Brasilien: Der Chicago Boy und sein Präsident

Montag, 12. November 2018

Die Pläne von Bolsonaros künftigem Superminister Paulo Guedes erinnern an die Wirtschaftspolitik der Diktatur in Chile
Der zukünftige Superminister Paulo Guedes (li.) und Brasiliens designierter Präsident Jair Bolsonaro
Der zukünftige Superminister Paulo Guedes (li.) und Brasiliens designierter Präsident Jair Bolsonaro
Quelle: @jairbolsonaro
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Deutsche Wirtschaftskreise geben sich mit Blick auf den künftigen brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro hoffnungsfroh und verweisen dazu auf das Wirtschaftsprogramm seines Superministers in spe, Paulo Guedes. Guedes wirkte zur Zeit des Militärregimes von Augusto Pinochet als Dozent an der Universidad de Chile; seine Pläne ähneln der Wirtschaftspolitik der chilenischen Militärdiktatur. Bolsonaro, der sich seit rund einem Jahr von Guedes beraten lässt, wird von der brasilianischen Wirtschaft bejubelt, nicht zuletzt vom brasilianischen Partnerverband des BDI, der Confederação Nacional da Indústria (CNI), in der deutsche Unternehmen eine starke Stellung innehaben. Deutsche Konzerne hatten bereits mit der brasilianischen Militärdiktatur kooperiert. Bolsonaros Sieg versetzt der Politik einer vorsichtigen Umverteilung zugunsten verarmter Bevölkerungsschichten den Todesstoß, für die die Präsidenten Lula da Silva und Rousseff standen und die im Kern schon mit dem kalten Putsch vom Mai 2016 beendet wurde ‒ unter dem Beifall deutscher Unternehmer.

"Kein Flirt mit dem Sozialismus"

Mit dem Wahlsieg des ultrarechten Kandidaten Jair Messias Bolsonaro kommt in Brasilien eine beinahe eineinhalb Jahrzehnte währende Ära endgültig zum Abschluss, die Dutzenden Millionen verarmten Brasilianern eine spürbare Verbesserung ihrer desolaten Lebensverhältnisse gebracht hatte. In den Amtszeiten von Staatspräsident Lula da Silva (2003 bis 2010) und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff (2011 bis 2016) war es der regierenden Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, PT) gelungen, rund 24 Millionen Menschen ‒ Bewohner des bitterarmen Nordostens und der riesigen Elendsviertel der Großstädte ‒ der absoluten Armut zu entreißen. Vielen einst weitgehend mittellosen Brasilianern gelang der Aufstieg in die unteren Mittelschichten.1 Den treibenden Kräften dieser Entwicklung hat Bolsonaro, der seinen Wahlsieg jahrelangen konzentrierten Vorarbeiten ultrarechter Militärs verdankt2, nun unerbittlich den Kampf angesagt. "Wir können nicht weiter mit dem Sozialismus, Kommunismus oder Extremismus flirten", erklärte er in seiner ersten Rede nach der Wahl. Bereits im Wahlkampf hatte er angekündigt, soziale Bewegungen wie die Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST) sowie die Wohnungslosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto, MTST) als "terroristische Vereinigungen" verfolgen zu wollen.3 Seinen Wahlerfolg stützte Bolsonaro vor allem auf die meist weißen herrschenden Kreise des Landes, auf die weißen Segmente der Mittelschichten und auf ultrarechte evangelikale Pfingstkirchen, deren Anhängerzahl in Brasilien mittlere zweistellige Millionenhöhe erreicht.

Der kalte Putsch

Mit seinen Drohungen radikalisiert Bolsonaro den Kampf gegen die brasilianische Linke und die PT, den die herrschenden Kreise des Landes schon im Mai 2016 mit einem kalten Putsch gegen die gewählte Präsidentin Rousseff (PT) gestartet hatten. Rousseff war damals unter dem Vorwurf, sie habe gegen Haushaltsgesetze verstoßen, in einem weithin kritisierten Verfahren ihres Amtes enthoben worden. Die rechtsliberale Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB), die anschließend mit Michel Temer den Übergangspräsidenten stellte, hatte ausweislich geleakter Telefonmitschnitte vorab die Zustimmung der brasilianischen Militärführung zu dem kalten Putsch eingeholt; die Generäle hatten dabei zugesagt, den Umsturz zu "garantieren"4. Temer, dessen Regierung ausschließlich aus weißen Männern bestand, hatte damals umgehend angekündigt, die Sozialprogramme der PT-Regierungen umfassend kürzen zu wollen. Dies hat er dann auch in die Tat umgesetzt.5 Allerdings ist es ihm nicht gelungen, sich den Korruptionsermittlungen zu entziehen, die die PMDB und bald auch ihn selbst erfassten. Anders als im Falle von Rousseff wurde gegen ihn freilich kein Amtsenthebungsverfahren angestrengt. Bereits Ende 2016 gab nur ein Zehntel der Bevölkerung an, mit seiner Amtsführung zufrieden zu sein; 2017 sank der Prozentsatz weiter, zeitweise auf drei Prozent. Bei Wahlen hätte Temer keine Chance gehabt.

"Effiziente Wirtschaftspolitik"

In der deutschen Wirtschaft ist bereits der kalte Putsch gegen Rousseff auf Zustimmung gestoßen. Dabei handelt es sich nicht um eine Marginalie: Die Bundesrepublik gehört zu den bedeutenderen Investoren und Handelspartnern Brasiliens; deutsche Konzerne wie VW do Brasil sind eine feste Größe in der brasilianischen Industrie. Das Auswärtige Amt beziffert den Bestand deutscher Direktinvestitionen in dem Land unter Einschluss von Reinvestitionen auf mehr als 20 Milliarden Euro ‒ mehr als in jedem anderen lateinamerikanischen Land. Über 1.300 deutsche oder deutsch-brasilianische Unternehmen beschäftigen in Brasilien rund 250.000 Menschen und erwirtschaften einen Anteil von geschätzten zehn Prozent des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Industriemetropole São Paulo ist seit Jahrzehnten einer der bedeutendsten Auslandsstandorte deutscher Firmen.6 Insofern hatte das ausdrückliche Lob für Präsident Temer aus deutschen Wirtschaftskreisen stets erhebliches Gewicht. So urteilte etwa Andreas Renschler, Vorstandsmitglied der Volkswagen AG, im Herbst 2017, die Regierung Temer habe "eine radikale Transformation des Landes" begonnen, die den brasilianischen Markt nun "für die Zukunft viel attraktiver und wettbewerbsfähiger aufstellen" werde.7 Gleichzeitig hieß es beim Lateinamerika-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (LADW), es sei "erstaunlich, was ein gutes Finanz- und Wirtschaftsteam in einer Regierung bewirken kann ‒ auch wenn diese selbst höchst unbeliebt ist". Präsident Temer sei es mit einer "effizienten und kohärenten Geld- und Wirtschaftspolitik" in nur "einem Jahr gelungen, wieder Vertrauen zu schaffen" 8 ‒ ein "Vertrauen", das unter den PT-Vorgängerregierungen gelitten habe.
Als "Wunschkandidat der Märkte" bezeichnete die Deutsche Bank Bolsonaro in einer Mitteilung zur ersten Wahlrunde im Kurznachrichtendienst Twitter und erntete dafür heftige Kritik
Quelle: @DeutscheBankAG

Stehende Ovationen

Bereits im Sommer haben Kritiker darüber hinaus auf eine offenbar wohlwollende Billigung von Bolsonaros Politik durch in Brasilien tätige deutsche Unternehmen hingewiesen. Anlass war ein Auftritt Bolsonaros am 4. Juli vor der brasilianischen Confederação Nacional da Indústria (CNI), einer Partnerorganisation des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). In der CNI hätten deutsche Unternehmen "ein sehr großes Gewicht", vor allem über die Industrieverbände von São Paulo (FIESP) und von Rio de Janeiro (Firjan), hieß es in einer Stellungnahme des Dachverbandes der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre sowie der Kooperation Brasilien (KoBra), die wenige Tage nach dem Auftritt veröffentlicht wurde.9. Bolsonaro habe vor der CNI seine bekannten antidemokratischen, rassistischen, sexistischen und teilweise "offen faschistischen" Positionen vertreten, hieß es weiter: Dafür sei er von einem großen Teil der Industrievertreter "mit stehenden Ovationen gefeiert" worden. Ein Großteil der in Brasilien tätigen deutschen Firmen sei "Mitglied der verschiedenen CNI-Mitgliedsorganisationen". Sie trügen den Kurs der CNI ohne jegliche Distanzierung mit. Das sei "absolut inakzeptabel".

Pinochets Professor

Unbestimmt, aber doch hoffnungsfroh hat sich der LADW zuletzt im September in einem Rundschreiben zu der bevorstehenden Wahl geäußert. "Ein 'Weiter so' tut es in Brasilien nicht", befand VW-Vorstandsmitglied Renschler; das sei "ein Grund für Zuversicht!"10 Im selben Rundschreiben antwortete der brasilianische Ökonom Ricardo Sennes auf die Frage, ob "man sich vor den Wahlen in Brasilien fürchten" müsse, zwar vertrete Bolsonaro "rechtsextreme" Positionen: "Sein wirtschaftlicher Berater ist jedoch ultraliberal mit einem PhD der Universität Chicago und Erfahrungen von der Pinochet-Regierung in Chile." 11 In Chicago lehrte, als Guedes dort studierte, Milton Friedman, dessen Wirtschaftsprogramm einige seiner Schüler ("Chicago Boys") unter der Militärdiktatur von Augusto Pinochet in Chile realisierten - mit einer radikalen Deregulierung und dem Ausverkauf jeglichen Staatseigentums. Bolsonaros bisheriger Wirtschaftsberater und künftiger Superminister für Wirtschaft, Industrie und Handel, Paulo Guedes, hat eine Zeitlang gleichfalls unter der chilenischen Militärdiktatur gearbeitet: als Wirtschaftsprofessor an der Universidad de Chile in Santiago, von der Oppositionelle zuvor kompromisslos entfernt worden waren. Seine bislang bekannten Pläne erinnern an die Wirtschaftspolitik der chilenischen Militärdiktatur.

Kollaborateure

Deutsche Unternehmen haben damals mit diversen lateinamerikanischen Militärdiktaturen eng kooperiert ‒ nicht nur in Chile, sondern etwa auch in Argentinien und in Brasilien. Für Brasilien ist vor allem der Fall VW do Brasil gut dokumentiert (german-foreign-policy.com berichtete 12).
  • 1. Daniel Flemes: Wahl in Brasilien: Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. GIGA Focus Lateinamerika, Nummer 5. Hamburg, September 2018.
  • 2. Siehe Amerika21: Rechtsextremer Bolsonaro - Zögling des Militärs in Brasilien. 27.10.2018.
  • 3. Siehe Amerika21: Brasilien: Rechtsextremer Jair Messias Bolsonaro ist Präsident. 29.10.2018.
  • 4. Siehe den German Foreign Policy-Beitrag bei Amerika21: Wende in Lateinamerika
  • 5. Katharina Hofmann: Der Präsident knechtet die Schwächsten. zeit.de 04.10.2017.
  • 6. Brasilien: Beziehungen zu Deutschland. auswaertiges-amt.de.
  • 7. Andreas Renschler: Ja, Brasilien kann es! LADW Sunday Brief No 6. Oktober 2017.
  • 8. Alexander Busch: Wirtschafts- und Geldpolitik schaffen Vertrauen. LADW Sunday Brief No 6. Oktober 2017.
  • 9. Die Rolle und Verantwortung deutscher Firmen. kooperation-brasilien.org 0.6.07.2018.
  • 10. Andreas Renschler: Ein "Weiter so" tut es in Brasilien nicht - ein Grund zur Zuversicht! LADW Sunday Brief No 9. September/Oktober 2018.
  • 11. Herr Sennes, muss man sich vor den Wahlen in Brasilien fürchten? LADW Sunday Brief No 9. September/Oktober 2018.
  • 12. Siehe dazu Auf Blut gebaut (II).