Zu den Ereignissen in Venezuela

Freitag, 28. Oktober 2016



„Wieder marschiert Venezuela. Hunderttausende von Demonstranten sind am Mittwoch dem Aufruf der Opposition gefolgt und haben die Strassen etlicher Städte im ganzen Land eingenommen. Die Kundgebungen sind eine Reaktion auf den Beschluss des Nationalen Wahlrats, das angestossene Referendum über den Amtsverbleib von Präsident Maduro auf unbestimmte Zeit zu suspendieren. Am Mittwoch hätte die dafür notwendige Unterschriftensammlung beginnen sollen. Doch der Wahlrat setzte diese aus mit der Begründung, dass es bei der vorgängigen Unterschriftensammlung, die den Prozess des Referendums ausgelöst hatte, zu Unregelmässigkeiten gekommen sei.“
Ein Zitat aus dem heutigen NZZ-Artikel „Die Demokratie am seidenen Faden“, der weiter meint, die Demonstrationen habe die Rechte massiv gestärkt, der chavistischen Regierung das Wasser zum Hals stehe und sie, nicht die Rechte, um einen Dialog betteln müsse. Nun, in der elektronischen Version ist die Quelle für diese Einschätzung verlinkt: #TomaDeVenezuela, ein Twitteraccount der militanten Rechten mit Tweets auch von aus US-Ultras wie dem Senator Bob Menéndez.

Militaristischer Slang – wofür?
Kein Zweifel, die rechten Demos gestern waren gross. Allerdings offenbar nicht so gross wie auch schon. Wir werden sehen, wie das am Samstag und am nächsten Donnerstag weitergeht. Für diesen Tag hat Oppositionsleader Henrique Capriles schlicht die „Einnahme von Miraflores“ angekündigt, also die Besetzung des Präsidentenpalasts. Der Militärslang kennzeichnet zurzeit die Statements der rechten Chefs, und NZZ-Brühwiller lässt sich animieren. Die DemonstrantInnen haben, so der Schreiber, die Strassen „eingenommen“. Nun, Gewalt hat es gegeben. Im Gliedstaat Zulia ist der Chef einer Gemeindepolizei verhaftet worden, weil er offenbar auf eine Demo der Opposition schiessen liess. In mehreren Städten sind staatliche Gebäude mit Molotov-Cocktails angegriffen worden. Im Gliedstaat Miranda ist ein Polizist von rechten Gruppen erschossen worden und zwei weitere Polizisten wurden angeschossen. In Mérida kam es zu 37 Verletzten auf beiden Seiten einschliesslich von fünf angeschossenen Polizisten und zu Verhaftungen von Bewaffneten. Episoden, die das vom Mainstream bhochgehaltene nDemokratieverständnis verdeutlichen?
Bestimmt, es ist schwer, von aussen, ob aus der Schweiz oder aus Brasilien, das Kräfteverhältnis genau einzuschätzen. Aber die vortriumphalen Töne der Medientransnationalen und der venezolanischen Rechten lassen  aufhorchen. Denn so eindeutig, wie suggeriert wird, ist die Lage bei weitem nicht. Eine dpa-Meldung dieser Tage berichtete etwa von einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datanalisis, wonach 80 % der Bevölkerung eine Absetzung von Präsident Nicolás Maduro wolle. Nun ist dieses Institut bekannt für seine rechte Dienstfertigkeit, doch selbst es musste in der letzten Zeit eine gewisse Erholung des Chavismus zugeben. Hinterlaces, ein anderes Meinungsforschungsinstitut, veröffentlichte vor wenigen Tagen, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Rechte nicht an der Regierung sehen wolle. Nicht, dass für unsere Seite positive Umfragen per se „wahrer“ wären als andere, aber es ist tendenziös, sie auszublenden. Mediales Aufheizen – die Frage stellt sich, für was genau?  

Das Referndum als Tarnung
Das historische Gedächtnis der transnationalen Medien reicht zuweilen kaum ein paar Tage zurück. Soeben noch publizierten sie gegen die Anmassung des Wahlrats CNE, dass für die nächste geplante Phase im Abberufungsreferendum nicht einfach nur national mindestens 20 % der Stimmen der Wahlberechtigten gesammelt werden müssen, sondern diese Quote in jedem Gliedstaat erzielt werden müsse. (Eine Verfassungsvorgabe, aber das braucht nicht zu kümmern.) Die rechte Führung um Parlamentspräsident Ramos Allup erklärte, damit sei es aus für den Weg des Abberufungsreferendums, das Volk müsse jetzt den „Diktator“ absetzen. Die transnationalen Medien berichteten, wie der Chavismus stets neue Hindernisse aufbaue.
Vorher bewegte die Frage nach der Dauer bis zur Abberufungsabstimmung, also ob das Referendum vor oder nach dem 10. Januar 2017 stattfände. Falls die nötige Mehrheit gegen Maduro zustande käme, würde bei einem späteren Termin sein Vize Aristóbulo Istúriz nachrücken, vor dem 10. Januar wären Neuwahlen die Folge. Der Nationale Wahlrat CNE hatte den Termin auf nach dem 10. Januar angesetzt. Das war völlig legal. Die verschiedenen Schritte bis zur effektiven Abstimmung können (müssen aber nicht) laut dem massgeblichen Statut ohne weiteres eine solche Zeitspanne benötigen. Das Abberufungsreferendum gegen Chávez 2004 hatte 262 Tage bis zum Abstimmungstag gebraucht, mehr noch, als vom CNE für das aktuelle vorgesehen. Doch vom ersten Tag tönten die venezolanischen Rechte und das transnationale Medienimperium, der Chavismus blockiere das Referendum.
Real waren es die Widersprüche und Betrugsmanöver der Rechten, die das Referendum hinauszögerten. Im Dezember 2015 gewann sie die Parlamentswahlen, doch sie liess sich Zeit bis April 2016, bis sie das Referendum einleitete. Dies, obwohl sie natürlich genau wusste, dass damit rein zeitlich höchstwahrscheinlich keine Neuwahlen durchzusetzen wären. Denn die Rechte musste sich erst auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, wie die Regierung Maduro zu stürzen sei. In jenen Monaten diskutierte sie öffentlich folgende Varianten:
a)      Von Maduro einfach den Rücktritt verlangen.
b)      Ihn vor Gericht bringen.
c)       Ihn als geistig krank taxieren.
d)      Seine Wahl 2013 wegen angeblicher kolumbianischer Staatsbürgerschaft aberkennen.
e)      Seine Amtszeit nachträglich per Verfassungszusatz kürzen.
f)       Eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen.
g)      Strassenmobilisierungen.
h)      Abberufungsreferendum.
Real benutzte die Rechte das Abberufungsreferendum vom ersten Tag an als Argument für eine „Radikallösung“: den Sturz der Regierung Maduro über „Strassengewalt“, wie sie 2014 mit der sogenannten „salida“ versucht hatte, welche mindestens 44 Todesopfer, in ihrer Mehrheit Unbeteiligte und Chavistas, gefordert hatte. Die transnationalen Medien begleiteten diese Strategie mit ihrer Dauerlüge von den antidemokratischen Zuständen im Land.
In diesen Rahmen passt auch Folgendes: Letzten Juli hatte die Parlamentsmehrheit entgegen einer klaren Order des Bundesgerichts die drei KandidatInnen aus dem Gliedstaat Amazonas als Abgeordnete vereidigt, wo die Wahlen ziemlich eindeutig manipuliert worden waren. Am parlamentarischen Kräfteverhältnis hatte die Suspendierung nicht geändert, da unter den Suspendierten auch eine Chavista war. Der Wahlrat CNE als höchste Wahlautorität bekräftigte darauf hin, dass die drei nicht als ParlamentarierInnen fungieren können. Die Parlamentsmehrheit setzte sich provokativ darüber hinweg und agierte seither im rechtsfreien Raum. Wie immer das Untersuchungsresultat punkto Wahlbetrug ausfallen wird, es ist klar, dass das Parlament sich im rechtsfreien Raum bewegte. Die Annullierung durch das Oberste Gericht war damit eine logische Folge, nicht eine Marotte Maduros.
Doch wie kam es zur vorläufigen Sistierung des Abberufungsreferendums? In einem ersten Schritt musste das Referendumskomitee (der Parteienzusammenschluss Tisch der Demokratischen Einheit, MUD) die Unterschriften von einem Prozent der Wahlberechtigten beibringen, um das Prozedere zu starten. Statt der rund 200‘000 Stimmen legte die MUD fast 2 Millionen vor, als Beweis ihrer Stärke. Das Problem: Über 600‘000 der Unterschriften wiesen Fehler auf, darunter jene von 10‘995 Verstorbenen, 53‘658 nicht im Wahlregister eingetragenen Menschen, 3003 Minderjährigen und andere. Dies wurde so von den Organen des Wahlrats zur Kontrolle der Unterschriften einstimmig festgehalten, inklusive aller ihrer MUD-Mitglieder. Das ist etwas anderes als wie Brühwiller zu sagen, laut Wahlrat „sei es zu Unregelmässigkeiten gekommen“. In den Gliedstaaten reichten über 9000 Menschen zudem eine Klage auf, da sie ohne ihr Zutun, so ihre Aussage, auf der Unterschriftenliste auftauchten. Sieben Gerichte in mehreren Gliedstaaten haben daraufhin am 20. Oktober den Wahlrat angewiesen, das Referendum vorläufig zu stoppen.

Spielt die Zeit für den Chavismus?
Hat der Wahlrat rechtlich eine andere Möglichkeit gehabt? Scheinbar nicht. Natürlich kommt diese Entwicklung dem Chavismus insofern entgegen, als es ziemlich klar scheint, dass er auf Zeit spielt. Er geht offenbar davon aus, dass es ihm gelingt, mit der Zeit die weitgehend „künstlich“ erzeugte Versorgungskrise in den Griff zu kriegen und so die Gunst jener WählerInnen zurückzugewinnen, die bei den Parlamentswahlen 2015 zuhause geblieben sind, und nicht noch weitere Stimmen einzubüssen.  Im unmittelbaren Zentrum dieser Anstrengungen steht sicher die Direktversorgung in Unterklassenzonen durch die Basisstrukturen der CLAP (Lokale Versorgungskomitees), welche einem wichtigen Mechanismus der Versorgungskrise den Boden entziehen. In dessen Zentrum stand und steht noch der bachaqueo, also die kapillar organisierte Praxis, in den Ladenketten, die vom Staat massiv subventionierte Artikel des Alltagsbedarfs anbieten, diese dort einzukaufen und anschliessend auf den Schwarzmarkt mit seinen orbitanten Preisen zu schleusen. Dabei geht es nicht um individuelle Überlebensstrategien, sondern um organisierte Wirtschaftskriminalität, die sich auf ein Heer von Willigen abstützt – die während Jahren von kolumbianischen Paramilitärs betriebene Übernahme traditioneller krimineller Strukturen macht sich jetzt bezahlt. So genannte Hungerrevolten der letzten Zeit bestanden im organisierten, gewalttätigen Vorgehen mafiöser Strukturen der Rechten gegen Verteilaktionen der CLAP. Deren Schutz durch Sicherheitsorgane wird medial zum Repressionsbeleg.
Im weiteren gehören zu den Massnahmen, von denen sich das chavistische Lager einen Erfolg verspricht, etwa der Übergang von der Produktesubvention zur Subvention an arme Bevölkerungsschichten, was in der Konsequenz das wohl zentrale Moment des Wirtschaftskriegs beenden könnte: die Erschleichung billigster staatlicher Dollars durch Grossimporteure, darunter zentral die Filialen westlicher Multis, die teils direkt in Steuerparadiesen landen, teils von absurd überhöhten Importpreisen aufgefressen werden. Im Verlauf des an sich absolut richtigen Devisenkontrollregimes sind hier viele Milliarden Dollars „verschwunden“, was ohne Geschäftsbeteiligung sogenannter „chavistischer Bourgeois“ mit besten Beziehungen in den Staatsapparat nicht möglich gewesen wäre. Auch eine Verteuerung von Preisen von Alltagsgütern könnte mit den Direktsubventionen an Arme gut aufgefangen werden, Güter, die heute fast nur im absurd überteuerten Schwarzmarkt erhältlich sind.
Es gibt weitere, teilweise kritisch zu rezipierende Instrumente, mit denen der Chavismus nicht nur die Versorgungskrise beheben, sondern auch von der Ölabhängigkeit wegkommen will. Hier ist nicht der Ort, darauf einzugehen, also halbwegs interessante Fragen dazu zu stellen. Jedenfalls geht der Bolivarianismus in Venezuela davon aus, dass er morgen besser dastehen wird als heute und sowieso als gestern. Ob dem so ist, kann ich nicht beurteilen. Die Rechte jedenfalls scheint das ernst zu nehmen und drängt deshalb auf eine rasche „Lösung“, notfalls mithilfe ausländischer Intervention.

Punkte der Eskalation
Dies erklärt die Parlamentssession vom 23. Oktober, in der sich die Parlamentsmehrheit in „Rebellion“ befindlich erklärte und folgende Punkte beschlossen:
a)      Präsident Maduro hat einen Staatsstreich durchgeführt.
b)      Die internationale Gemeinschaft soll „die Mechanismen ergreifen, die nötig sind, um die Rechte des Volks zu garantieren“.
c)        Wahlrat und Oberstes Gericht vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen.
d)      Über die Doppelbürgerschaft Maduros befinden, um ihn abzusetzen.
e)      Über Maduros Verlassen seines Amts zu entscheiden, um ihn abzusetzen.
Zum letzten Punkt: Maduro hatte eine dreitägige Reise nach Aserbeidschan, Saudi-Arabien und Iran angetreten, um die Ölpreispolitik zu diskutieren, die für Venezuela extrem wichtig ist. Die rechte „interpretiert“ das als Verlassen des Amts. Zur Doppelbürgerschaft: Längst liegt eine offizielle Erklärung Kolumbiens vor, dass Maduro in keinem Geburtsregister des Landes aufzufinden sei.
Es scheint ziemlich klar, dass die inneren Kräfte der Reaktion in Venezuela nicht ausreichen, um den Chavismus von der Regierung zu jagen. Was Strassenmobilisierungen betrifft, hat die Rechte meist das grosse Nachsehen. Der Chavismus ist mehr als ein Regierungslager. Anscheinend etwa 300‘000 Menschen sind in Basisstrukturen organisiert. Angesichts dessen ist der parlamentarische Interventionsappell an die „internationale Gemeinschaft“ ernst zu nehmen. Heute treffen sich die Regimes von Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay und werden Venezuela wohl aus dem Mercosur hinauswerfen, da es dessen „Demokratieklausel“ nicht genüge. Der Laufbursche Washingtons in der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, rief am 24. Oktober die OAS-Regierungen zu Aktionen gegen Venezuela auf (einmal mehr). Vermutlich wird sich in den kommenden Tagen ein einschlägiges Trommelfeuer verdichten.

Humanitäre Krise?
Dabei könnte die globale Rechte auch wieder ihr Herz für die Armen zeigen und die „humanitäre Krise“ in Venezuela beweinen, der zu trotzen doch Menschengebot sei. Die Rede von der humanitären Krise in Venezuela als Interventionsgebot für die internationale Gemeinschaft  als Interventionsgrund hatte im Oktober 2015 der damalige Chef des US-Südkommandos, General Kelly, aufgebracht. Von der Washington Post bis zum Magazin des Tagesanzeigers etc. vergiessen seither JournalistInnen Krokodilstränen und lügen in immer wieder neu beeindruckendem Ausmass daher. Bei so viel Emotion haben Nachrichten keinen Platz, die etwas anderes sagen. Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL sieht keine humanitäre Krise in Venezuela. Sie ist keine linke Institution. Gerade gestern berichteten venezolanische Medien über eine Erklärung der CEPAL-Exekutivsekretärin Alicia Bárcena, die versicherte,: „Im Land gibt es keine humanitäre Krise, definitiv nicht, das muss man klar haben.“
In Caracas gibt es seit gestern eine andauernde chavistische Mobilisierung vor dem Präsidentenpalast Miraflores. Die heute auch von Parlamentspräsident Ramos Allup geäusserte Absicht, am nächsten Donnerstag vor den Miraflorespalast zu ziehen, erinnert zu sehr an den Putsch vom 11. April 2002. Eingeleitet hatten ihn die Putschisten mit einer Demo gegen Miraflores, in der ihre Gemeindepolizei von Caracas  erst auf eigene und dann auch auf chavistische GegendemonstrantInnen schossen. Die Toten wurden in Fernsehauftritten, die noch vor der Demo aufgenommen wurden, als Rechtfertigung für den Putsch genommen. Brav kolportiert, logo, und nie zurückgenommen, einfach nicht mehr aufgewärmt, von den transnationalen Medien. Am 13. April brach der Putsch zusammen.
Ein Slogan heute lautet: „Denen, die nach einem 11. Rufen, antwortet das Volk wie am 13.“