Lynchjustiz

Donnerstag, 13. Juli 2017



Basem Tajeldine*
Gestern war ich an einer Lnychaktion präsent. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was wir seit langem denunzieren: Die venezolanische Rechte hat ihr Ziel erreicht, in relevanten Sektoren der venezolanischen Gesellschaft Hass und Mordlust zu verankern.
Das, was ich sah, war entsetzlich. Ein makabres, die Grenzen überschreitendes Fest der Nekrophilie. Nachdem der Unglückliche gefangen war, kamen die Jugendlichen des Stadtteils Lomas de Avila aus ihren Appartements, die Baseballschläger in der Hand, um ihren Hass und ihr Ressentiment an dem auszulassen, von dem einige sagen, er habe einen Raub begangen. Niemand überprüfte dies. Der Arme, schon angeschossen, blutend und geschlagen von den ersten, die zur Lynchaktion herbeieilten, war danach bewusstlos. Jetzt begann das sadistische Lynchen mit den Baseballschlägern. Einer nach dem anderen und manchmal mehrere zusammen schlugen sie ihm auf den Kopf und die Rippen. Schliesslich kam einer der Mörder und schoss eine Salve auf den Armen ab, der weder Zeit hatte zur Reue noch um Milde zu bitten. Der Tote war schon richtig tot und doch gingen die Schläge einige Minuten lang weiter. Niemand wollte die Chance auslassen, seine Wut raus zu lassen. Viele Nachbarn feierten, pfiffen und schlugen Pfannen zu den Rufen: «Tötet den Dieb! Sicher ein Chavista! Fester drauf! Er soll sterben!»
Da rief eine empörte Nachbarin laut: «Diesen Wahnsinn kann niemand rechtfertigen.» Doch was nützte ihr ihre berechtigte Empörung! Ihre Nachbarn beleidigten sie und schrien: «Hau ab, verdammte Chavista! Krepier auch du!»
Die Frau versteckte sich verängstigt.
Wir erleben schwierige Zeiten kapitalistischer Barbarei. Wie früher schon und während des 2. Weltkriegs feiern unheilvolle Ideologien Urständ. Und wie stets ergreifen sie die «Mittelschicht», die ihre Rolle auf dem Schachbrett spielt. Militärisch ausgebildete Gruppen, die auf Mord sinnen, haben sich einiger Wohngebiete mit Unterstützung der AnwohnerInnen bemächtigt. So fing der Paramilitarismus in Kolumbien an. Venezuela hat sich «kolumbianisiert.» Ich bin traurig und schockiert. Vorallem aber fühle ich mich so impotent, weil ich nicht habe machen können. Lomas del Avila ist eine von gefährlichen paramilitärischen Gruppen, unterstützt von wutentbrannten Bürgern, beherrschte Zone.
·         Resumenlatinoamericano.org, 11.7.17: Venezuela: Un nuevo asesinato fascjista tras bnrutal linchamiento. Der Autor ist Militanter der sozialistischen Partei PSUV. Lomas del Avila befindet sich im Osten von Caracas.
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(zas, 13.7.17) Am 8. Juli tweetete der venezolanische Ombudsmann, Tarek William Saab: «Um 2:07 erhielt ich einen Anruf von @FreddyBernal, dass in der Siedlung Los Verdes des Stadtteils El Paraíso gelyncht werden soll.» Die Guardia eilte zum Ort und konnte den Mann retten. Er war nackt an einen Pfosten angebunden. «Wir stellten fest», so Saab danach, dass die Täter «völlig straffrei und am helllichten Tag agierten.» Er legte Fotos vor, die einige der Täter zeigten, gleich «wie in Fällen der Meuten im Einkaufszentrum CCCT und in der Mehrzahl der fast 30 gleich gelagerten Fälle in den Monaten April und Mai. Die Täter bleiben unbehelligt.» (Im CCCT kam es zwei Mal zu schlimmen Verprügelungen vermeintlicher Chavistas durch Gruppen, die nach einer nahe gelegenen «Strassenblockade gegen die Diktatur» noch shoppen wollten.  Die «Chavistas» entpuppten sich beide Male als AnhängerInnen der Opposition, die allerdings entsetzt waren über das Vorgehen der «Freiheitskämpfer».)

Saab sagte weiter zum «Fall des geschundenen, an einen Pfosten in El Paraíso gefesselten Herrn», dass die Guardia Nacional Bolivariana ihn vor «diesen neuen Neonazis» noch rechtzeitig retten konnte, «die jetzt für einige zu «Helden» geworden sind. Wer ihm das Seil um den Hals legt, und seine Komplizen, sind Mörder in spe und müssen als solche behandelt werden. Diese Art von Neonazismus schreitet in Riesenschritten in Venezuela voran, ohne dass die Justiz trotz vieler Beweise dieser Barbarei Einhalt gebieten würde. Und morgen ist es schon sehr spät.»
In den Sozial Media zirkuliert ein Video einer aufgebrachten Bürgerin vom «Ereignis», die den Geschundenen als Dieb bezeichnet und meint, dies sei eine Lektion: In ihrem Wohnbezirk dulde man keine Diebe.
Sabas Kritik an der Justiz bezieht sich hauptsächlich auf die Generalstaatsanwaltschaft, deren Chefin jetzt als Kader der PutschistInnen agiert. Gerade heute hat Maduro an einer Versammlung von Opfern der Gewaltangriffe von 2014 gesagt, es sei jetzt klar, warum gegen die damaligen Täter bis heute kein Strafverfahren eingeleitet worden sei.
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Wir könnten von weiteren Mordfällen der letzten drei Tage berichten, etwa vom Kandidaten für die Konstituante, der vorgestern an einem Meeting erschossen wurde, oder vom Autofahrer, der ebenfalls gestern oder vorgestern das tödliche Pech hatte, in eine Barrikadenfalle zu fahren. Doch legen wir den Asbestanzug an und wenden uns einer dpa-Nachricht zu:

92 Tote in 100 Tagen bei Protesten in Venezuela
(dpa) · Bei den Protesten gegen die sozialistische Regierung von Präsident Nicolás Maduro ist in Venezuela erneut eine Person ums Leben gekommen. Ein 16-Jähriger sei bei einer Demonstration in der Region Carabobo erschossen worden, teilte die Generalstaatsanwaltschaft am Montag mit. Damit ist die Zahl der Todesopfer bei den seit 100 Tagen andauernden Protesten auf 92 gestiegen. Die Opposition rief für kommenden Sonntag zu einer Volksabstimmung gegen die von Maduro geplante Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung auf. Die Regierungsgegner lehnen die Wahl als verfassungswidrig ab. Sie werfen dem Staatschef vor, die Versammlung mit seinen Anhängern besetzen zu wollen, um seine Macht weiter zu festigen.

Eine seit Monaten repetierte Art von Meldung: Es wird wohlweislich nicht direkt formuliert, aber so oft suggeriert, dass es längst schon zum Allgemeinwissen gehört: Die Regierung ist schuld am Morden. Im Fall des genannten 16-Jährigen stammt die «Information» von zwei rechten Abgeordneten. Aus diesen Kreisen sind mehrmals von den «Freiheitskämpfern» ermordete Unbeteiligte oder Chavistas als von der «Diktatur» ermordete Oppositionelle hingestellt worden, wogegen dann deren Angehörige protestiert haben. Es kann natürlich sein, dass es sich im vorliegenden Fall anders verhält. Für uns entscheidend ist zu kapieren, dass sich die Nachrichtenagenturen und generell der mainstreamisierte Medientross markant anstrengen müssen, einzig und allein diese Nachricht mitzuschneiden und in die hiesigen Desinformatiosnkanäle zu speisen. Einige dieser «kritischen Medienschaffenden» konsultieren wohl prinzipiell ausschliesslich lokaler Imperiumsmedien, andere werden bewusst lügen.
Wer ein genaueres Bild über die Todesfälle haben will, konsultiere eine detaillierte Untersuchung vom 10. Juli in venezuelanalysis.com, mit Erläuterungen zu jedem einzelnen Todesfall.  Zwar ist eine beträchtliche Anzahl ungeklärt oder umstritten, in den klaren Fällen aber «führt» die Rechte als Urheberin von Morden. Man stelle sich eine Berichterstattung vor, die etwas mit dieser komplexen Realität zu tun hätte! Doch regime change muss sein. 
aus der Untersuchung von venezuelanalysis.com

Ein letztes noch: Viele in Venezuela sehen in diesen «Entgleisungen», von denen sich die Opposition nie distanziert, natürlich die Miserabilität dieser Figuren und den allenfalls kommenden Terror im Falle eines rechten Sieges. Darüber hinaus aber wird in vielen Berichten aus Venezuela betont, diese «Vorfälle» seien integrierter Teil der Strategie der paramilitärischen Komponenten der «friedlichen Bürgerrevolution». Angst und Hass sollen die Fundamente eines gesellschaftlichen Zusammenlebens undenkbar machen. Deswegen komme es kaum je auch nur zu einer halblauten Distanzierung der rechten Eliten.
Mehrere solcher «Vorfälle» auf Video erinnern an den weissen Mob auf den Strassen von Santa Cruz 2008 in Bolivien. Er jagte und demütigte damals Indígenas auf den Strassen der putativen Sezessionshauptstadt. Es war, als habe die SA wieder marschiert.