Die Krise in Venezuela: Die Sicht der Kommunen

Sonntag, 12. Mai 2019


(zas, 11.5.19) Es vergeht kein Tag, an dem nicht Informationen kursieren, die entweder bedrohliche militärische Angriffe auf Venezuela nahelegen oder diese «Option» als unwahrscheinlich darstellen. Am 8. Mai etwa gab die Washington Post in A frustrated Trump questions his administration’s Venezuela strategy hohe US-Offizielle wieder, wonach Trump von der Pro-Kriegs-Strategie seines Nationalen Sicherheitsberaters abrücke, der die Möglichkeit für den Sturz Maduros viel zu optimistisch dargestellt habe. Er wolle zudem die Wahlen 2020 nicht mit dem Makel bestreiten, ein angesichts der Armee und der Volksmilizen in Venezuela auch für die USA verlustreiches und lang andauerndes «Abenteuer» vom Zaun gebrochen zu haben. Einen Tag darauf gibt der Chef des gegen Lateinamerika und die Karibik gerichteten Südkommandos der US-Armee per Twitter bekannt, man sei für die Unterstützung putschistischer Militärs in Venezuela parat. Gestern patroullierte ein Kriegsschiff der US-Küstenwache provokativ in venezolanischen Gewässern. Jedes Mal, wenn Guaidó eine entsprechende Anweisung erhält, sagt er wie heute, dass er einer kriegerischen Operation zustimmen könnte. Und falls nicht Krieg, dann Aushungern, was die Post meint, wenn sie schreibt: «US-Offizielle denken, die Zeit sei auf ihrer Seite und Maduro werde durch sein eigenes Gewicht zu Fall gebracht» (gemeint die systematische Zerstörung der Wirtschaft und damit enorme Verschärfung der Notlage der Bevölkerung durch die Sanktionsregime).

In dieser dramatischen Lage kann es für Linke nur eines geben: die Reihen gegen den Staatsterrorismus der Washingtoner Gemeinschaft schliessen. Dies gesagt, tun wir aber auch gut daran, etwas von der Dynamik in den gesellschaftlichen Kämpfen des militanten Basis-Chavismus mitzukriegen. Der folgende Artikel des mit Venezuela gut vertrauten Autors gibt in diesem Sinn mehrere Stimmen und Einschätzungen aus der Kommunenbewegung wider. Eine wichtige Kritik ist etwa, dass die Verteilung von Lebensmittelpaketen zu Billigpreisen an 6 Millionen Haushalte (bei einer Bevölkerung von 30 Millionen (vor der Emigration…) völlig auf Importwirtschaft statt auf dezentraler kooperativer Produktion im Land beruht. Tatsächlich sind diese CLAP-Programme durch die US-Sanktionen seit einiger Zeit massiv behindert; es ist kein Zufall, dass das US-Finanzministerium diese CLAP-Programme in einer «Warnung» vom 3. Mai 2019 als Teil der Korruption und der Geldwäscherei angreift. (Und natürlich ist es auch kein Zufall, dass diese Tage in mehreren Medien Berichte mit genau dieser Message kommen.)

Es scheint, dass die Importabhängigkeit zur Achillesferse dieses breiten Ernährungsprogramms wird. Von aussen ist die auch im folgenden Artikel formulierte Kritik an den CLAP-Programmen schwer einzuschätzen. Welche Möglichkeiten etwa hatten Agrarkoops u. ä. gehabt, Millionen von Menschen mit staatlicher Unterstützung zu ernähren, wie das die CLAP-Komitees taten? Aber angesichts einer seit Jahren immer wieder auftretenden Sabotage etwa an der kooperativen Landwirtschaft durch Teile des Regierungsapparats ist die Kritik sehr ernst zu nehmen, auch, weil sie aus dem Mund ausgewiesener KämpferInen stammt. Wenn etwa Landwirtschaftsminister Soteldo letztes Jahr von sich gibt, es brauche eine «revolutionäre Bourgeoisie», ist doch einigermassen klar, woher der Wind weht.

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Federico Fuentes*

Am 30. April hatte Oppositionsführer Juan Guaídó zu Strassendemonstration für die Unterstützung seines militärischen Putschversuchs gegen Präsident Nicolás Maduro aufgerufen. Es vergingen nur wenige Stunden, bis seine Anhänger das Hauptquartier der Kommune Indio Carucao im Südwesten von Caracas in Brand gesetzt hatten. Das Gebäude diente für Versammlungen der AnwohnerInnen und beherbergte ein von der Kommune betriebenes Textilunternehmen, das Projekte in der Gemeinschaft finanziert.
Atenea Jiménz von Nationalen Netzwerk der KommunardInnen (Red Nacional de Comuneras y Comuneros, Kommunen-AktivistInnen) kommentierte: «Wieder einmal beginnen faschistische Angriffe auf die Kommunen.» Sie verwies allerdings auch darauf, dass KommunardInnen «von Regierungssektoren verfolgt werden» und bezog sich dabei auf die zehn seit ihrer Verhaftung am 11. Februar inhaftierten KommunardInnen, die eine staatliche Reisverarbeitungs-Fabrik im Gliedstaat Portuguesa besetzt hatten. Der Protest erfolgte wegen der Weigerung des privaten Fabrikmanagement, mit lokalen ProduzentInnen zusammenzuarbeiten. «Und warum passiert das?», fragte sie und antwortete: «Weil die Kommune der einzige Ort ist, der die Macht in Frage stellt (…) Sie ist einer der wenigen, echten Plätze von unten für den Aufbau von Demokratie.»

Graswurzel-Macht
Die Kommunen versuchen, die Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales) zusammenzubringen, die in den Städten zwischen 200-400 und auf dem Land zwischen 20-50 Familien umfassen. Das Ziel ist, auf Nachbarschaftsebene Fragen der Wohnung, der Erziehung, der Gesundheit und des Zugangs zu Grunddienstleistungen zu lösen. Die Entscheide über Prioritäten und wie diese anzugehen sind, werden im Vollversammlungen der AnwohnerInnen entschieden.
Die Idee von Kommunen ist, dass lokale Nachbarschaften gemeinsam grössere Projekte angehen und dank gemeinschaftlich betriebener, eigener Unternehmen selbstständig werden. Für Hugo Chávez stellten die Kommunen das Fundament eines kommunalen, auf partizipatorischer Demokratie beruhenden Staats dar.
Dem Kommunenministerium zufolge sind derzeit 47000 Nachbarschaftsräte und fast 3000 Kommunen registriert. Aber viele der AktivistInnen, mit denen ich während meines März-Besuches sprach, gehen von tieferen Zahlen aus. Jiménez erklärte: «Die Bewegung involviert Kommunen, die sich über die letzten zehn Jahre konsolidiert haben.» In dieser Zeit «hat es neue Kommunen und spannende Fortschritte gegeben, aber natürlich haben sich einige Kommunen aufgelöst. Aber die Kommunen bleiben aktiv und haben ein bemerkenswertes Niveau der politischen und ideologischen Konsolidierung erreicht – und die Bereitschaft, weiter zu machen.»

Selbstverwaltung
Gsus García von der Sozialistischen Kommune Altos de Lídice, die sieben Nachbarschaftsräte hoch oben in der La Pastora-Gegend von Caracas vereint, erklärte, dass die Kommunen entstanden, weil «die Nachbarschaftsräte erkannten, dass sie die gleichen Probleme haben, die sie aber getrennt nicht lösen können.» Er fügte an, dass es bei der Kommune «nicht einfach um gemeinsames Problemlösen geht, wir streben darüber hinaus eine reale Selbstregierung an.»
Während García anerkennt, dass die Kommunen aus dem Chavismo entstanden, hat die Kommune Altos de Lídice auch Mitglieder, die gegen Maduro sind: «Viele sind unzufrieden, es gibt viel Opposition. Und doch bringen sie sich in die Dynamik der Kommune ein; sie weisen sie nicht zurück, sondern akzeptieren sie, und nach und nach verstehen sie, dass wir zusammen mehr ausrichten. Sie sehen, dass wenn wir uns nicht zusammentun, wir beide deswegen leiden werden. Deshalb müssen wir geduldig sein und uns verstehen. Das Mass an Geduld hat mich überrascht. Ich denke, in jedem anderen Land mit Ereignissen wie die hier letztes und dieses Jahr wäre es schon zur Explosion gekommen.»
Im nahe gelegenen Stadtteil 23 de Enero gibt die Kommune Panal 2021 mit acht Nachbarschaftsräten und ungefähr 3600 Familien ein Beispiel für die Selbstregierung, die viele KommunardInnen anstreben. Cucaracho, ein Panal 2012-Aktivist, erklärte, dass die Kommune damit begann, dass AktivistInnen Geld mit Tombolas und anderen Aktivitäten auftrieben. Die Kommune hatte eine Weile Mitverwaltung mit staatlichen Mitteln für Projekte und ist jetzt selbstverwaltet.
Panal 2021 hat eigene Bäckereien, ein Verpackungsunternehmen für Textilien und Zucker und ein Lager und ein Verteilzentrum für Nahrungsmittel. Die Erlöse aus diesen kommunalen Unternehmen fliessen in eine kommunale Bank und Mitgliederversammlungen beschliessen über die damit finanzierten Gemeinschaftsprojekte.
Wie bei den meisten heute existierenden Kommunen war die Fähigkeit von Panal 2021, eigenes Einkommen zu generieren, entscheidend für ihre Weiterexistenz. Mit Beginn der Wirtschaftskrise hatte der Staat seine Geldüberweisungen an lokale Gemeinschaften weitgehend eingestellt.
Für Julian von der Revolutionären Strömung Bolívar und Zamora (Corriente Revolucionaria Bolívar y Zamora, CRBZ) einer radikalen Basistendenz in der Regierungspartei PSUV, hat dies die Basisorganisierung beeinflusst: «Als die Regierung Projekte finanzierte, schuf sie gewisse Erwartungen und förderte die Teilnahme, da die Leute den Eindruck hatten, ihre Probleme könnten gelöst werden. Aber angesichts der starken existierenden Rentenkultur, trat das ein, was viele gesagt hatten: ‹Wenn wir nichts kriegen, können wir nichts machen.› In diesen Fällen beschränken sich die Nachbarschaftsräte weitgehend auf die Verteilung von Regierungsdienstleistungen wie die Lieferung von Gasflaschen in ihrer Gemeinschaft. Der Fehler war, dass das Gewicht zu Beginn mehr auf die Beteiligung als auf die Entwicklung der Fähigkeit der Gemeinschaften zur Selbstorganisation gelegt wurde. Heute sind die Kommunen am aktivsten, die wenig mit der Regierung zu tun haben und nicht vom PSUV kontrolliert werden.»


Spannungen
Die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln in Zeiten der Krise ist für viele Kommunen prioritär geworden, auch in Caracas.
Panal 2021 hat sich mit Kommunen auf dem Land zusammengetan, um Essen in die Stadt zu bringen und es weit billiger als die privaten Supermärkte zu verkaufen. Atenea Jiménez sagte, viele andere Kommunen machten das Gleiche: «Das sind Systeme zum Austausch von Nahrung und Dienstleistungen zwischen Kommunen, die mit unterschiedlichem, aber verbessertem Grad der Komplexität operieren.»
Trotz – oder vielleicht wegen – ihrer Bedeutung ist die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln ein Schlüsselelemente für Spannungen zwischen Staat und Kommunenbewegung. Vor mehreren Jahren übergab das Nationale Netzwerk der KommunardInnen Maduro einen Vorschlag für die Gründung eines landesweiten Kommunenunternehmens für die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln. Die Idee war, dass alle Kommunardinnen und Bauern ihre Produkte über ein von den Leuten, nicht von privaten Intermediären, kontrolliertes Unternehmen austauschen könnten, um sicher zustellen, dass billiges Essen diejenigen erreicht, die es benötigen. Jiménez sagte: «Unsere Vision des Unternehmens war, dass alles, was auf dem Land produziert wird, verteilt wird und nicht verloren geht, und wir erst danach importieren sollten, was wir nicht selber produzieren können – nicht umgekehrt.»
Doch die Regierung begann mit den CLAP (Komitees für die Versorgung und Produktion von Lebensmitteln). Jiménez hielt fest, dass trotz des «P im Namen (für Produktion), die wirklich produzieren, die Bäuerinnen und Kommunarden», bei der Bildung der CLAP «nicht einbezogen» wurden. Diese werden stattdessen grossteils von örtlichen PSUV-Offiziellen kontrolliert, und «alles, was die CLAP verteilen, ist importiert.» Das läuft für Jiménez darauf hinaus, «die existierenden Organisationen beiseite zu schieben, da sie schwerer zu kontrollieren sind, denn in einer Kommune muss ein Vorschlag in der Versammlung erörtert werden, während du bei den CLAP den Leuten einfach sagen kannst, was Sache ist.»
Praktisch haben laut Julián die ClAP vielerorts die Kommunen als Zentren der Gemeinschaftsorganisierung überflügelt. «Es ist nicht so, dass die anderen Strukturen nicht existierten, aber die CLAP haben die dynamischste Struktur, denn für Viele steht das Essen im Mittelpunkt. In einigen Fällen haben die CLAP die Kommunen geschwächt, und ich denke, das war absichtlich. Denn die CLAP sind der Partei verantwortlich, die Kommunen nicht.»
«Die Partei spielte bei der Förderung der Kommunen und Consejos Comunales abgesehen von wenigen Ausnahmen nie eine Schlüsselrolle: sie konzentrierte sich mehr auf Wahlen und Regierung. Aufgrund der den Kommunen eigenen Dynamik, die auf der Idee der Selbstregierung beruht, herrscht die Vorstellung vor, dass die KommunardInnen permanent im Konflikt liegen mit der Partei, dem Bürgermeister oder der Gouverneurin.»
«KommunardInnen haben die Übergabe von Verantwortlichkeiten vom Gemeinderat an die Kommunen propagiert, um den Leuten den Beginn der Selbstorganisation zu ermöglichen. Dies sorgte für Spannungen zwischen der Kommunenbewegung auf der einen und der Partei und lokalen VerwaltungsfunktionärInnen auf der anderen Seite, die keine Verantwortung z. B. für Abfallentsorgung abgeben wollen, die für sie oft ein Geschäft darstellen.»
«Ich glaube, die Partei kam in Sachen CLAP zum Schluss, dass sie sie kreieren und kontrollieren musste. Sie konnten die Kommunen wegen ihrer demokratischen, herausfordernden, unehrerbietigen Art nicht kontrollieren, aber sie konnten bestimmen, wer die CLAP leitet. Die ausgeprägte rentistische und klientelistische existierende Kultur brachte mit sich, dass die Leute zu den von der Regierung finanzierten und unterstützten CLAP tendierten.»

Liebe-Hass-Beziehung
Gsus García resümierte: «Der Staat hat im jetzigen Chaos nicht die Möglichkeit, alle Probleme zu lösen, aber die Leute versuchen, wo immer eine Lösung zu finden. Und doch ist eines der grössten Probleme des Staates, dass es ihm schwer fällt, Kompetenzen abzutreten, die Zügel loszulassen, damit die Leute ihre Probleme angehen können.»
«Es existiert also eine Liebe-Hass-Beziehung zwischen den Staat und den Kommunen. Aber bei allen Schwächen und Fehlern, es ist unser Staat, unsere Regierung. Und gleichzeitig haben wir eine Beziehung, in der wir kämpfen müssen. Das können wir nicht abstreiten. Es gibt Dinge, die wir nicht erhalten, wenn wir Nahrungsmittel produzieren müssen, in einer Situation, in der wir fast alle Nahrung importieren. Aber statt zu helfen, legt uns der Staat all diese bürokratischen Hindernisse in den Weg, wo doch alles, was wir zu machen versuchen, ist, den Leuten zu Essen zu verhelfen und mit dem Problem der unterernährten Kinder umzugehen.»
«Aber uns ist bewusst, dass wir nur mit dieser Regierung machen können, was wir als Kommunen machen. Mit einer anderen Regierung hätten wir diese Möglichkeit nicht, erst recht nicht mit der rechtsradikalen Regierung, die Guaidó mit dem Putsch installieren will.»
Was auch immer in Venezuela als Nächstes geschieht, Julián denkt, die in den letzten zwei Jahrzehnten aufgebaute starke Organisierung der Gemeinschaft wird nicht so leicht verschwinden. «Es gibt immer noch viel Stärke, ein hohes Niveau von Organisation. Wo immer du hinschaust, wirst du eine Kommune finden, eine Kooperative, irgend eine Form von Komitee oder Organisation. Würde die Regierung fallen, wäre die Organiserung immer noch da. Sie wäre für eine nächste Regierung schwierig abzuschaffen.»

* Green Left Weekly, 10.5.19: Venezuela’s crisis: A view from the communes