Mexiko/Permanentes Völkertribunal: der gelüftete Schleier

Sonntag, 30. November 2014




Silvia Ribeiro*


Daniel Feierstein, Mitarbeiter des argentinischen Centro de Estudios sobre Genocidio und der Jury der Schlussverhandlung des  Permanenten Völkertribunals, Kapitel Mexiko (Tribunal Permanente de los Pueblos,TPP), äusserte angesichts der dem Tribunal vorgelegten Tatsachen, dass sie in anderen Ländern schon Fälle von Folter, aussergerichtlichen Hinrichtungen, gewaltsamem Verschwindenlassen, Politmorden, Vergewaltigungen, Repression von Bewegungen und hohem Grad von Straflosigkeit analysieren mussten … aber stets bei Diktaturen. Mexiko, fügte er an, ist das einzige Land, wo all dies unter der Demokratie geschieht.
Das Massaker der Studierenden von Ayotzinapa und die von Empörung und Solidarität getragene Reaktion im ganzen Land und weltweit lüftet unwiderruflich den Schleier und wirft ein Schlaglicht auf eine harte Realität (s. Mexiko/Ayotzinapa: Die Schrift an der Wand und Mexiko: Das Massaker in Iguala). Alles, was das Tribunal während drei arbeitsintensiven Jahren dokumentiert hatte, kondensierte sich in ein paar Stunden der Barbarei in Iguala, schreibt die Jury in der Einleitung zu ihrem Urteil vom 15. November 2014. In diesem Reich der Straflosigkeit, das Mexiko heute ist, gibt es Morde ohne Mörder, Folter ohne Folterer, sexuelle Gewalt ohne Täter – ein permanentes Abwälzen von Verantwortung, bei dem anscheinend abertausende von Massakern, Morden und systematischen Verletzungen der Rechte der Völker stets isolierte Einzelfälle oder marginale Momente sind, und nicht reale Verbrechen, für die der Staat die Verantwortung trägt.
Drei Jahre Verfahrensdauer, über tausend beteiligte soziale Bewegungen und Organisationen, Dutzende von Foren und Vorbereitungsworkshops der Sessionen im ganzen Land erbrachten, systematisierten und dokumentierten über 500 Fälle von Verletzungen des Völkerrechts: Gewalt gegen MigrantInnen, ArbeiterInnen, Medienarbeitende, Junge, Feminizide und andere Formen der sexistischen Gewalt, Umweltzerstörung, Gewalt gegen die Völker des Mais und die Ernährungssouveränität, Angriffe auf das Erziehungswesen und die Lehrpersonen, schmutziger Krieg mit seinem Schatten auf das Heute, Enteignungen, Massaker und Kriege, die kein Ende haben und die sozialen Bewegungen mit Repression überziehen. Und über all dem ein Tuch der Legalität und Straflosigkeit.

*aus TPP: el velo rasgado La Jornada, 29.11.14
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(zas) Soviel aus dem Artikel von Silvia Ribeiro. Die Autorin ist Lateinamerika-Direktorin der vorallem in Lateinamerika, Asien und Afrika arbeitenden ETC Group, die sich als Ziel u. a. die „Erhaltung und nachhaltige Förderung von kultureller und ökologischer Diversität und Menschenrechten“ (etcgroup.org)  setzt. Ribeiro beschreibt im Artikel weiter die minutiöse Arbeit des TPP in Mexiko seit 2011, seine Unterstützung etwa durch Personal des Internationale Strafgerichtshofs und sein Urteil, das mexikanische Regierungen bis zur heutigen von Präsident Enrique Peña Nieto wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Peña Nieto galt dem Medienmainstream gerade noch als ein Wunder an Reformkraft, als einer, der Mexiko von seinem „Reformstau“ befreie, während er heute wegen seiner offensichtlichen Versuche bzw. deren Scheitern, das Massaker von Ayotzinapa zu marginalisieren, als inkompetent abgehandelt wird. „Einen Präsidenten wie den mexikanischen wünschen sich viele Lateinamerikaner. Er ist jung, dynamisch und scheut sich nicht, Tabus zu brechen … Mäuschenstill war es im Saal, als der Rockstar der lateinamerikanischen Politszene, der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto, am World Economic Forum in Panama seine Reformagenda entblätterte“ (NZZ. 14.4.14: Mexiko setzt zum Sprung an,Autor: Richard Bauer).
Erinnern wir uns an die transnationalen Medienelogen zur Privatisierung des mexikanischen Öls oder zur neoliberalen Konterreform im Erziehungswesen, die als Aufräumen mit alteingesessenen Gewerkschaftskartellen präsentiert wurde. Im Visier standen dabei solche Dinge wie die Escuelas Normales Rurales, LehrerInnenseminare, zu denen die Schule von Ayotzinapa gehört: Eingeführt noch unter dem Einfluss der mexikanischen Revolution, stellten sie eine Möglichkeit für „marginalisierte“ Indígenas dar, im Erziehungsbereich aktiv zu werden. Seit ihrer Gründung sind sie Angriffsziele der Reaktion, gelten sie als Horte der Guerillas, der Subversion. Wegen solcher Dinge muss das TPP „Angriffe auf das Erziehungswesen und die Lehrpersonen“ untersuchen. „Ayotzinapa“ muss mitdenken, wer sich für die Konterreform im Unterrichtswesen begeistert.
Von alldem auch heute nicht der Hauch einer Ahnung beim Medienchor, der seine Lobeslitanei auf die „Reformen“ zwischendurch – wie jetzt angesichts des Widerstands gegen „Ayotzinapa“ - kurz aussetzen muss, damit ihr Zusammenhang mit der Logik des Massakers nicht zu offensichtlich werde oder gar ihm selbst dämmere.