US-Historikerin Caroline Elkins bezieht sich auf das Schweigen, das auf die britische Repression der Mau-Mau-Bewegung in Kenia folgte, als ‘staatlich durchgesetzte Amnesie’. Dieser Begriff lässt sich auch auf Kamerun anwenden: Alles wurde so gemacht, dass dieser unsichtbare Krieg nie die offizielle französische Erinnerung heimsuchen sollte.» (Somit auch nicht die aufgeklärter Medienschaffender.)

Auch diese Autoren reden von der jungen Generation in Kamerun. Nur anders als der Korrespondent. Die «Jugend verliert das Interesse an früheren Kolonialmächten». Zusammen mit anderen Kräften «erfindet sie neue Weisen des Lebens, des Kampfes und des Widerstandes.» Und nicht vergessen: «Kamerun, dessen englisch-sprachige Regionen während fast zehn Jahren die Szene eines blutigen bewaffneten Konflikts waren, steht an der Schwelle einer neuen Explosion.»

Dessen sei man sich in Frankreich angesichts des Machtverlusts in der westlichen Sahelzone (Mali, Niger, Tschad, Senegal) bewusst. In Paris «wissen sie, dass angesichts ihres langen Schweigens über ihre eigenen Handlungen und jene der von ihnen an die Macht gehievten Françafrique-Regimes ein reales Risiko besteht, als erste zum Ziel in einer kamerunischen Revolte zu werden.»

Die Autoren fragen: «Wie können wir das postkoloniale Kamerun verstehen, wenn wir die Tatsache übersehen, dass es durch Krieg geboren wurde?» Das müsste der Korrespondent beantworten. Vielleicht schwant ihm, dass Paris sich vom Outtaras und Biyas verabschieden muss.

 

Und der Kampf gegen den Jihadismus?

Aber kämpfen heute nicht westliche Militärs gegen jihadistische Horden, die Afrika zu überrollen drohen?

Nick Turse von The Intercept hat dazu Interessantes beim Pentagon-Thinktank Africa Center for Strategic Studies gefunden.  Er schreibt: «Ein neuer Pentagon-Bericht bietet die bisher düsterste Bewertung der Ergebnisse der letzten zehn Jahre von US-Militäreinsätzen im Kontinent.»  So etwa, dass «Afrika im letzten Jahrzehnt rund 155'000 Tote im Zusammenhang mit islamistischen Gruppen verzeichnete.» Turse zitiert Stephanie Savelli, Leiterin des Cost of War Project an der Brown University: «Was viele Leute nicht wissen, ist, dass die US-Post-9/11-Antiterror-Aktionen tatsächlich zur heutigen Krise und zum Anstieg von mit Gewalt verbundenen Todesfällen in der Sahelzone und in Somalia beigetragen und sie verschärft haben.» Denn die USA haben die Regierungen von Ländern wie Burkina Faso und Niger, die heute die höchsten Todesraten haben, mit Dutzenden von Millionen Dollars für Waffen und Ausbildung unterstützt. «In diesen frühen kritischen Jahren», fährt die Frau weiter, «haben diese Regierungen den Strom von US-Militärhilfen, Waffen und Ausbildung dazu benutzt, marginalisierte Gruppen innerhalb ihrer eigenen Grenzen anzugreifen, was den Zyklus der Gewalt mit seinem verheerenden menschlichen Zoll, den wir jetzt sehen, intensiviert hat.» Schade, haben das die Amis nicht bemerkt.

Turse schreibt: «2002 und 2003 begannen die USA ihren jahrzehntelangen Effort, Milliarden Dollars für die Sicherheitshilfe auszugeben, Tausende von afrikanischen Militärs auszubilden, Dutzende von Aussenposten aufzustellen, eigene Kommandos auf breit gefächerte Missionen zu schicken, Stellvertreterstreitkräfte aufzubauen, Drohnenangriffe zu starten und sogar Bodenkämpfe mit Militanten in Afrika zu führen. In diesen Jahren zählte das State Department insgesamt nur neun Terroranschläge, die auf dem gesamten Kontinent insgesamt 23 Opfer forderten. Im vergangenen Jahr gab es in Afrika 22’307 Todesopfer durch militante islamistische Gewalt. Dies entspricht einem Anstieg von fast 97’000 Prozent. Somalia und die Sahelzone waren von den schlimmsten Gewalttaten betroffen.»

Die Parallele zum US-«Drogenkrieg» in Lateinamerika springt ins Auge. Er brachte in Mexiko oder Kolumbien eine unerträgliche Gewaltorgie. Heute exportiert Washington das Erfolgsrezept in weitere Länder. Same old murder story.

 

Ein Kommentar, eine Tradition

Am 2. August berichtete die Washington Post von 60'000 Tonnen US-Nahrungsmitteln, die aufgrund von Budgetkürzungen in Lagerhäusern in den USA oder anderen Ländern verrotten. Das betrifft Volksküchen in den USA ebenso wie etwa das UNO-Welternährungsprogramm WFP, da die Mittel für den Transport gestrichen sind. Davon sind allein im Flüchtlingslager Cox’s Bazar in Bangladesch eine Million Rohyngyas betroffen. Nämlich so: «UNICEF warnte, dass etwa 15 Prozent der 500'000 Kinder schon unterernährt sind (…) Community-Leader Shamsul Alan schlug sich mit der Information herum, dass das WFP keine Essenscheine mehr für Kinder bis sechs Monate verteilen werde. Eine weitere Initiative, die für Kinder in hoch vulnerablen Haushalten pro Monat $ 3 für frisches Gemüse bereitstellte, soll beendet werden.»

Meinte Alam: «Die internationale Gemeinschaft soll weitergehen und uns umbringen, wenn sie uns nicht ernähren kann.»

Was die Post natürlich nicht erwähnt: Seit vielen Jahrzehnten gehört es zu den Politikpfeilern in Washington, die halbe Welt von US-Nahrungsmitteln abhängig zu machen (mit Nahrungshilfe als Notpflaster). Das fordert Trump gerade wieder von Indien. Er folgt der Tradition.



[1] Original: Kamerun! – une guerre cachée aux origines de la Françafrique des Kameruner Historikers Jacob Tatsitsa und der französischen Autoren Thomas Deltombe und Manuel Dolmergue.