Modern Times

Dienstag, 18. Oktober 2022

 «Die Entdämonisierung der Atomwaffen» (NZZ)

(zas, 18.10.22) Die NZZ brachte es gestern fertig, eine Seite ihres Armeeschreibers, Häsler, mit dem Titel «Die Entdämonisierung der Atomwaffen» zu publizieren. Seiner vielen Sätze kurzer Sinn: Die real lauernde Gefahr im Zusammenhang mit der Ukraine besteht darin, nicht alles für den Sieg über Russland einzusetzen. Denn dann würden alle anderen von Moskau bedrohten Länder nolens volens auf eine eigene atomare Bewaffnung setzen. Viel produktiver also, den Krieg aufzuheizen. Und eingebunden in die westliche Beruhigungskampagne angesichts der Angst vor einem Atomkrieg lesen wir, dass der technisch und militärisch dem Westen unterlegene Kreml zwar im Mafiastil mit der Atomwaffe drohen, aber sie faktisch kaum einsetzen kann. Allerdings gilt: «Gefährlich in allen Fällen wäre eine Uneinigkeit unter den NATO-Staaten». Da ist etwa Macron, der die Force de Frappe «nicht für einen Gegenschlag gegen Russland zur Verfügung» stellen will. Wir kapieren: Genau solch unverantwortliches Tun – nein zum Atomwaffeneinsatz - würde die Nonproliferation der Atomwaffen gefährden.

Lassen wir, dass die einen Schurken nur die anderen an den Pranger stellen, um jeweils die «eigene» Bevölkerungen auf Krieg zu dressieren. Natürlich ist es unerträglich, dass die russische Seite wiederholt mit ihren Atomwaffen droht. Plump spricht sie aus, von Putin runter, was bei allen Atommächten selbstverständlich ist: Die Bomben werden eingesetzt zur Vergeltung eines erlittenen Atomwaffenangriffs oder bei existentieller Gefährdung des Staates. (Und lassen wir, dass Washington mehrmals ernsthaft, wie zum Beispiel im Vietnamkrieg, atomare First-Strike-Szenarien durchspielte.)

Doch was bringt das helvetisch Leibblatt von Kapital und Armee dazu, von «Entdämonisierung der Atomwaffen» zu sprechen? Diese waren also «dämonisiert», sprich, ihr Einsatz galt als undenkbar. Damit waren sie, klagt die neue, der «Naivität entwachsene Vernunft», unnütz. So sehr man sich hinter Putin versteckt, so sehr man in alter bellizistischer Tradition versichert, die eigene atomare Schärfe diene einzig dem Zweck, sie nicht einsetzen zu «müssen», die Wortwahl ist verbrecherisch.

Es gibt viele Putins.

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Europa der Garten, vom Dschungel bedroht (EU)

Anlässlich der Einweihung einer neuen EU-DiplomatInnenschule im belgischen Brügge am letzten Donnerstag vermittelte der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell dem künftigen Corps europäische Grundwerte:

«Brügge ist ein gutes Beispiel für den europäischen Garten. Ja, Europa ist ein Garten. Alles funktioniert. Er stellt die beste Kombination von politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhalt dar, die die Menschheit erzielen konnte (…) Der Rest der Welt ist nicht gerade ein Garten. Der Grossteil des Rests der Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten eindringen. Die GärtnerInnen sollten diesbezüglich Sorge tragen, aber sie werden den Garten nicht mit dem Bau von Mauern schützen (…) Denn der Dschungel kann schnell wachsen und die Mauer wird nie hoch genug sein, um den Garten zu schützen.»

Das geht an die Adresse der VulgärrassistInnen (schliesslich haben wir Arbeitskräftemangel in Europa). Die Lösung:

«Die GärtnerInnen müssen zum Dschungel gehen. EuropäerInnen müssen sich sehr viel stärker in der Welt engagieren. Sonst wird uns der Rest der Welt in der einen oder anderen Form invadieren.»

Dann kommt er auf ein ihm besonders am Herzen liegendes Anliegen:

«Ich möchte Ihnen sagen, dass ich glücklich bin, bei etwas, was man ein «Moment der Schöpfung» nennen kann, dabei zu sein. Die Worte, «an einer Schöpfung dabei zu sein», hat vor vielen Jahren einer der bedeutendsten Diplomaten gesagt. George Kennan – in seinen Memoiren. Und diese Memoiren gelten gelten weiter als der beste Insiderbericht über das Framing der Nachkriegpolitik der USA nach dem 2. Weltkrieg. Jetzt sind der Kalte Krieg und der Post-Kaltekrieg definitiv vorbei. Der Postkaltekrieg hat mit dem Ukrainekrieg geendet, mit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Und wir erleben definitiv auch ein «Moment der Schöpfung». Dieser Krieg wird eine neue Europäische Union schaffen. »

Zur Drohung eines Atomschlags:

«Putin sagt, er bluffe nicht. Nun, er kann es sich nicht leisten zu bluffen (…) Jeder Atomschlag gegen die Ukraine wird eine Antwort erzeugen, keine atomare, aber eine militärisch so starke, dass die russische Armee vernichtet wird. Putin sollte nicht bluffen.»

En passant benörgelt er auch die zeitraubende Kontrolle der Schiffe mit Exportnahrungsmitteln aus der Ukraine, die Menschenleben koste. Dann kommt er auf den grossen Unterschied:

«Es gibt einen grossen Unterschied zwischen Europa und dem Rest der Welt – Rest der Welt, Sie verstehen, was ich meine? – wir haben starke Institutionen. Institutionen sind das Wichtigste für die Lebensqualität der Leute. Der grosse Unterscheid zwischen entwickelt und nicht entwickelt liegt nicht in der Wirtschaft. Er liegt in den Institutionen. Hier haben wir ein neutrales, unabhängiges Justizsystem. Hier haben wir ein System zur Einkommensverteilung. Hier haben wir freie Wahlen. Hier haben wir Verkehrsampeln zur Regelung des Verkehrs und Leute, die den Müll wegräumen.»

Institutionen aber müssen die «aufstrebenden Länder» selber entwickeln, das kann nicht er machen, sonst wäre es Neo-Kolonialismus. Den Begriff verwendet Borrell tatsächlich.

Identität:

«Identität ist heute das wirkliche Schlachtfeld. Identität wird wieder zum mächtigen Thema. Erinnern Sie sich, was mal einer gesagt hat: ‘It’s the economy, stupid’? Jetzt gilt ‘it’s the identity, stupid’. Identität kann manipuliert werden als etwas, das verschlossen ist: ‘Meine Identität ist unvereinbar mit deiner. Entweder du oder ich’. Dieses ‘entweder du oder ich’ führt zu Krieg. Die Schönheit der europäischen Erfahrung liegt im ‘du und ich’, das das Erbe der Vergangenheit überwindet und der Welt das Rezept für eine friedliche Koexistenz, Kooperation, Integration und Entwicklung gibt (...) Meine Erfahrung beim Herumkommen in der Welt ist, dass die Menschen auf uns als einen Leuchtturm blicken.»

 Also:

«Schauen Sie dem Garten, seien Sie gute GärtnerInnen. Aber Ihre Pflicht wird nicht sein, für den Garten selbst zu sorgen, sondern für den Dschungel ausserhalb»

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Solche Figuren transportieren den Marschtakt. Der Militarist in der Zeitung, der modern geliftete Conquistador in Brüssel.Und wir sollen's schlucken?