Brasilien: Putschisten unter Talaren

Montag, 16. Mai 2016




Carta Maior, 13. Mai 2016: O golpe usou a toga
Maria Inês Nassif ist eine bekannte brasilianische Kolumnistin, die früher im Wirtschaftsblatt Valor Econômico publiziert hat und heute im Portal Carta Abierta engagiert ist. 2012 wurde sie Beraterin von Lula.In diesem Artikel beleuchtet sie Strukturen einer seit Jahren zum „kalten Putsch“ strebenden Justiz. Und sie geht darauf ein, wie eine „unerklärliche Naivität“ des PT der Reaktion in die Hände spielte.

Putschisten unter Talaren
Maria Inês Nassif

Maria Inês Nassif
Die Strategie des institutionellen Putschs unter aktiver Beteiligung des „niederen Klerus“[1] und der Justiz (dem erstinstanzlichen Richter Sérgio Moro[2] und dem Obersten Gericht, Sistema de Tribunal Federal oder STF) begann, propagandistisch begleitet von den traditionellen Medien (wie TV Globo), mit dem sogenannten Mensalão-Skandal Form anzunehmen. Ein Jahr vor den Wahlen, die Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ein zweites Mandat brachten, wurde das Land von Enthüllungen erschüttert. Danach habe der PT bei den vergangenen Gemeindewahlen Geld, das durch doppelte Buchführung von Unternehmen versteckt worden sei, zur Bezahlung von eigenen Wahlkampfschulden und solchen der Bündnispartner gebraucht. Der Schatzmeister der Partei, Delúbio Soares, hatte dafür mit Unternehmern und einer Waschanstalt, der Werbeagentur DNA von Marcos Valério, zusammengespannt.  Bis dahin hatte DNA für die [Rechtspartei] PSDB in Minas operiert. Delubio legte ein Geständnis ab. 
Preisverleihung des Mediengiganten Globo an Richter Moro (M.), März 2015.  Quelle: brasil247.com
 Anlässlich dieser Angelegenheit –doppelte Buchführung zugunsten einer Regierungspartei und Entgegennahme von Geschenken im Austausch für Gefälligkeiten – kam es zur grössten institutionellen Offensive gegen eine politische Partei in der demokratischen Periode des Landes. Die ganze traditionelle Medienmaschinerie diente dazu, mit Tatsachenüberhöhung oder Fälschung zu beweisen, dass die Regierung Lula korrupt sei und – Gipfel der Ironie! – die Alliierten korrumpiere, die Parteien PMDB, PTB, PP und PR, um so für sich parlamentarische Mehrheiten zu garantieren. Der Begriff mensalão[3] entsprang einem guten Marketing, um einen Skandal der doppelten Buchführung, in den alle Parteien involviert waren (die Waschanstalt von Marcos Valério kannte diesbezüglich keine ideologischen Grenzen), in einen speziellen PT-Korruptionsmodus zwecks Parlamentarierkauf zu transformieren. Dies, ohne dass je eine regelmässige Zahlung an verbündete Abgeordnete oder SenatorInnen bewiesen worden wäre.
Damit das Geld aus der doppelten Buchführung als Korruption taxiert werden konnte, war der Nachweis erforderlich, dass es aus öffentlichen Safes stammte. Die Staatsanwaltschaft wurde damals von Antônio Fernando de Souza geleitet. Er ist heute Rechtsanwalt des verspätet von seinem Amt als Präsident der Abgeordnetenkammer enthobenen Eduardo Cunha[4]. Er erfand eine fiktive Story über den Präsidenten des Banco do Brasil, Henrique Pizzalato, und abgezweigten Geldern des Unternehmens Visanet. Das Geld von Visanet, die zur internationalen Visa-Gruppe gehört, wurde vom höchsten Gericht des Landes in seinem Urteil zu Unrecht als aus Abzweigungen aus dem staatlichen Banco do Brasil stammend behandelt. Dieses Gericht durfte sich keinen Fehler dieses Ausmasses leisten. Pizzalato war nicht Einzelunterschrift-berechtigt. Der von Souza vorgetragene und von Richter Joaquim Barbosa vom Obersten Gericht STF akzeptierte „Beweis“ gegen Pizzalato war von drei weiteren Personen unterschrieben und wurde einem Komitee und danach der Bankleitung  vorgelegt – insgesamt mehr als zehn Personen segneten die Aktion ab. Hätte Pizzalato Geld abgezweigt, hätte er mehr als zehn Komplizen haben müssen, überdies handelte es sich um privates Geld, nicht um staatliche Mittel des Banco do Brasil.
Das Oberste Gericht STF richtete medienwirksam am Tag vor den Wahlen 2014 über den Fall und beging dabei beispielslose juristische Barbareien. Der vom STF mit der Darstellung des Falls beauftragte Richter Joaquím Barbosa wandelte die Entnahme von Geldern aus der doppelten Buchführung in einen Diebstahl von Staatsgeldern um und ordnete für die Beweise, dass die fraglichen Mittel definitiv nicht aus dem Banco do Brasil stammten, ein anderes Verfahren an. Schliesslich verhängte er die Geheimhaltung über das Verfahren. Nicht einmal die Anwälte der Verteidigung hatten Zugang zu den Beweisstücken. Sie hatten auch keinen Zugang zu den Beweisen über die Herkunft der von Marcos Valério gewaschenen Gelder, also der von einem an Regierungsentscheiden interessierten Unternehmer an Bündnisparteien weitergeleiteten Mitteln. (Regierungentscheide, die nicht zustande kamen, auch dank der Opposition des Ministers José Dirceu, der ohne Beweise verurteilt worden war.)
Mit einer öffentlichen Meinung, geformt von einer neun Jahre anhaltenden täglichen Kampagne, legitimierte der STF seinen Entscheid, die Schlussfolgerungen von Barbosa gutzuheissen, unter Verwendung des seltsamen Instruments des dominio do fato[5]. Dies lieferte den Vorwand, auf die Strasse zu hören und die von der Staatsanwaltschaft und der erstinstanzlichen Behörde in den nächsten drei Jahren der Operation Lava Jato angewandten Monstruositäten zu akzeptieren.
Der STF wandelte ein Buchführungsverbrechen ohne Beweise in ein Verbrechen der Korruption, der Bandenbildung etc. um. Von den verurteilten Beschuldigten haben einige Verbrechen begangen, aber nicht die, für die sie verurteilt worden sind; andere waren komplett unschuldig. Wenige wurden für effektiv begangene Verbrechen verurteilt. Die Agentur ADN wurde als Waschanstalt für den PT und mit ihm verbündete Parteien verurteilt, aber spät für den mensalão des PSDB verantwortlich gemacht (was alle Involvierten bis zur Verjährung auf freiem Fuss belässt, während die vom PT dafür ins Gefängnis kamen). Der Abgeordnete José Genoíno, damals Präsident des PT, wurde für ein real von der Partei getätigtes und fristgerecht zurückbezahltes Darlehen gefangen. Dirceu wurde zum nationalen Bösewicht erkoren und ohne Beweis eingekerkert und erneut unter Lava Jato eingekerkert. Und Pizzalato erleidet nach einer sensationellen Flucht Haft wegen einer zusammen mit einem zehnköpfigen Komitee autorisierten Werbekampagne des Banco do Brasil für Visa International.

Unerklärliche Naivität des PT
Seither sind die Bundesstaatsanwaltschaft und das Oberste Gericht zentrale Bestandteile der Kampagnen gegen die PT-Regierungen. Diese begannen 2005 und endeten mit dem institutionellen Putsch von 2016. Eduardo Cunha und Michel Temer würden ohne die Komplizenschaft dieser beiden Institutionen und die unerklärliche Naivität des PT nicht existieren: Dieselbe Partei, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt entschloss, mit den Waffen der traditionellen Politik zu spielen, auf der Suche nach Geld via doppelte Buchführung zwecks Finanzierung von Wahlkampagnen, begriff die Natur der Elite nicht, die sie finanzierte. Sie begriff nicht die Unmöglichkeit einer Übereinkunft mit traditioneller Politik und Institutionen mit konservativer Berufung, die ihr konservatives und korporatives Profil auch nicht ändern, wenn ihre Mitglieder mehrheitlich von PT-Regierungen gewählt werden. Der PT begriff nicht, dass er auf institutioneller Ebene mit ihren Chips spielte, in einer Politik der Klassenversöhnung in einem Rahmen, in dem die eigene Regierungspolitik die Basis für einen verschärften Klassenkampf legte. Dieser wurde offensichtlich, als der Putsch sein Gesicht zu zeigen begann.
Dieser Widerspruch war den PT-Regierungen inhärent. Präsidentin Dilma Rousseff gewann die Wahlen 2014 im zweiten Durchgang, weil sich die linken Kräfte zuvor noch hinter sie gestellt hatten. Es war eine Antwort auf die rechte Welle, die die vom STF während der Gemeindewahlen 2012 durchgeführte politische Aburteilung des mensalão ausnutzte. Ihr mediales und juristisches Gefängnisspektakel dauerte bis 2013, als schon die Kampagne für die Wiederwahl von Präsidentin Dilma in die Gänge kam. Medial wurde die Kampagne durch den Auftritt des erstinstanzlichen Richters Sérgio Moro gestärkt, der die 2013 vom STF gewährten Rechtsfreiheiten dafür nutzte, ein eigenes Politgericht zu veranstalten und den PT einzukreisen. Dafür diente das Korruptionsschema in Petrobras, das – es reicht, die mit Strafminderung belohnten Aussagen genau zu lesen – im Unternehmen verwurzelt war und in den Vorständen, die von den mit den PT-Regierungen ab 2002 verbündeten Parteien beschützt wurden, beibehalten wurde. Genau wie früher von den Regierungen des PSDB und des PMDB und der von Collor.
Die „Massaker“ erfolgen schon seit elf Jahren, stets nach äusserst ähnlichem Muster. Die Staatsanwaltschaft entdeckt irgendeinen Skandal und beginnt zu ermitteln und Beweisstücke einseitig auszulegen. Ohne Grundlage für eine Einvernahme würfelt sie in einem Presseorgan los, das von einem grossen Skandal spricht und dabei unterschlägt, dass keine Beweise existieren. Das auf eigenen Leaks basierende Medienmaterial nimmt die Bundesstaatsanwaltschaft zum Anlass , beim Richter – bei Moro, beim STF oder sonst wem – ein formelles Ermittlungsverfahren zu beantragen. Bei Moro folgt dann Gefängnis ohne gesetzliche Grundlage und Zwang zur belohnten Aussage gegen andere. Youtube  ist voll von Aufzeichnungen von Moro-Verhören, in denen er klar macht, dass der Angeklagte – meist ein betagter Mensch mit Gesundheitsproblemen – freikommt, sobald er andere belastet.  In einem politischen Lager gibt es für Moro keine Unschuldigen.  Im anderen lässt er Milde walten.
Nichts rechtfertigt, dass ein Richter eines Ausnahmetribunals in einer Demokratie mit grossen Vollmachten überlebt, über jene hinaus, die ihm die Verfassung gewährt. Moro existiert und macht, was er will, weil die Justiz parteiisch ist. Moro würde ohne einen ihm voraus gegangenen Barbosa nicht existieren. Moro würde ohne einen Richter Gilmar Mendes nicht existieren, der ungestraft das Oberste Bundesgericht (STF) und das Oberste Wahlgericht (TSE) zu Tribünen gegen die PT-Regierungen machte. Er würde ohne einen Richter Dias Toffoli nicht existieren, der zum Laufburschen von Mendes wurde; ohne die Lauheit der beiden Frauen im Obersten Gericht; ohne die konservative ideologische Ausrichtung von Teori Zavascki (die sein eigenes juristisches Unterscheidungsvermögen kontaminiert); ohne die falsche juristische Objektivität eines Celso Melo; ohne die Schlaffheit eines Edson Fachin; ohne die exzessive Ängstlichkeit eines Ricardo Lewandowski. Die Justiz verhinderte den Putsch nicht, weil sie Teil von ihm ist. Die Staatsanwaltschaft reagiert nicht auf den Putsch, weil sei zu seinen Verschwörern gehört.
Richter Gilmar Mendes und Putschpräsident Michel Temer. Quelle: Carta Maior.





[1] Bezeichnung für einen grossen, primär am persönlichen Eigennutz orientierten Haufen ParlamentarierInnen.
[3] Der Begriff suggeriert monatliche Zahlungen.
[4] Eine treibende Kraft im Putsch gegen Dilma Rousseff.
[5] „Tatherrschaft“: Untergeordnete werden von hierarchisch höher Gestellten zur Deliktbegehung gezwungen