Agrarkonterreform und Kampfperspektiven: Brasilien an einer anderen Schwelle

Samstag, 4. Januar 2014




 (zas, 4.1.14) Die brasilianische Position gegen den westlichen Putschismus in Lateinamamerika, gegen anvisierte "neue Kriege" (Syrien, Iran, China…), für die Stärkung der lateinamerikanischen Unabhängigkeit usw. wecken Sympathien. Und etwas gar vorschnell werden soziale Besserungen im Land – für Millionen von Menschen – in linken Kreisen als reiner Assistenzialismus abgehandelt. Doch wir wissen auch um die gesellschaftliche Realität im Land. Dazu vermittelt uns ein Interview mit João Paulo Rodrigues von der Nationalen Koordination der Landlosenbewegung MST wichtige Elemente. Auf Portugiesisch ist das Interview am 18. Dezember 2013 erschienen auf der MST-Seite ("2013 é o pior ano da Reforma Agrária", diz João Paulo Rodrigues), auf Spanisch heute in Alainet.org (2013 fue el peor año para la Reforma Agraria).

Rodrigues hält zur Regierung von Dilma Roussef fest: "Bis jetzt, sind im ganzen Land nur 159 [landlose] Familien angesiedelt worden. Die Regierung von Dilma hat ganze 10 Ländereien enteignet. Schlechter als in der letzten Militärregierung von General Figueiredo, als es zur Enteignung von 152 Ländereien kam."
Quelle: MST
Zudem betreibt die Regierung Roussef unter dem Titel "Emanzipation der Siedlungen" eine Individualisierung der Landfrage. Diese Siedlungen entstanden aus grossen Landbesetzungen des MST, die teilweise von den Regierungen legalisiert worden waren. Rodrigues zu dieser "Emanzipation": "[Die Regierung] erteilt den Angesiedelten Landtitel. In der Praxis entledigt das den Staat der Verantwortung für die Familien. Aber das Schlimmste ist, dass damit eine Agrarkontereform geschaffen wird, denn die Grossgrundbesitzer werden die Angesiedelten zum Verkauf ihres Landes drängen und so die Landkonzentration noch verstärken."

Zwei wichtige Gründe sieht Rodrigues hinter dieser Regierungspolitik. "Der erste ist die Tatsache, dass die ruralistische Fraktion, mit 162 Abgeordneten und 11 Senatoren die grösste im Parlament, die Regierung in Geiselhaft genommen hat." Diese "Fraktion" samt MitläuferInnen hat bisher u. a. Folgendes erreicht: "Das absolute Abwürgen des Waldgesetzes, die Modifizierung des Gesetzes zur Sklavereiarbeit, den Rückschritt im Gesetz über die Abgrenzungen von indigenem Land, die Schaffung einer Sonderkommission zwecks Förderung neuer Agrargifte und die Freisetzung von neuen Gentechsaaten." Den anderen Grund macht der Genosse an der "Illusion der Regierung bezüglich des Agrobusiness" fest. Dessen Exporte verhelfen zu einem Budgetüberschuss vor Schuldendienst, der damit ermöglicht wird.

Nichtsdestotrotz gibt es auch positive Aspekte der staatlichen Agrarpolitik, die auf Kämpfe der Sozialbewegungen zurückgehen: "Wir kämpften für den Kauf von Nahrungsmitteln und erreichten das Nationale Schulessenprogramm (PNAE) und das Nahrungskaufprogramm PAA. Wir kämpften für Bildung auf dem Land und erreichten das Nationale Erziehungsprogramm der Agrarreform (Pronera). Wir kämpften für die Agroindustrialisierung unserer Produktion und errangen das Programa Terra Forte. Wir kämpften für ein anderes Landwirtschaftsmodell und errangen den Nationalen Agroökologieplan Brasil Agroécologico. Dies nur als Beispiele."

Doch …

"diese Massnahmen […] stehen in keinem Verhältnis zu den Investitionen in das Agrobusiness. Der Ernteplan 2013/14 für die familiäre Landwirtschaft stellt ungefähr 20 Prozent dessen dar, was ins Agrobusiness geht."

Zwei Modelle stehen sich antagonistisch gegenüber; das der bäuerlichen Landwirtschaft und das des Agrobusiness. " In den letzten zwanzig Jahren hat das Agrobusiness mehr als 6 Millionen Menschen vom Land vertrieben – in die Armutsquartiere der Städte. Das Agrobusiness schafft keine Arbeitsplätze, mehr als 70 Prozent der landwirtschaftlich Beschäftigten arbeiten in der Familienlandwirtschaft."

"Auch im Bereich der brasilianischen Grundnahrungsmittelproduktion ist die Lage für die Bevölkerung sehr gravierend. Von 1990 bis 2011 ging die Anbaufläche für Grundnahrungsmittel wie Reis, Bohnen, Yuca und Getreide zwischen 20 und 35 Prozent zurück, während die Edelprodukte des Agrobusiness wie Zuckerrohr und Soja um 122 bzw. 107 Prozent zunahmen. Und alles für den Export. Wir werden Reis und Bohnen aus China importieren müssen. Das ist alarmierend."

Nächsten Februar wird das MST seinen 6. Nationalkongress abhalten. Dabei "werden wir unseren Vorschlag für eine Agrarreform des Volkes konsolidieren. Die Agrarreform ist mehr denn je nötig. Aber jetzt geht es um eine Agrarreform neuen Typus, die wir als eine des Volkes (popular) bezeichnen. Die Agrarreform ist nicht mehr nur eine nationale Politik für die Landbevölkerung, sondern nötig für die Gesellschaft als ganze."
MST-Zeitschrift: Auf dem Weg zum 6. Nationalkongress des MST

Entweder vergiftete und gentechnisch manipulierte Nahrung, Verschärfung der Klimakrise, Landvertreibungen, Anschwellen der Slums und der Armut oder ökologisches Produktionsmodell, gesunde Nahrung, Beendigung der Armutsspirale. Das " müssen wir für die ganze Gesellschaft aufzeigen, damit die Gesamtheit der ArbeiterInnenklasse bei der Verwirklichung der Agrarreform des Volkes mitmacht."

Das ist keine illusionäre Perspektive. 2013 war ein Jahr des Rückschritts, aber auch massiver Landkämpfe. Neben vielen regionalen Mobilisierungen gab es 2013 auch die folgenden nationalen Kampfzyklen:
1. Dreimonatiges Camp in Brasilia ab März mit Demos, Besetzungen von Ministerien und politischen Veranstaltungen.
2. Ebenfalls im März landesweite Mobilisierung von 10'000 Landfrauen für die Ansiedlung von 150'000 Familien mit Besetzungen von Ländereien, Agrochemie- und öffentlichen Gebäuden, Demos und Strassenblockierungen.
3. Im April Mobilisierung der sim terra in 19 Gliedstaaten mit zahlreichen Strassenblockaden und Besetzungen von Ländereien, öffentlichen Gebäuden und Gemeindeverwaltungen, Veranstaltungen etc.
4. Massive Beteiligung an den grossen sozialen Protesten von Juni und Juli und der Grossmobilisierung der Gewerkschaften von Ende August mit Streiks, Strassenblockaden auf dem Land und Lahmlegung des Verkehrs in den Städten.
5. Im Oktober Einheitlicher Kampfzyklus für die Ernährungssouveränität in 12 Gliedstaaten wieder mit Demos, Besetzungen von Ländereien und öffentlichen Einrichtungen und Veranstaltungen.

"In der letzten Zeit haben wir die Einheit aller sozialen Landbewegungen aufgebaut und verstärkt, mit Blick auf ein Agrarprogramm, das das brasilianische Volk wirklich interessiere. Und das tendiert jedes Mal dazu, sich zu verstärken. […] Zudem haben die sozialen Organisationen als Resultat der grossen Kämpfe von 2013 das Volksplebiszit für eine tiefe Politreform 2014 aufgebaut, was das aktuelle Panorama grundlegend verändern wird."