Schweiz/Kolumbien: Schweizer Justiz verweigert Gerechtigkeit

Samstag, 2. August 2014



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PRESSEMITTEILUNG


Strafanzeige gegen Nestlé wegen der Ermordung des kolumbianischen Gewerkschafters Luciano Romero

1. August 2014 - Am 5. März 2012 reichten das ECCHR und die kolumbianische Gewerkschaft Sinaltrainal eine Strafanzeige gegen die Nestlé AG selbst sowie fünf seiner führenden Mitarbeiter ein. Ihnen wird vorgeworfen, den Tod von Luciano Romero, der am 10. September 2005 im kolumbianischen Valledupar von Paramilitärs ermordet wurde, fahrlässig mit verursacht zu haben. Obwohl sie über die Drohungen gegen Romero informiert waren, hatten sie es unterlassen, den Mord mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern. Romero hatte zuvor jahrelang für die kolumbianische Nestlé-Tochter Cicolac gearbeitet und war ein Gewerkschaftsführer der kolumbianischen Lebensmittelindustriegewerkschaft Sinaltrainal.

In Kolumbien herrscht bis heute ein bewaffneter Konflikt, in dem Gewerkschafter und andere soziale Gruppen systematischer Verfolgung ausgesetzt sind. Die unmittelbaren Täter waren 2006 und 2007 in Kolumbien verurteilt worden, was eine Ausnahme ist in dem Land mit der höchsten Rate ermordeter und bedrohter Gewerkschafter in der Welt. Das kolumbianische Gericht hatte am Ende des Verfahrens 2007 angeordnet, die Rolle der Nestlé-Tochter Cicolac strafrechtlich zu untersuchen, was jedoch nie geschah. Weder in der Schweiz noch in Kolumbien ermittelten die Staatsanwaltschaften, obwohl es hinreichende Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verantwortung gibt. Vielmehr übernahmen kolumbianische Juristen und Gewerkschaften gemeinsam mit dem ECCHR die Nachforschung der Fakten des Falles und die Vertretung der Familie von Luciano Romero.

Die Anzeige stellt einen Präzedenzfall dar, denn damit wird erstmals versucht, ein Schweizer Unternehmen für im Ausland begangenes Unrecht in der Schweiz haftbar zu machen. Die Regelung des Art. 102 zur Strafbarkeit von Unternehmen wurde 2003 in das Schweizerische Strafgesetzbuch eingefügt und ist seither kaum zum Einsatz gekommen.

Der Mord an einem weiteren Nestlé-Arbeiter und Gewerkschafter in Kolumbien im November 2013 zeigt deutlich, dass sich an der Haltung des Nestlé-Konzerns zu seinen Gewerkschaftern nichts geändert hat. Entgegen eigener Bekundungen auf der Firmenwebseite und auf Konferenzen hat sich Nestlé offensichtlich immer noch keinen Umgang mit Betriebsangehörigen und Gewerkschaftern angeeignet, der diese nicht in Lebensgefahr bringt. Denn der Ermordung des Gewerkschafters waren erneut Diffamierungen durch das kolumbianische Management von Nestlé vorausgegangen.

Das gesamte Verfahren macht deutlich, dass die Schweizer Justiz bislang nicht gewillt ist, fundierten Vorwürfen gegen Unternehmen nachzugehen. Auch bietet das Schweizer Recht gerade nicht-europäischen Opfern von Menschenrechtsverletzungen durch Schweizer Firmen praktisch keine Möglichkeiten, ihre Rechte vor Gericht einzuklagen.

Zum Verlauf des Verfahrens
Nach vierzehn Monaten, am 1. Mai 2013, entschied die Staatsanwaltschaft des Schweizer Kanton Waadt, keine Ermittlungen gegen Manager der Nestlé AG oder das Unternehmen selbst einzuleiten. Seit der Anzeigenerstattung bei der Staatsanwaltschaft im deutschsprachigen Kanton Zug wurden keine Untersuchungen eingeleitet, vielmehr wurde das Verfahren an den Kanton Waadt abgegeben. Anstatt in der gebotenen Geschwindigkeit die Ermittlungen zu beginnen, haben die Staatsanwaltschaften das Verfahren durch Formalien verzögert, bis sie die Tat schließlich als verjährt erklären konnten. Die Witwe des Opfers, die eine eigene Strafanzeige gestellt hatte und durch die Züricher Rechtsanwälte Marcel Bosonnet und Florian Wick vertreten wird, hat gegen die Entscheidung Beschwerde eingelegt. Diese wurde im Dezember 2013 abgewiesen.

Hiergegen wurde erneut Beschwerde eingelegt und der Fall damit vor das Schweizer Bundesgericht gebracht. Denn das Kantonalgericht verkennt in seinem Urteil, dass sich die Verjährung im Fall der Strafbarkeit des Unternehmens nicht nach der Tat selbst richtet. Der Konzern selbst hat noch nichts unternommen, um die fehlerhafte Organisation in dem Unternehmen zu beheben. Dieser sogenannte Organisationsmangel, welcher die Strafbarkeit Nestlés begründet, kann deshalb noch nicht verjährt sein. Das Gericht berücksichtigt hierbei auch nicht die kürzlich verlautbarte Rechtsposition des Schweizer Nationalrates, welche die Auffassung des ECCHR und der Anwälte Bosonnet und Wick unterstützt.

Mit Urteil vom 21. Juli 2014 (veröffentlicht am 31. Juli) hat das Schweizer Bundesgericht die Beschwerde der Witwe des ermordeten kolumbianischen Gewerkschafters von Sinaltrainal und Nestlé-Arbeiters Luciano Romero abgelehnt. Das Bundesgericht bestätigte die Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft und des Kantonalgerichts, dass die Straftaten verjährt seien. Damit wich es von der Interpretation des Bundesrates und weiten Teilen der Literatur ab, dass es sich um ein Dauerdelikt handelt – das mithin im vorliegenden Fall nicht verjährt wäre. Das Bundesgericht beendete das Verfahren aus formellen Gründen. Daher bleibt die eigentliche Frage nach der Verantwortlichkeit des Unternehmens Nestlé für die Ermordung seines Arbeiters weiterhin ungeklärt.

Mit dieser einschränkenden Entscheidung des Bundesgerichts besteht nun Reformbedarf im Hinblick auf die Verjährungsfristen. Sonst profitieren in der Praxis Unternehmen mit komplexen organisatorischen Strukturen von langen Ermittlungen – wie in diesem Präzedenzfall deutlich wird.

ECCHR, die kolumbianische Gewerkschaft Sinaltrainal sowie die Schweizer und kolumbianischen Anwälte der Witwe prüfen nun weitere rechtliche Schritte, wie z.B. eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Fall Luciano Romero als ein Beispiel der systematischen Verfolgung von Gewerkschaftern in Kolumbien liegt zudem dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vor. In kolumbianischen Strafverfahren wurde die Tat ebenfalls als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert.

Die Strafanzeige kann Ihnen auf Anfrage  per Email zugesandt werden.

Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte:
ECCHR: Tel.: +49 (0)30- 4004 8590, Mail: info@ecchr.eu
Schweizer Anwalt der Witwe: Marcel Bosonnet, Tel.: +41 (0)44 261 90 68, Mobile: +41 (0)76 376 49 12, Mail: bosonnet@bluewin.ch
Kolumbianische Gewerkschaft Sinaltrainal: Präsident Javier Correa, javier@sinaltrainal.org


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