Venezuela: Widerstand gegen die Intervention

Dienstag, 5. Januar 2021

 

(zas, 5.1.21) Das argentinische Linksportal El cohete a la luna veröffentlichte ein Gespräch mit dem venezolanischen Aussenminister Jorge Arreaza, das María Clara Albisu und Santiago Mayor mit ihm geführt haben. Auszüge daraus.

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Bei den Parlamentswahlen vom 6. Dezember erzielte das chavistische Bündnis Gran Polo Patriótico einen deutlichen Sieg. Aber es waren Wahlen mit einem Boykott durch einen Teil der rechten Opposition und mit einer Wahlbeteiligung von 31 Prozent, weniger als bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Wie sehen Sie diesen Sieg in diesem Zusammenhang?

Für uns ist das wirklich ein heroischer Sieg, denn unser Land steht unter permanenter Belagerung, von aussen, aber auch von innen. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit um eine einzige Kraft mit sowohl externem wie internem Gesicht. Aber trotz ihrer ausserordentlichen Kapazitäten konnte sie ein Volk nicht besiegen, das noch ausserordentlicher ist.

(…)

Die Frage der Wahlbeteiligung betrifft viele Aspekte. Vor der Bolivarischen Revolution gab es in den 90-er Jahren Wahlen mit kaum 20 Prozent Beteiligung. Das hat sich mit der revolutionären Dynamik verändert und wir hatten Präsidentschaftswahlen mit mehr als 70 % Beteiligung.

Gemeinde- und Regionalwahlen wiesen immer eine geringere Beteiligung auf, besonders Parlamentswahlen. Ziehen wir zudem in Betracht, dass wir ein angegriffenes Land sind; dass es im Moment schwierig ist, an Benzin zu kommen (wir werden das in den kommenden Monaten lösen); dass es einen Boykott gab und dass der Gegner nicht gerade stark war. Eine neue Opposition hat sich eingetragen, die versucht, emporzukommen. Aber sie provoziert noch nicht genug Leidenschaft und Polarisierung, die einen chavistischen Wähler motivieren würde, Benzin aufzutreiben und zur Wahl zu fahren.

2005 – es gab damals keinen Angriff, keine Blockade, keine Sanktionen, aber Benzin – boykottierte die Opposition die Wahlen, und es gab eine Beteiligung von 25 Prozent. Aber im folgenden Jahr gewann Chávez die Präsidentschaft mit 63 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von über 80 Prozent.

 

Es gibt also eine aufstrebende Opposition und eine im Ausland bekanntere, die die Wahlen boykottiert hat und entschlossen ist, die Differenzen nicht über Wahlen zu klären. Wie beabsichtigt die Regierung, die Beziehungen mit diesen Kräften zu gestalten?

Wir stehen in dauerndem Dialog mit all diesen Sektoren. Dieses Jahr hat sich Präsident Maduro zweimal mit den Sprechern der Opposition in ihrer ganzen Bandbreite getroffen, von einem Vertreter von Juan Guaido bis zu jenen, die an den Wahlen teilgenommen haben.

Dabei kam es zu einer Übereinkunft für die Wahlteilnahme, nachdem unser Delegationschef und Kommunikationsminister Jorge Rodríguez sich ohne zu übertreiben mehr als 40 Mal mit den verschiedenen Oppositionsgruppen getroffen hatte, daunter auch die extremistische Opposition mit Volutad Popular, Acción Democrática, Primero Justicia, Un Nuevo Tiempo.

Die erzielten Vereinbarungen wurden aber später gegenstandslos, da diese extremistische Opposition sehr von Washington bestimmt wird. So kam es dann nur noch mit denen, wo es möglich war, zu Übereinkünften, teilweise unterstützt von Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Aussenpolitik. Dazu gehörte auch eine Reihe von Begnadigungen, die in unserer Basis wichtige politische Kosten zeitigten. Die Leute freuten sich gar nicht über den totalen Straferlass für die, die versucht hatten, den Präsidenten zu ermorden, die den Putschversuch vom 30. April 2019 geleitet hatten oder versucht hatten, das Land in Brand zu setzen.

Nun, man war zu einer Übereinkunft gelangt. Präsident Maduro kam ihr nach, und der damals noch verhandelnde Teil der traditionellen Opposition wie Primero Justicia von Henrique Capriles nahm schliesslich auch nicht an den Wahlen teil. (…) Nun, am 5. Januar wird das neue Parlament tagen.

Was kann der extremistischste Sektor machen? Wir wissen es nicht, aber er interessiert das venezolanische Volk kaum. Dieser Sektor hat sich schlicht selber annulliert und wir können von ihm nichts erhoffen.

 

Kann der Regierungswechsel in den USA die Beziehungen mit den USA verbessern oder nicht?

Wir sind schon seit 21 Jahren an der Regierung, und vom ersten Tag hat Washington mit seiner Monroe-Doktrin bei uns interveniert. Wir haben in diesen Jahren gelernt, dass das Imperium eines ist. Der Imperialismus ist nicht nur das Weisse Haus, das Pentagon, das State Department oder Treasury. Diese US-Institutionen sind der relevanteste politische Ausdruck des Imperialismus, aber der drückt sich auch in anderen europäischen und asiatischen Regierungen und auch in den Eliten, die mehrere Länder Lateinamerikas regieren, aus.

Wir hatten Beziehungen mit Bill Clinton, George Bush, Barack Obama und jetzt mit diesem Herrn Donald Trump. Und die Wahrheit ist, mit einigen kann man reden, einen Kaffee nehmen, und danach greifen sie dich an. Mit anderen kann man nicht reden und danach greifen sie dich an. Aber als gute Söhne Bolívars glauben wir, dass wir die Beziehungen mit wem immer in dieser Welt verbessern können.

Wenn sie wollen, wollen auch wir. Wenn sie nicht wollen, werden wir gleichwohl siegen.

 

Zurück zur internen Frage. Sie haben Spannungen in der chavistischen Basis wegen der Freilassung der sog. politischen Gefangenen erwähnt. Es gab auch Diskussionen wegen des sogenannten Antiblockadegesetzes oder wegen der Verhaftung von PDVSA-Funktionären wegen Korruption. Wo steht heute die bolivarische Bewegung in diesem Zusammenhang?

 [Im Chavismus gibt es oft heftige Diskussionen, aber nach der Beschlussfassung steht man zusammen.] Der Chavismus ist sich voll bewusst, dass wir in einem eh schon komplizierten Übergang vom kapitalistischen, spezifischen, auf den Öleinkünften basierenden, System zu einem sozialistischen stehen. Das ist eh komplex, aber wir werden zudem interveniert, angegriffen, belagert. Sie haben uns zur freien Verwendung des Dollars in unserer Wirtschaft gezwungen, was nicht mit den Prinzipien übereinstimmt, aber eine Notwendigkeit und ein Ventil in dieser Konjunktur ist.

 

Welche Politik ist auf der diplomatischen Bühne umgesetzt worden, um die Blockade zu überwinden?

Die Blockade ist intensiviert worden. 2014 sahen wir die ersten deutlichen Anzeichen. US-Banken arbeiteten nicht mehr als Korrespondenzbanken für Venezuela und schlossen ihre Filialen im Land, Finanzierungsagenturen brachen das Gespräch ab, extreme Schwierigkeiten, damit die multilateralen Finanzorganisationen Infrastrukturprojekte im Land diskutierten.

2017 wurde eine Reihe von Prozessen zur Isolierung und Aggression ohne rechtliche Grundlage formalisiert. Und mit der Präsidialorder von Donald Trump, der jene von Barack Obama von März 2015 juristisch das Terrain bereitet hatte, begann die formelle Aggression, einschliesslich der Drohung eines Militäreinsatzes.

Für jede Etappe hatten wir eine Strategie, die sich für die nächste ändern konnte. Und unsere Alliierten waren da zentral. China, Russland, Kuba – unser fundamentaler Partner – karibische Länder, Afrika, Türkei, Indien. Aber auch diese Länder stehen unter Druck, nachdem 2019 eine Fake-Regierung für Venezuela ausgerufen worden ist.

Jetzt gehen sie auf die Unternehmen los, die es wagen, mit dem Land zu arbeiten. Sanktionen gibt es nicht nur gegen den venezolanischen Staat, sondern auch gegen Unternehmen der Ölwirtschaft, der Schifffahrt, der Ernährung, der Medizin. Es geht nicht einfach um eine Blockade, sondern um eine unerbittliche Verfolgung. Wir haben versucht, uns daran anzupassen. Manchmal gut, manchmal nicht. Wir sind am Lernen.

Diese letzte Phase geht das Antiblockadegesetz an. Es beinhaltet Elemente zum Schutz der Investitionen, der Identität der Investoren während der Verhandlungen und der Zahlungssysteme; es flexibilisiert die Bestimmungen dazu, wie internationale, nationale oder auch kommunale  Investitionen mit dem Staat interagieren können.

Es ist ein sehr wertvolles und komplexes Instrument, und es gibt Dinge, die die ich nicht besprechen darf. Es gibt sogar Dinge, die auch ich nicht wissen darf. Denn wie José Martí sagte, es musste im Stillen erfolgen. Denn wenn wir es nicht im Stillen machen, geschieht es nicht. Denn sie verfolgen uns, blockieren uns, sanktionieren uns.

 

[Arreaza beschreibt, wie die USA in den Nuller Jahren Lateinamerika wieder ins Visier nahmen und das kontinentale Pendel zum Rechtsausschlag gegen die zuvor schrittweise entwickelte regionale Einheit brachten. Die Wahlsiege in Argentinien oder Bolivien markieren eine Trendwende. Im Zusammenhang mit Argentinien kommt er auch auf Diego Maradona zu sprechen.]

Für uns war er viel mehr als der weltbeste Fussballer in der ganzen Geschichte. Das war er, aber das hätte nicht gereicht. Denn er war gleichzeitig unser bester Freund. Er steht nicht für das argentinische Volk, sondern für das lateinamerikanische und darüber hinaus. [Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte Maradona gelobt, aber seine Beziehung mit Fidel und Castro scharf kritisiert.] Aber als wir kürzlich in Paris dieses im Protestieren geübte Volk mit einem grossen Transparent mit dem Gesicht von Diego Armando Maradona sahen, sagten wir uns: ‘Das ist die Antwort der Völker’, denn das war Maradona, Völker.

 

Paris, 27. November 2020: Demo gegen das "Sicherheitsgesetz" von Macron.

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(zas) Natürlich dürfte auch Arreazas Sicht nicht alles erklären. Zum Beispiel nicht, dass die Justiz bei rechten Parteien, die anfangs für eine Wahlbeteiligung waren, diese dann aber unter US-Druck ablehnten, dadurch ausgelöste parteiinterne Richtungskämpfe um die Parteileitung mehrmals zugunsten der jeweiligen Pro-Wahlbeteiligung-Fraktion entschieden hatte. Ähnlich auch im Fall der bisher regierungsnahen Partei Patria para Todos (PPT), von der sich die amtierende Führung einem regierungskritischen Bündnis rund um die KP angeschlossen hatte (dieses erzielte in den Wahlen trotz angeblicher Vertretung der Sozialbewegungen ein markant schlechtes Resultat). Vermutlich bietet das Parteiengesetz für solche Manöver eine rechtliche Grundlage. Dass solche natürlich mit der Situation der enormen Bedrohung zusammenhängenden «Spielchen» dem revolutionären Projekt helfen, scheint dafür äusserst fraglich. Dennoch signalisiert der Wahlgang von letztem Dezember einen wichtigen Erfolg. Die Putschfiliale des westlichen Imperialismus im Land dürfte jetzt mit noch weniger Handlungsoptionen als bisher dastehen.

Wichtig sind zum Beispiel die Ausführungen zum Antiblockadegesetz. Arreaza erwähnt triftige Gründe für eine faktisch verborgene Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der schlimmsten Folgen der Belagerung. Dieses Antiblockadegesetz wird oft als Deckmantel für eine von der sehr realen «bolivarischen Bourgeoisie» angestrebte Umdrehung der chavistischen Sozial- und Wirtschaftspolitik kritisiert. Für Arreaza hingegen ist das Gesetz ein Schutzmittel. Es wäre schön, aber vielleicht nicht zu haben, dass eine Kritik von links an diesem Gesetz auch solche Aspekte reflektiert und nicht einfach ignoriert. Umgekehrt darf auch der Aspekt eines Transfers von Landesreichtum oder gleich commons an Investoren (primär aus Ländern ausserhalb des westlichen Imperialismus) nicht verdrängt werden. Wenn Arreaza zum Beispiel im gleichen Atemzug neben Kuba auch Länder wie die Türkei als Bündnispartner nennt, spiegelt dies zwar geopolitische Realitäten (die YPK/YPG können davon ein gewissermassen spiegelbildliches Lied singen), aber ist alles andere als eine Ankündigung einer solidarischen Morgenröte. Dies gilt natürlich auch für eine Macht wie China.

Solche Schwierigkeiten oder Widersprüche berechtigen keinesfalls, sich auf eine «neutrale» Position zurückzuziehen, in der man beide Seiten, das chavistische Regierungslager und den westlichen Imperialismus, als gleich negativ abkanzelt (real geht es dabei um die Absetzung vom Chavismus). Das ist keine ehrliche Position, sondern entspricht mehr einem Sich-im-Status-Quo-Einrichten in einer seiner «fortschrittlichen» Ecken.

 

Cohete a la luna, 27.12.20: Resistir la interferencia