Landesstreik in Kolumbien

Samstag, 8. Mai 2021

 Monica Granda*

 2019 verkündete die Regierung Duque eine Reform, um die kolumbianische Oligarchie von der Steuerbezahlung auszunehmen, du. Die Folge: leere Staatskassen, die es wieder zu füllen gilt. Also hat Duque dieses Jahr eine zweite Steuerreform vorangetrieben, zulasten der Mittelschicht und der Lohnabhängigen. Grundsätzlich solle die Reform die Mehrwertsteuer auf allen Konsumgütern erhöhen und sogar die Renten besteuern und damit beschneiden, während die grossen Vermögen weniger Steuern bezahlen sollten.

 Die Demonstration vom 28. April war vom nationalen Streikkomitee, einem Zusammenschluss von Gewerkschaftbünden und wichtigen unabhängigen Einzelgewerkschaften, organisiert worden.  Schätzungsweise 5 Millionen Leute waren vom ersten Tag an mobilisiert, nicht nur in den grossen Städten wie Bogotá, Cali, Medellín oder Barranquilla, sondern auch in den kleinsten Ortschaften. Und wer nicht auf die Strasse gehen konnte, nahm zum Beispiel mit einem cacerolazo (Pfannendeckel schlagen) am Fenster oder auf dem Balkon teil. Die Bauern haben sich der Bewegung angeschlossen: Auf dem Land wird auf dem Moto, zu Pferd oder zu Fuss auf den Wegen demonstriert. Die Verbindungsstrassen wie die Panamerica werden von solidarischen Camionneuren und Taxis blockiert. Die in der Minga oder im CRIC (Comité Regional Indígena del Cauca) organisierten indigenen Comunidades sind nach Cali gezogen. Aus den Spitälern kommen Fotos der Pflegenden mit Unterstützungsbotschaften für den Streik.

Beteiligt sind vor allem unorganisierte Menschen, die spontan den Aufrufen in den Social Media gefolgt sind. Jede und jeder hat ein Instrument, ein selber gemachtes Transparent oder eine Verkleidung beigetragen. Sie mussten sich schnell gegen die Repression organisieren, die vom ersten Tag an schlimm war und seither stets zunimmt, vor allem seit dem Ruf von Ex-Präsident Álvaro Uribe nach Einsatz der Schusswaffen gegen die Mengen. Am 1. Mai militarisierte Duque die Städte; aus Helikoptern werden die Leute mit scharfer Munition beschossen, Panzer kreuzen auf den Strassen, die Soldaten schiessen auf die Fenster der Wohnungen, Cali und die Umgebung werden wortwörtlich belagert. Die Bilanz ist schon am 2. Mai gravierend: 26 Tote (offizielle Angaben), die meisten um die 20, aber auch ein 11-jähriges Kind; 56 Fälle von Verschwindenlassen; 761 willkürliche Verhaftungen; 9 Vergewaltigungen und 17 Menschen, denen ein Auge ausgeschossen wurde.

Im Mass, wie die Bewegung anhält und sich im Lauf der Tage verbreitert hat, sind die Forderungen radikaler geworden. Statuen wurden gestürzt, jene des spanischen Konquistadors Sebastián de Belalcázar, des ehemaligen Präsidenten Pastrana oder des faschistischen Politikers Gilberto Alzate Avendaña. Tatsächlich wird die ganze Regierung Duque in Frage gestellt. Das war schon vorher so, aber Duques katastrophales Management der Pandemie hat die Unzufriedenheit nur noch vergrössert. Vergessen wir nicht, dass, als sich die soziale Bewegung zu organisieren begann, zahlreiche Politiker unter einem Vorwand nach Miami flogen, um sich dort impfen zu lassen. Also nicht einmal die korrupte Elite konnte auf die ersten Dosen zählen…

Am 2. Mai wurde die Steuerreform zurückgenommen, aber die Bewegung geht weiter. Finanzminister Alberto Carrasquilla trat am folgenden Tag zurück, aber das half nicht, das Volk ist weiter auf der Strasse. Man fordert jetzt die Abschaffung der Gesundheits- und Rentenreform, einen Sozialplan auf dem Land, den Stopp der Glyphosatbesprühungen auf den Cocafeldern und auch die Umsetzung der Friedensabkommen von Havanna. Denn im Land herrscht kein Frieden, im Gegenteil: Allein dieses Jahr gab es bis zu den aktuellen Mobilisierungen 79 Politmorde und 35 Massaker.

Die soziale Lage in Kolumbien ist dramatisch. Wir haben nach Honduras die zweitgrösste Ungleichheit im Kontinent. Und doch ist das Land reich: Erdöl, Metalle, Palmöl, Bananen, Viehzucht – alles für den Export, der die Profite der Multis alimentiert. Die Leute haben sehr wenig davon, ein Fünftel der Bevölkerung hat nicht genug zu essen. Das Budget geht zu 24 Prozent in den Schuldendienst und zu 13 Prozent in die Sicherheitskräfte. Weniger als 4 Prozent der Bevölkerung sind geimpft (Chile 36 Prozent), doch die Regierung will fast € 4 Milliarden für den Erwerb von Kampfflugzeugen für den Krieg gegen das eigene Volk ausgeben. Der Staat hat die ländlichen Gebiete, und da vor allem die Kinder, total aufgegeben. Im Vergleich zu den Armeeausgaben sind die Budgets für Gesundheit und Erziehung (11 respektive 15 Prozent) jämmerlich. Frankreich etwa gibt 3 Prozent seines Budgets für Verteidigung und mehr als 77 Prozent für Gesundheit, öffentliche Dienstleistungen und soziale Absicherung aus.

Diese Mobilisierung bedeutet an sich schon einen echten Sieg. Es handelt sich um die zweite grosse Massenmobilisierung seit 1977. Die Forderungen sind radikal, ebenso die Aktionen: Banken sind im Visier, ebenso die Mautstellen, Symbole für die Fiskalreforn. Eine soziale Bewegung dieses Ausmasses in Gang zu halten, ist schwierig, vor allem in einem Land, in dem 40 Prozent der Arbeitenden vertragslos sind, und in dem für viele von ihnen die Strasse der Arbeitsplatz ist. Die Streikkomitees müssen sich deshalb erweitern, um die Kämpfe breit abstützen und der Situation aller, die das Land verändern wollen, Rechnung tragen zu können. Standhaftigkeit wird nötig sein, gegen die Repression und die Versuche, die Bewegung zu schwächen. Man wird auch darauf gefasst sein müssen, dass die Regierung das Land an die Wand fahren will und gewisse Regionen von der Versorgung abgeschnitten sein werden. Bekannt ist auch der Rückgriff auf professionelle (in jedem Fall bezahlte) Vandalen. Das Volk wird sich auch gegen die Repression organisieren müssen. Seit Anfang Mai häufen sich die Berichte über die Präsenz von Paramilitärs auf den Strassen. Die Rücknahme der Steuerreform reicht nicht, das ist den Kolumbianerinnen und Kolumbianern klar. Sie verlangen den Sturz der Regierung, das Ende der Herrschaft der Oligarchie und die Erlangung der Demokratie. Das wird nicht ohne eine organisierte Bewegung möglich sein, denn der Feind ist organisiert. Die Herausforderung ist gross, aber auch die Fähigkeit des kolumbianischen Volkes.

 

·         Mitglied des Gemeinderates von Genf.