Brasilien: Tapferes Herz oder Arrangement?

Dienstag, 28. Oktober 2014



(zas, 27.10.14) Der Wahlsieg gestern des PT (Partido dos Trabalhadores, Arbeiterpartei) und seiner Kandidatin Dilma Rousseff in der 2. Runde der Präsidentschaftswahlen ist ohne Zweifel mit Erleichterung zur Kenntnis zu nehmen. Etwas über 3 %, 3.4 Mio. der Stimmen, machten den Unterschied aus. In den reicheren Regionen des Landes räumte Aécio Neves, der Kandidat des Neoliberalismus, der Ausrichtung an Washington, der Sabotage an lateinamerikanischen Vereinigungstendenzen ab, in den Armutszonen dagegen Dilma Rousseff. Die Systemmedien erklären das als Ergebnis von geköderten Armen (die nicht kapieren, dass ihnen nur eine transnationale Wirtschaftskur Wohlstand bringt). Natürlich steckt hinter der Stimmabgabe ein Klassenkonflikt, und da es gestern nichts Besseres gab als den PT, flossen ihm die Stimmen von unten zu. Es waren nicht nur Organisationen wie faktisch die Landlosenbewegung MST, die zur Stimmabgabe für Dilma aufgerufen hatten. Selbst Fraktionen der trotzkistischen Partei PSOL (1.5 % der Stimmen in der ersten Runde) schlossen sich angesichts der realen Gefahr eines Wahlsiegs von Neves‘ Partei PSDB diesem Trend an. 
Siegesfeier vor der PT-Zentrale

Neves hatte nicht nur die Unterstützung der mächtigen evangelikalen Sekten, der Unternehmerverbände und der Medien, sondern auch der reaktionärsten Seilschaften um die Armee – so des Club Militar, eines Zusammenschluss von ehemaligen Offizieren und aktuellen Fans der Militärdiktatur (1964 – 1985). Neves steht real für sehr gefährliche Kräfte, sein medial verbreitetes „gemässigt soziales“ Image ist reine Wahlkosmetik. Zu seinen Wahl-„Versprechen“ gehören Schwerpunkte wie „Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit“ Brasiliens, Vorzugsverträge mit Washington und Brüssel, Rückentwicklung des Mercosur auf seine frühere neoliberale Essenz, „Verteidigung der Pressefreiheit“, „Verbesserung“ des öffentlichen Sektors dank Privatinvestitionen u. ä. Lateinamerika taucht unter seinen Prioritäten nicht auf, dafür steht der Mann für eine Politik der „harten Hand“ gegen Kriminalität oder Sozialunruhen.  Nicht nur für Brasilien, sondern für das ganze progressive Lateinamerika hätte ein Sieg von Neves  miserable Folgen gehabt.
Der Wahlsieg von Dilma ist mit 3 % Vorsprung ziemlich knapp ausgefallen. Er ruft damit eine in der letzten Zeit beobachtbare Tendenz auch in anderen Regionen des Südkontinents in Erinnerung (der knappe Wahlsieg Maduros in Venezuela, die Niederlage von Alianza País in Ecuador bei den Lokalwahlen, die salvadorianische Zitterpartie letzten März u. a.; einzig in Bolivien haben das MAS und Evo Morales kürzlich klare Siege davon getragen). In Brasilien dürfte dies auch mit dem Fehlen einer linken, die Leute mobilisierenden Regierungspolitik zusammenhängen. Unter Rousseff ist etwa die Agrarreform schon gar nicht mehr vorangekommen, der PT hatte Gewerkschaftskämpfe auf reine Lohnfragen reduziert, allfällige Kontaktaufnahmen von Rousseff mit der Basisprotestbewegung vom letzten Jahr sind real ausgeblieben (entsprechende Vorstösse der Präsidentin auf institutionellem Gebiet sind von den rechten Seilschaften im Parlament systematisch abgeblockt worden). Vermutlich hängt die massiv auf über 21 % gestiegene Wahlabstinenz damit zusammen.
Das Parlament gilt vorallem in der Abgeordnetenkammer als soweit rechts wie keines seit Ende der Militärdiktatur. Der PT hat klar Anteile verloren. Zur Veranschaulichung: In Saõ Paulo hat ein TV-Präsentator die meisten Stimmen als Abgeordneter gemacht, der aggressiv gegen das Recht auf Abtreibung und  generell Rechte von Minderheiten gegeifert hat. In Rio erzielte ein Ex-Militär das Spitzenresultat, der die Diktatur verherrlicht und sagt, er ziehe einen toten einem schwulen Sohn vor. Der PT hat zwar mit seinem „Bündnispartner“, der Rechtspartei PMDB, in beiden Kammer die Mehrheit, doch ist er dieses Mal geschwächt und der opportunistische PMDB gar noch gestärkt aus den Parlamentswahlen hervorgegangen.
Beschränken sich Rousseff, Lula und der PT weiter auf institutionelle Politikarrangements, dürfte ihr Niedergang, selbst vorausgesetzt, die Rechte hält sich an rechtsstaatliche Gepflogenheiten, besiegelt sein. Ein beträchtlicher Teil dieser „Arrangements“ liefert etwa den Nährstoff für die vielen Korruptionsfälle, wenn etwa die „verbündeten“ Profiteure des PMDB Geld und Posten fordern, um im Parlament die diversen Sozialprogramme der Regierung nicht zu köpfen. Ein weiterer Teil ist die Korruption von relevanten PT-Sektoren selber, bei einem dritten schliesslich werden reale oder oft auch nur angebliche Korruptionsfälle in staatlichen Unternehmungen wie etwa dem Ölunternehmen Petrobras benutzt, um diese unter Kontrolle des Privatkapitals zu bringen (was als demokratische Kontrolle, Transparenz und dgl. verkauft wird). (Dass „unsere“ Medien das extrem durchsichtige Manöver der rechten Zeitschrift Veja, welche in ihrer letzten, um einen Tag vorverlegten Ausgabe just vor dem 2. Wahlgang Lula und Rousseff direkt mit Korruptionsvorfällen in Verbindung bringt, als Orakel von Delphi behandeln, zeigt übrigens nur deren Korrumpierung und Unterordnung unter das transnationale Kommando auf. Gleichzeitig gibt man sich abgestossen von einer „Schmutzkampagne“,  die faktisch stets beim PT angesiedelt wird.)
Im institutionellen Gefüge scheint es wenig Spielraum für eine allenfalls linkere Politik des PT zu geben. Ob diese einst vibrierende Unterklassenpartei heute überhaupt noch willens und fähig ist, adäquat auf die Bewegungen vom letzten Jahr zu reagieren, indem sie eben „auf der Strasse“, in der Gesellschaft, für radikalere Reformen mobilisieren, wird sich weisen. Viele sehen das skeptisch. Nur so liesse sich dem reaktionären Trend real eine Alternativkraft entgegensetzen. Andernfalls bedeutet der Sieg einen Zeitgewinn von höchsten vier Jahren (Regierungsperiode) für das lateinamerikanistische Lager im Kontinent und für die Menschen in Brasilien immerhin ein paar Jahre mehr etwas sozialen Schutz als ohne, aber auch eine Phase der Zermürbung.
Letzten Sommer, unmittelbar vor der WM, brachte CNN en Español jeden Tag Sendungen und Diskussionen über das harte Schicksal der Favela-BewohnerInnen, wegen der Megaprojekte des PT (WM, Olympiade) ihre Heime verlieren. Es war absurd. Da paradierten jene ExpertInnen, fast mit Tränen in den Augen ob des Leids der Schwestern und Brüder in den Slums, denen ansonsten jeder kleine Hinweis auf soziale Opfer ihrer Rezepte als lächerlicher oder gefährlicher, auf jeden Fall marktverzerrender Unsinn gilt. Es war klar: Hier wird internationale Wahlkampagne (mit Rückkoppelung auf Brasilien) betrieben. Logischerweise verbreiteten die hiesigen Medien den gleichen Schmus. Man beruft sich dabei auf die Revolten letzten Jahres, die mit der Forderung nach passe livre – Gratis-ÖV – in Saõ Paulo begann und relativ bald von reaktionären Kräften vereinnahmt wurde. Es ist immer wieder das gleiche Manipulationsmuster: Ist eine Bewegung, Revolte zu stark und zu offensichtlich legitim, als dass sie einfach bekämpft oder totgeschwiegen werden könnte, wird sie in ihr perverses Gegenteil verkehrt: So betonten hieisige Medien bei der grossen Revolte 2001 in Argentinien, dass die Menschen zusammen mit dem IWF die „Unfähigkeit“ der (von den gleichen Medien vorher angehimmelten) Regierung bekämpften. Als die Sicherheitskräfte des NATO-Landes Türkei Mitte Oktober 40 der KurdInnen umlegten, die gegen die aktive aktive Komplizenschaft Ankaras mit der Offensive des IS gegen Kobanê protestierten,  hiess es, die Revolte kritisiere die zu grosse Passivität der Erdogan-Regierung. In Brasilien werden Bewegungen von unten, die sich wohl wegen mangelnder Organisation nicht erfolgreich gegen reaktionäre Vereinnahmung wehren konnten, als Bestätigung der eigenen Sichtweise missbraucht.
Nun, Dilma und der PT haben gewonnen. Aus den vom Neves-Lager angekündigten Offensiven gegen Bolivien (Kredite nur bei Wohlverhalten), Kuba ( Stopp der Infrastrukturinvestitionen), den Mercosur, Venezuela etc. wird erst mal nichts. Das ist schon viel. Und es bleibt die kleine Hoffnung, dass der Rückgriff in der Kampagne auf Dilma, die Guerrillera gegen den Horror der Militärdiktatur – unter dem Motto coraçao valente, tapferes Herz – nicht einzig der Werbetechnik zu verdanken ist.