Amerikas: Militäreinsätze, Wirtschaftskrieg – und ein Orientierungsansatz

Sonntag, 9. November 2025

 

(zas, 9.11.25) Bekanntlich kann es heikel oder einfach falsch sein, was uns nicht passt, als (prä-) faschistisch zu bezeichnen. Noch schlimmer wäre allerdings, den Begriff dort zu vermeiden, wo er sich aufdrängt. Kurzinfos zu aktuellen Aspekten der militarisierten US-Politik in Lateinamerika und dem damit untrennbar verbundenen Grossangriff auf gesellschaftliche, auch wirtschaftliche Emanzipation. Ein Interpretationsschema dazu aus den USA. Und ja, verwandte Züge der US-Herrschaftspraxis und -Doktrin mit nazistischem «Gedankengut» sind erkennbar.

 

Mexiko im Visier

Am 3. November berichtete der US-Fernsehkanal NBC, gestützt auf Aussagen zweier ehemaliger und zweier aktueller hoher RegierungsfunktionärInnen, über den Beginn konkreter Planungen für den «Anti-Kartell»-Einsatz von US-Truppen in Mexiko. Der stehe allerdings nicht unmittelbar bevor. Die US-Truppen, hauptsächlich aus dem Joint Special Operations Command kommend, würden dann mit Autorisierung der US-Geheimdienste operieren. Falls es soweit komme, werde die Administration nicht über die Einsätze berichten. Die sähen hauptsächlich Drohnenschläge gegen Drogenlabors und Kartellmitglieder vor, wobei einige der vorgesehenen Drohnen von mexikanischem Boden aus gesteuert werden müssten.

Die US-Armee hat bisher nach eigenen Angaben über 70 Menschen auf Booten primär in Gewässern nahe von Venezuela umgebracht. Immer lautet die nie mit Beweisen unterstützte Erklärung, es habe sich bei den Ermordeten um Drogenhändler gehandelt. Die Fischer, die traditionell zwischen Trinidad und der venezolanischen Küste hin und her pendeln, unterlassen dies jetzt. Das hat unmittelbare wirtschaftliche Konsequenzen für die KüstenbewohnerInnen.

 

El Salvador, Bukele dabei

Die New York Time informierte am 6. November über «Flugmissionen von mindestens drei Militärfliegern vom hauptsächlichen internationalen Flughafen von El Salvador» aus bezeichnete diese auf der Basis von «Satellitenfotos, Kommunikationen der Luftverkehrskontrolle und Flugverfolgunggsdaten» als «Erweiterung des aussergewöhnlichen US-Truppenaufmarsches in der Karibik».  Einer der Flieger sei ein «schwer bewaffnetes Angriffsflugzeug» und werde vom «Air Force Special Operations Command eingesetzt, einer Einheit für heikle Militäroperationen». Neben einem Aufklärungsflieger sei ein weiteres Flugzeug vom Typ C-40 Clipper am Flughafen Comalapa (genauer gesagt in der offenbar wieder aktivierten angrenzenden US-Base). Über dessen Operationen sei wenig bekannt sei «und seine Verlegung nach El Salvador ist höchst ungewöhnlich», insbesondere, da es das Aufklärungsflugzeug manchmal begleite. Zwei US-ArmeefunktionärInnen «bestätigten der Times, dass der Einsatz dieser Flieger im Zusammenhang mit der Ausweitung der Antidrogenmissionen in der Region steht». Das Blatt schreibt: «Der Einsatz in El Salvador stellt wahrscheinlich das erste Mal dar, dass ein ausländisches Land US-Flieger aufnimmt, die in Militärschläge in der Region verwickelt sein können. Und er wirft ein weiteres Licht auf die engen Beziehungen zwischen der Trump-Administration und dem salvadorianischen Präsidenten Nayib Bukele, der zur Unterstützung der Migrationsstrategie von Präsident Trump aus den USA Deportierte in einem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt hatte.»[1]

 

Argentinien: Durchmarsch und Geschäft

«Argentinien schuldet» dem IWF rund $ 60 Milliarden. Der neoliberalen Regierung von Macri hatte der Fonds 2020 schon damals auf Geheiss von Trump einen Kredit von über $ 50 Milliarden gewährt. Er sollte die Wiederwahl von Macri erleichtern (Fehlschlag) und zudem den US-Filialen und der Oligarchie erlauben, ihren Geldreichtum ins sichere Ausland zu transferieren (gelungen). Zahlen sollten wie gewohnt die «anderen», also die Unterklassen und der Mittelstand. Der Fonds brach mit der Kreditgewährung seine «eisernen Regeln», da er klar hatte, dass Argentinien diese Schulden niemals würde stemmen können. Die peronistische Regierung unter Alberto Fernández maulte zwar wegen der untragbaren Schuldenlast, unterschrieb aber eine Vereinbarung für ihre Rückzahlung. Direkte Ergebnis: Die Armut nahm zu, die nationale Wirtschaft (also jene, die etwas mit dm Leben der Leute zu tun hat, war in Dauerkrise. Milei gewann die folgenden Präsidentschaftswahlen.

Trotz andauernden Hurra-Rufen der herrschenden Kreise auch hierzulande für Mileis ultra-neoliberale Politik drohte dem argentinischen Regime dieses Jahr erneut, der Zaster (also Dollars) auszugehen. Also half der IWF Milei mit einem weiteren unbezahlbaren $ 20 Milliarden-Kredit.

Trump lässt die Seinen nicht hängen.

Also verkündete er im September einen Tausch minderwertiger Pesos mit $ 20 Milliarden Dollarreserven des Finanzministeriums. Und fügte bekanntlich an, der Deal laufe nur, wenn Milei die partiellen Parlamentswahlen im Oktober gewänne. Damit das auch richtig möglich werde, kündete er einen weiteren Kredit von $ 20 Milliarden seitens führender US-Grossbanken an Milei an.

Der IWF hatte Bedenken zu den beiden Trump-Krediten geäussert, wie das Wall Street Journal kürzlich festhielt. Natürlich nicht wegen des mit der gigantischen Verschuldung verbundenen Horrors für die Bevölkerung in Argentinien, sondern aus Sorge, die Rückzahlung der beiden US-Kredite würde jene an den Fonds verdrängen. Das würde sein globales «Ansehen» doch stark belasten.

Trumps Kalkül ist aufgegangen, er hat in den argentinischen Wahlen trumpfen können. Die vermeintliche Aussicht auf den Geldregen trübte nach allgemeiner Ansicht das Sensorium der WählerInnen entscheidend, neben anderen Faktoren.

 

Die Hemisphären-Präsidentschaft

Der kurze Artikel The Hemispheric Presidency: Emergency Powers and the New US Doctrine in Latin America von José Atiles, Kriminologe an der University of Illinois, lohnt die Lektüre. Lateinamerika und die Karibik seien wieder in den Fokus des Weissen Hauses geraten. Es gehe dabei nicht um ein Revival des Kalten Krieges oder der Monroe-Doktrin (Amerika den USA), sondern um eine neue Doktrin, «die Ausnahmevollmachten, Wirtschaftskrieg und Militarisierung zu einer einzigen hemisphärischen Ordnung verschmelzt. Diese aufkommende Doktrin basiert auf der Erweiterung der präsidialen Autorität. Sie steht für die volle Ausdehnung der Theorie der unitary executive[2] (einheitliche Exekutive) oder imperialen Präsidentschaft in den Bereich der Aussenpolitik, ein Versuch, den exekutiven Unilateralismus als organisierendes Prinzip der US-Regierungspraxis zuhause und im Ausland zu normalisieren.»

Die letzten 30 Jahre des Drogenkriegs und des Kriegs gegen den Terror, so der Autor, haben die Ausdehnung der Vollmachten des Weissen Hauses sukzessive durchgesetzt. Das ursprüngliche Ausnahmeregime in der Aufstandsbekämpfung hat sich zum aktuellen Standard entwickelt. «Unter Trump sind die Instrumente» des früheren Ausnahmeregimes wie Sanktionen, Elemente der Aufstandsbekämpfung u. a. «zu einem kohärenten hemisphärischen Projekt zusammengeschlossen.» 

«Die Karibik, einst als ‘Hinterhof’ imaginiert, ist zum Theater geworden, in dem die Ausnahmevollmachten als alltägliche Staatspolitik geprobt werden. Der wirtschaftliche Arm dieser Doktrin folgt der gleichen Logik.» Die $ 40-Milliarden-Kreditpakete für Milei dienen «weniger zur Stabilisierung der argentinischen Wirtschaft als der Absicherung eines radikalen neoliberalen Experiments» mit vielen Parallelen zu Trumps Gesellschaftspolitik in den USA.

 

Parallelen zum Nazismus

Unitary executive hiess bei den Nazis Einheit der Führung, wie sie unter anderen vom Starverfassungsrechtler Carl Schmitt mitbestimmt worden ist. Der Führer verkörpert den Willen des deutschen Volkes (sowie heute Trump jenen der americans) und dominiert deswegen alle staatlichen Instanzen. Auch in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gibt es eindeutige Parallelen. Franz Neumann hatte in seiner während des 2. Weltkriegs im US-Exil verfassten Analyse der Wirtschaftspolitik der Nazi- und Industrie-Eliten – «Behemoth – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944» - als Befehlswirtschaft charakterisiert. Das, was heute als «Erpressungspolitik» Trumps bekannt ist, hat viele Elemente von der Nazi-Doktrin wieder aufgenommen, von den Zöllen bis zum staatlichen Dauerangriff auf alle nicht eingebundenen Kräfte. Vergessen wir Trumps «Launen». Neumann analysiert diese NS-Politik als durchdachten Versuch der Eliten, sich mit imperialistischen Kriegen zur Weltmacht aufzuschwingen. Das sollte uns Warnung genug sein, auch wenn die USA heute nicht Deutschland 1933 sind. Die Lektüre des Behemoths kostet Zeit und Aufmerksamkeit und bietet – muss das noch gesagt werden? – keine Blaupause für das Verständnis der fast weltweiten aktuellen faschistischen Mobilisierung. Aber sie hilft uns, wach zu werden.

 

 



[1]Die Funktion des «coolen» Bukele in der Trump-Agenda zeigte sich letzten August, als er eine Armeeoffizierin als Erziehungsministerin einsetzte, damit sie, kaum im Amt, Zucht und Ordnung im Erziehungsbereich durchsetze. Schluss mit Frisuren etwa à la Hip-Hop, nur noch anständiger Schnitt und saubere Uniformen sind Pflicht. Beim Betreten der Schule sind die Autoritäten höflich zu grüssen, ungehobeltes Vokabular ist streng verboten. Jeden Montagmorgen sing die ganze Schule die Landeshymne und grüsst die Fahne. Wer mehr als 3 mal getadelt wird, repetiert das Schuljahr. Ein geleaktes Handbuch des Erziehungsministeriums verbietet kategorisch die Verwendung von Begriffen wie Feminismus, Ermächtigung, sexuelle Orientierung, LGBT, Sexualität oder auch nur «todas y todos» (jeder und jede). Ebenfalls des Teufels sind Begriffe wie Klimaschutz oder Hinweise auf oder Zitate aus der Agenda 2030 (UN-Entwicklungsziele) wie Zugang zu Wasser.  

[2] Alle Staatsorgane (Parlament, Justiz, Kontrollbehörden etc.) orientieren sich streng an der Politik des Präsidenten. In den vier Jahren der Biden-Administration hat die einflussreiche, trumpistische Heritage Foundation diese Theorie unter dem Begriff Project 2025 im Detail und umfassend und mit praktischen Angaben zum Vorgehen ausgearbeitet. Die liberale These der (relativen) staatlichen Gewaltenteilung oder etwa das Völkerrecht soll damit zu Altpapier werden. 

Proteste in Brasilien nach Polizeieinsatz mit über 120 Toten in Rio de Janeiro

Dienstag, 4. November 2025

 https://amerika21.de/2025/11/277776/polizeigewalt-120-tote-brasilien

 


Tödlichster Einsatz in der Geschichte der Stadt. Starke Kritik am Vorgehen der Polizei und des Gouverneurs. Breite Debatten über öffentliche Sicherheit

In vielen brasilianischen Städten fanden am Wochenende Proteste gegen den Polizeieinsatz statt
In vielen brasilianischen Städten fanden am Wochenende Proteste gegen den Polizeieinsatz statt

Rio de Janeiro. Nach dem Polizeieinsatz mit zahlreichen Todesopfern am vergangenen Dienstag rufen soziale Gruppen zu Protesten und einer lückenlosen Aufklärung der Vorfälle auf. Während Menschenrechtsaktivist:innen von einem Massaker sprechen, erklärt der Gouverneur der Stadt, Cláudio Castro, den Einsatz als gelungen. Am vergangenen Dienstag waren einem Polizeieinsatz in den Favelas Penha und Alemão mindestens 121 Menschen ums Leben gekommen, darunter vier Polizisten. Aktuell sprechen Medien sogar von 132 Toten. 

Der Einsatz galt der kriminellen Organisation Comando Vermelho (CV). Der zentral gesuchte kriminelle Anführer Edgar Alves de Andrade konnte bei dem Einsatz nicht festgenommen werden und ist weiterhin auf der Flucht.

Seit Freitag finden landesweit Proteste gegen die Polizeieinsätze in den brasilianischen Favelas statt. Die Demonstrierenden, Studierende, soziale und politische Aktivist:innen sowie Anwohner:innen und Angehörige der Opfer kritisieren das Vorgehen der Polizei stark.

Auch der Nationale Gesundheitsrat (CNS) des Landes findet klare Worte gegen den Einsatz: "Die CNS bekundet ihre tiefste Solidarität mit den Familien der Opfer und der gesamten Bevölkerung des Bundesstaates Rio de Janeiro, die seit Jahrzehnten täglich Gewalt und Angst ausgesetzt ist. Das Geschehene kann nicht als 'Kriminalitätsbekämpfung' oder 'Großoperation gegen Drogenhandel' abgetan werden, sondern ist eine menschliche Tragödie, die das Versagen der Sicherheitspolitik offenlegt. Anstatt den Schutz des Lebens in den Vordergrund zu stellen, verwandelt diese unsere Gemeinden in Schlachtfelder". Auf der Homepage schreibt er weiter: "Der Nationale Gesundheitsrat ruft die Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und staatliche Institutionen dazu auf, ihre Kräfte zu bündeln, damit dieses Massaker nicht nur eine weitere Geschichte von Schmerz und Straflosigkeit bleibt. Es soll ein Meilenstein für die Transformation der öffentlichen Politik in Brasilien werden, mit dem Ziel, ein Modell zu entwickeln, das Frieden, Sicherheit und vor allem die Achtung des Lebens und der Menschenwürde fördert."

"Organisierte Kriminalität bekämpft man mit Strategie, nicht durch Hinrichtungen oder das Eindringen in Favelas, um die arme Bevölkerung zu töten!", kritisierte Camila Neves vom Nationalkollektiv der Schwarzen Jugend. "Das war ein Massaker, kein Einsatz", mahnt sie.

Der Anwalt Guilherme Pimentel, Koordinator eines Unterstützungsnetzwerks von staatlicher Gewalt betroffener Menschen, erklärt zudem, dass ausreichend bekannt sei, dass vor allem auch Amtsträger in den Waffen- und Munitionshandel verwickelt seien. Der Wissenschaftler Ricardo Balestreri, Spezialist im Bereich der Öffentlichen Sicherheit, führt diesen Vorwurf in einem Interview mit der BBC weiter aus: "Gewehre wachsen nicht in Favelas. Es gibt eine Oberschicht der Kriminalität, die nichts mit den Bewohnern der Favelas zu tun hat, die nicht in Favelas lebt, die sich nicht mit Banditen aus Favelas zum Wein oder Kaffee trifft. Das sind Leute, die in Luxuswohnanlagen, in Penthouse-Wohnungen, an den teuersten und vornehmsten Orten des Landes leben".

Besonders betont er in diesem Zusammenhang die im August durchgeführte Operation Carbono Oculto. Dieser Einsatz richtete sich gegen die kriminelle Vereinigung Primer Comando Capital (PCC), neben dem CV eine der beiden größten kriminellen Organisationen Brasiliens, und sollte deren Finanzsystem im Kraftstoffsektor zerschlagen. Während des Einsatzes fiel kein einziger Schuss, stattdessen wurden jedoch rund 7,6 Milliarden Real (etwa 1,22 Milliarden Euro) an Steuerhinterziehung aufgedeckt sowie 3,2 Milliarden Real (510 Millionen Euro) an Vermögenswerten sichergestellt: darunter ein Hafenterminal, vier Alkoholproduktionsstätten, 1.600 Lastwagen und mehr als 100 Immobilien und Beteiligungen an 40 Investmentfonds.

Statt die Kriminalität in den Favelas durch Schießereien beenden zu wollen, fordert Balestreri mehr staatliche Unterstützung für junge Erwachsene. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, sich beruflich weiterzubilden und für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können. "Die Kriminalität bietet diese Möglichkeiten. Die Kriminalität hat einen informellen Karriereplan", erklärte er.

Viele der Demonstrierenden fordern nun den Rücktritt sowie eine Gefängnisstrafe für den derzeitigen Gouverneur der Stadt Rio de Janeiro, Cláudio Castro, der den Einsatz als "gelungen" bezeichnete. Bereits in den Jahren 2021 und 2022 kam es unter seiner Regierung zu mehreren tödlichen Polizeieinsätzen in den Favelas. 2021 starben dabei 28 Menschen im Viertel Jacarezinho (amerika21 berichtete) und 2022 erneut 25 Personen in Vila Cruzeiro (amerika21 berichtete) und 19 im Complexo do Alemão (amerika21 berichtete).

Seit Mittwoch werden die Körper der Opfer identifiziert, dennoch gelten noch immer Personen als vermisst. Erste Meldungen hatten von nur 60 Toten gesprochen, nachdem die Anwohner:innen zahlreiche Leichen in einem angrenzenden Waldstück auffanden, erhöhte sich die Zahl der Opfer auf mindestens 121.

Bei dem Einsatz haben die Sicherheitskräfte insgesamt 118 Waffen, darunter 91 Gewehre, 26 Pistolen und ein Revolver sichergestellt und 113 Menschen festgenommen.

USA: Terror und Widerstand in Chicago und Kopfgeldjäger gegen MigrantInnen

Montag, 3. November 2025

 

(zas, 3.10.25) In ICE Is Terrorizing Chicago for Halloween—and Parents Are Fighting Back beschreibt die Journalistin Meredith Shiner am 31. Oktober Episoden aus der Menschenjagd in Chicago. Der Untertitel lautet “War on Kids”.

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In Broadview, einem Vorort im Westen, war der Konflikt zwischen der Trump-Regierung und den EinwohnerInnen Chicagos noch dramatischer und führte kürzlich zur böswilligen strafrechtlichen Anklage von vier demokratischen Politikern, die vor der dortigen ICE-Haftanstalt protestiert hatten. Der Terror, der über die Stadt als Ganzes ausgeübt wird, ist jedoch eher willkürlich und diffus: ein auf dem Parkplatz eines Baumarktes entführter Vater, dessen 15-jährige Tochter gegen Krebs im Stadium 4 kämpft; ein Schüler, der nie in seiner Klasse an der Benito Juarez High School aufgetaucht ist; ein Landschaftsgärtner, der in einer Wolke aus Tränengas aus einem Garten in einem der weissesten und wohlhabendsten Viertel der Stadt verschleppt wurde; ein Nachtmanager eines Comedy-Clubs, der vor den Augen seiner Mutter zu Boden geworfen und stundenlang festgehalten wurde; Tamales-VerkäuferInnen, die von der Strasse weggezerrt wurden; zwei Frauen, die vor den Augen von Eltern und Schülern aus ihrem Auto gezogen wurden, als sie ihre Kinder von der Schule abholten.

(…)

Viellicht ging es im Haufen anderer entsetzlicher Schlagzeilen unter, aber nachdem Bundesbehörden just vor einer Parade auf der Northwest Side Tränengas versprühten, musste eine Bezirksrichterin unserer Bundesregierung erläutern, dass Kinder, die in Festkleidern daherkommen, nicht mit Tränengas besprayt werden sollen. Bezirksrichterin Sara Ellis sagte dem Grenzwache-Chef Gregory Bovino: «Kids in  Halloween-Kostümen unterwegs zu einer Parade stellen keine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit eines Gesetzeshüters dar. Diese Kids - man kann sich vorstellen, dass ihr Sicherheitsgefühl am Samstag zerstört wurde, und es wird lange dauern, bis es zurückkommt, falls überhaupt.»

(…)

Ich würde sagen, dass in Amerika, wo geschätzt 3 Millionen Kinder jedes Jahr einer Schulschiesserei ausgesetzt sind, wo 16 Millionen Kinder, die auf Regierungsunterstützung fürs Essen angewiesen sind, riskieren, im unbegrenzten Regierungs-Shutdown diese Unterstützung zu verlieren; wo frühzeitige Kindeserziehung nicht allgemein ist – dass es nichts Ernsthafteres oder Schlimmeres gibt als wenn eine Regierung Sicherheit zur Decke und nicht zum Boden für unsere Kinder macht.

Eine dysfunktionale Regierung hat eine sichere, behütete und glückliche Kindheit zum Privileg, nicht zum Recht gemacht. Wenn ihr je wegen Regierungsuntätigkeit angesichts der Schulschiessereien und des damit verbundenen Traumas empört wart, solltet ihr auch über die Form des sich jetzt in den US-Städten ereignenden randomisierten [zufällig zuschlagenden] Terrors und kollektiven Traumas entrüstet sein. Kids und Eltern werden entführt, wobei die Regierung nicht einfach zuschaut. Sie organisiert die Entführungen.

In Chicago wird zunehmend klar, dass auch Leute, die bisher politisch nicht aktiv waren, die Schnauze voll haben. Sie nehmen die Sache in die eigenen Hände und beschliessen, dass wo die Regierung unseren Kindern Terror zeigen will, sie ihnen Anteilnahme, Gemeinschaft und Freude zeigen wollen.

Hier kommen die Schulbeobachtungsgruppen beim Bringen und Abholen der Kinder ins Spiel. In der ganzen Stadt finden auch Halloween-Süssigkeitenaktionen statt, beispielsweise im 30. Bezirk von Chicago, wo das Büro des Stadtrats mit lokalen Kirchen und Schulen zusammenarbeitet, um Süßigkeiten für Kinder und Familien zu sammeln und zu verteilen, die sich nicht aus ihren Häusern trauen. Kürzlich nutzte eine Nachbarin einen Elterntag in einer Grundschule im Nordwesten Chicagos, um eine der vielen „Whistle Packing”-Partys zu veranstalten, die überall in der Stadt aus dem Boden geschossen sind. Ziel dieser Partys ist es, Pfeifen und Anleitungen im Zine-Stil zu verteilen, die erklären, wie man andere alarmieren kann, wenn man ICE-Beamte sieht.

Beispiel für Zine-Stil 

 

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Kopfgeldjäger

In The Intercept (ICE Plans Cash Rewards for Private Bounty Hunters to Locate and Track Immigrants) beschreibt Sam Biddle eine weitere Dimension des trumpistischen Terrorskripts: den Einsatz von Kopfgeldjägern gegen MigrantInnen. Wie bitte? So – allerding nicht wie im Italowestern, wo Bösewicht Leute für Geld abknallt. Jedenfalls noch nicht. Heute muss er sie aufspüren und den Schwadronen der US-AntimigrantInnenbehörde ICE melden. Die operieren immer mal wieder so: Schwervermummte Bewaffnete ohne Erkennungszeichen stürzen aus dem Wagen ohne Nummernschild, packen jemanden und werfen ihn/sie in den Wagen, der gleich abfährt. Das Opfer verschwindet im explosiv expandierenden US-Gulag. So wie das die US-gesponserten Todesschwadronen in Lateinamerika schon vor Jahrzehnten taten. Also dort, wo die Opfer hauptsächlich herkommen …

Wie spürt Bösewicht die potenziellen Opfer auf und wer ist er überhaupt? Biddle erklärt es auf der Basis eines Dokuments des Department of Homeland Security: «U.S Immigation and Customs Enforcement (ICE) überlegt sich, private Kopfgeldjäger anzuheuern, um landesweit MigrantInnen zu lokalisieren. Dem Dokument zufolge, das Angaben von Interessierten an möglicherweise bevorstehenden Vertragsgelegenheiten anfordert, werden angeheuerte Unternehmen Informationsbündel zur Lokalisierung von jeweils 10'000 MigrantInnen erhalten, mit ‘Erhöhungen von 10'000 bis zu einer Million’ bei folgenden Aufträgen». Die Bezahlung erfolgt je nach Erfolgsquote der Vertragsnehmer. Weiter ist im Dokument zu lesen, dass ICE «eine anreizbasierte Preisstruktur untersucht». Biddle erklärt: «Zum Beispiel sagt ICE, dass Vertragsnehmer einen Bonus für die Erstellung einer korrekten Adresse einer Person im ersten Anlauf oder für das Auffinden von 90 Prozent der Ziele innert einer bestimmten Frist erhalten können.»

ICE klopft an die Tür...

 

«Das Dokument», so Biddle, «ähnelt stark einem Plan, der Berichten zufolge von einer Gruppe von militärischen Vertragsnehmern, darunter der ehemalige Blackwater-CEO und Trump-Verbündete Erik Prince, in Umlauf gebracht wurde. Im Februar berichtete Politico, dass Prince und andere laut den dem Medium vorliegenden Unterlagen auf die Bildung einer privaten Initiative zur Lokalisierung von EinwanderInnen und ein ‘Kopfgeldprogramm, das eine Geldprämie für jeden illegalen Ausländer vorsieht, der von einem staatlichen oder lokalen Strafverfolgungsbeamten festgenommen wird’, drängten.»

Biddle weiter: «Der Vorschlag sah ‘Skip-Tracing’ vor, eine Methode, bei der verfügbare Informationen genutzt werden, um Personen ausfindig zu machen – etwas, wofür ICE laut einem aktuellen Bericht in The Lever bereits Aufträge in Millionenhöhe vergibt. Laut dem kürzlich veröffentlichten Beschaffungsdokument werden private Auftragnehmer der ICE bald die Wohn- oder Arbeitsadressen von Zehntausenden von Einwanderern in den USA überwachen und ihre Standorte an die Regierung melden.» Biddle zitiert aus dem Dokument: «DHS ICE hat einen unmittelbaren Bedarf an Skip-Tracing- und Prozesszustellungsdiensten unter Verwendung von durch die Regierung bereitgestellten Falldaten mit identifizierbaren Informationen, kommerzieller Datenüberprüfung und physischen Beobachtungsdiensten, um die Adressdaten von Ausländern zu überprüfen, alternative Adressdaten von Ausländern zu untersuchen, den neuen Aufenthaltsort von Ausländern zu bestätigen und gegebenenfalls Materialien/Dokumente an Ausländer zu liefern

Biddle weiter: «Die von ICE bereitgestellten Daten umfassen ‘Falldaten’ der Regierung, Standortdaten, Informationen aus sozialen Medien sowie ‘Fotos und Dokumente’, die zeigen, wo eine Person lebt oder arbeitet. Mit diesen Informationen überwachen die Auftragnehmer ihre Zielpersonen, um die Richtigkeit ihrer Wohnadresse zu bestätigen, einschließlich ‘zeitgestempelter Fotos des Standorts’, bevor sie ICE Bericht erstatten.»

Falls die Wohnadresse nicht eruierbar ist, dient auch jene des Arbeitsplatzes. Damit die Vertragsnehmer dabei Erfolg haben, können sie auch «Von der Stange»-Überwachungstechnologie einsetzen, einschliesslich, zitiert Biddle, «verbesserter Standortrecherche, die automatisierte und manuelle Echtzeit-Adressermittlung umfasst».

Biddle weiter: «Überwachungstools, die Standortdaten von Mobiltelefonen erfassen und verfolgen, sind auf dem privaten Markt weit verbreitet, viele davon werden bereits von der ICE eingesetzt.»

Noch eine Bemerkung: Erik Prince, der erwähnte Trump-Kumpel für Paramilitärisches, hat unter anderem Sicherheitsaufträge vom Regime in Ecuador, wo in der letzten Zeit extreme Militäroperationen gegen Indigene laufen. In Haiti hat Prince offenbar einen Vertrag mit dem Weissen Haus für Sicherheitseinsätze; mutmasslich ist er in die Umsturzplanung in Venezuela eingebunden. 

Haiti. Bild aus einem Artikel einer ecuadorianischen Zeitung zum thema Pirnce in Haiti.