Venezuela: 40'000 Tote wegen Sanktionen

Mittwoch, 1. Mai 2019


(zas, 30.4.19) Wenn ein namhafter Thinktank Russland der Verantwortung für den Tod von 40'000 Menschen in der Krim praktisch überführt hätte, wie denkst du, wäre das internationale Medienecho gewesen? Wenn ein namhafter Thinktank das zu den US-Angriffen in Venezuela täte, wie denkst du, wäre das Medienecho? Die Antwort gibt uns Berichterstattung der letzten Tage mit ihrem  Schweigen.
Ende letzter Woche veröffentlichte der progressive Washingtoner Thinktank Center for Economy and Policy Research (CEPR) den Bericht Economic Sanctions as Collective Punishment: The Case of Venezuela von CEPR-Co-Direktor Mark Weisbrot und Jeffrey Sachs, demzufolge die US-Sanktionen seit August 2017 mit grösster Wahrscheinlichkeit mehr als 40'000 Menschenleben gefordert haben. Beide sind Ökonomen, beide werden in den USA von den Mainstreammedien gerne zitiert – nicht in diesem Fall. Sachs ist ein Starökonom, heute Berater des UNO-Generalsekretärs, früher berüchtigt wegen seiner zentralen Beratertätigkeit in Russland für Gorbatschow und Jeltsin in Sachen schockartige Einführung der freien Marktwirtschaft mit dem Resultat enorm gesunkener Lebenserwartung für die Unterklassenbevölkerung. Ihr Papier ist ein Muss. Nicht, weil die Erkenntnis neu wäre, dass diese Sanktionen mörderisch sind (und das sein müssen, sonst verfehlten sie ihren Zweck), sondern weil einerseits in aller gewünschten Kürze wesentliche ökonomische Mechanismen und Resultate der Sanktionen prägnant beleuchtet werden, und vor allem weil wohl zum ersten Mal eine leider plausible Zahl der Todesopfer genannt und begründet wird.
Wie kommen die Autoren auf die Zahl von 40'000 Toten? Sie schreiben: «Der Nationalen Erhebung zu den Lebensbedingungen» (span. ENCOVI) zufolge, einer jährlichen Erhebung von drei venezolanischen Universitäten, stieg die allgemeine Sterblichkeitsrate von 2017 zu 2018 um 31 %. Die bedeutet eine Zunahme um mehr als 40'000 Todesfälle. Dies käme sogar in einem bewaffneten Konflikt einem erheblichen Verlust von Leben in der Zivilbevölkerung gleich, und es ist praktisch sicher, dass die US-Sanktionen einen substantiellen Beitrag zu diesen Todesfällen geleistet haben.».
Warum?  Zur Klärung dieser Frage behandelt das Papier in kurzer und prägnanter Form zwei zentrale Sanktionenbündel: jenes von August 2017 und das von letztem Januar. Zum ersten sagen sie: «Die Sanktionen von August 2017 verboten der venezolanischen Regierung, Geld in den US-Finanzmärkten zu leihen.  Das hinderte die Regierung zum einen an jeglicher Schuldenrestrukturierung, denn eine solche erfordert Schuldenrestrukturierung erfordert das Auflegen neuer Bonds im Tausch für bisherige. Obwohl die August-Sanktionen technisch nur das US-Finanzsystem betrafen, zeitigten sie faktisch massive Auswirkungen auch ausserhalb des US-Finanzsystems. Erstens, weil die Restrukturierung mit Gruppen von Anleihenhaltern verhandelt wird, die unweigerlich US-Anleihenhalter einschliessen, und zweitens, weil die Finanzinstitutionen ausserhalb des US-Finanzsystems gute Gründe für die Annahme hatten, dass weitere Sanktionen sie betreffen könnten. Das war in den nächsten anderthalb Jahren auch tatsächlich der Fall.»
Sachs und Weisbrot zitieren in diesem Zusammenhang Reuters vom 28. März 2019 (US Orders Foreign Firms to Further Cut Down on Oil Trades): «Die USA haben weltweit Ölhandelshäuser und Raffinerien angewiesen, den Handel mit Venezuela weiter zu reduzieren oder selber Sanktionen zu gewärtigen, sogar wenn die Handelsbeziehungen von den veröffentlichten US-Sanktionen nicht verboten werden, sagten drei mit der Materie vertraute Quellen (…) Das Office on Foreign Assets Control (OFAC) des Finanzministeriums kündigte Anfang Februar ein Verbot der Benutzung des US-Finanzsystems für Öldeals mit Venezuela nach April an (…) Aber diese Woche hat das US-State Department ausländischen Firmenn telefonisch mitgeteilt, dass die Reichweite der Sanktionen weiter gehe.» Selbst die halb-staatliche russische Gazprom habe deswegen ihre Beziehungen mit PDVSA abgebrochen. Die auch wegen der seit 2016 massiv fallenden Erdölpreise in die Bredouille geratene staatliche Erdölgesellschaft PDVSA wollte gerade ihre Schulden restrukturieren, um nicht binnen zwei Jahren $ 7.1 Mrd. an Schulden begleichen zu müssen. Der Dollaresel des Landes, die US-Filiale CITGO von PDVSA, durfte fortan keine Gewinne mehr nach Venezuela repatriieren (im Vorjahr noch $ 2.5 Mrd.). Vorallem aber sackte exakt mit Beginn der Sanktionen die Ölförderung um das Dreifache des wegen der tiefen Weltmarktpreise verursachten Rückgangs von 2016 ein – die fehlenden Kredite wirkten sich nun auf Unterhalt und produktive Investitionen aus. Der Rückgang kostete 2018 $ 6 Mrd. Er betrug in diesem Jahr 30.1 %, 2017 waren es noch 11.5 % gewesen. Zur Situierung der vielbeschworenen humanitären Krise: Das Import-abhängige Venezuela gab 2018 insgesamt $ 10 Mrd. für Einfuhren aus, allein $ 2.6 Mrd. für Nahrung und Medikamente. Ein weiteres Problem war die im August 2017 schon hohe Inflation (die, von den Autoren nicht erörtert, zu einem wesentlichen Teil über Wechselkursmanipulationen gigantischen Ausmasses verursacht worden war.) Doch sie schreiben etwas anders Interessantes: «Der Verlust so vieler Milliarden an Devisen und Regierungseinkommen war höchstwahrscheinlich der Hauptschock, der die Wirtschaft in die Hyperinflation trieb. In der Geschichte haben Hyperinflationen gemeinsam, dass sie von einem grossen externen Schock bei Regierungseinnahmen und Zahlungsbilanzen ausgelöst werden, was in Venezuela nach der Umsetzung dieser Sanktionen der Fall war.»  (Jeffrey Sachs gilt nach einer von ihm konzipierten antisozialen Rosskur in Bolivien 1985, bei der die Hyperinflation binnen zehn Tagen beendet wurde, als ausgewiesener Spezialist in der Materie.)
Die Autoren gehen weiter auf in den Medien kaum erwähnte Weiterungen der Sanktionen im September 2017 ein, die offiziell nicht unter diesem Titel liefen. Das US-Finanzministerium  warnte damals, «alle venezolanischen Regierungsinstitutionen einschliesslich der Staatsunternehmen erscheinen als verletzbar durch Korruption und Geldwäscherei», weshalb US-amerikanische (und implizit generell westliche, s. o. ) Finanzinstitutionen regulatorische Verpflichtungen zur Vermeidung von Involvierung via den Handel von Wertpapieren der venezolanischen Institutionen einhalten müssten. Die Folge war, dass Venezuela einen Grossteil seiner internationalen Bankverbindungen verlor (auch bei UBS und CS) mit dramatischen, «vielleicht noch wichtigeren» Auswirkungen als die August-Sanktionen auf die Wirtschaft und damit die Lage der Menschen.  
Die Sanktionen von Januar 2019 zerschnitten die Beziehungen Venezuelas mit seinem immer noch grössten Ölmarkt – den USA (2018: 35.6 % aller venezolanischen Ölexporte). Die Autoren rechnen deshalb mit einem «beispiellosen» BIP-Einbruch von 37.4 % im laufenden Jahr (2018: 16.7 %). Ging im zweiten Semester 2018 die venezolanische Ölproduktion um 24'000 Fass pro Tag zurück, fiel sie von Januar auf Februar 130'000 Fass/Tag. Im März reduzierte sich die Produktion gar um 289'000 Fass/Tag auf 431'000 Fass/Tag. Im Resultat wird für das laufende Jahr ein Exporteinnahmeverlust zwischen 21 % und 67. % veranschlagt. Hinzu kommen Beschlagnahmungen venezolanischer staatlicher Ressourcen wie Gold im Wert von $1.2 Mrd. durch die Bank of England oder die  Abtrennung Venezuelas vom System der für den internationalen Zahlungsverkehr unentbehrlichen Korrespondenzbanken im Ausland u. v. a.
«Auf der anderen Seite, dem Kauf von Importgütern», ist weiter zu lesen, «hat die Administration Trump der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung einen schweren Schlag mit der Verhinderung seiner Zahlungsmöglichkeiten für die Importe versetzt, die es noch mit dem verbleibenden Cash Flow bezahlen könnte. Das schränkt natürlich den Zugang der Bevölkerung zu essentiellen Importgütern im Bereich Gesundheit und Ernährung ein.»
Zu der dramatischen Erhöhung der Sterblichkeitsraten von 2017 auf 2018  halten die Autoren fest, dass 2018 nach Angaben der Pharmabranche 85 % der Medikamente fehlten, oder dass, gestützt auf Angaben rechter Organisationen im Gesundheitsbereich, mehr als 300'000 Menschen wegen Abhängigkeit von antiretroviralen oder Krebsmedikamenten oder Dialysebehandlungen sowie 4 Millionen mit Diabetes und Bluthochdruck wegen des Mangels an Medikamenten gefährdet seien. «Diese Zahlen allein», schreiben sie, «garantieren, dass die Sanktionen von 2019, die weit härter sind als die zuvor umgesetzten, für zehntausende von Menschen, die das Land nicht für die Suche nach Medikamenten anderswo verlassen können, ein Todesurteil darstellen.» Diese noch gar nicht erfasste verschärfte Bedrohung für das Leben der «verletzbaren Bevölkerung» - laut UN-Bericht Kinder und Jugendliche, Arme oder extrem Arme, schwangere oder stillende Frauen, Alte, Indigene, Menschen mit Behinderung, LGBTI-Menschen – betonen die Autoren mehrmals. Zum Beispiel im Schlusssatz ihres Papiers: «Die Sterberate in diesem Jahr wird, falls die Sanktionen in Kraft bleiben, fast sicher weit höher sein als alles, was wir bisher gesehen haben. Dies wegen des beschleunigten Niedergangs der Ölförderung und damit der Verfügbarkeit von essentiellen Importen, sowie wegen der beschleunigten Senkung der Einkommen pro Person.»
Natürlich ist in den Todesdokumenten der 40'000 nicht «Sanktion» als Todesursache festgehalten. Es gibt aber, betonen Weisbrot und Sachs, keine andere plausible Erklärung für die exakt mit den Sanktionen abrupt zunehmende Sterblichkeitsquote. (Die üblichen Behauptungen - chavistische Misswirtschaft, Kleptokratie etc. – wären logisch nur unter der Bedingung überhaupt diskutierbar, dass gesagt würde, bis 2017 habe es diese Missstände so gut wie nicht gegeben.)
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Die systematische Zerstörung der Wirtschaft, das bewusst in Kauf genommene Sterben Unzähliger, das Leiden Vieler mehr, das ist Terrorismus.
Und wenn man die unsäglich dumm oder verlogen, im Expertenmodus in den Medien vorgetragenen Kommentare zur Machtgeilheit eines Maduro, zur Inkompetenz der sozialistischen Regierung etc. in diesen Kontext stellt, kommt vielleicht eine Ahnung von Grauen auf. Eine massenmörderische Zielorientiertheit gepaart mit oberflächlichem Smalltalk, mit orchestriertem medialen Verwedeln, dessen PropagandistInnen, ob bewusst oder nicht, Rädchen in der Vernichtungsmaschinerie sind. «Es», der Mord, läuft mit ihnen dann besonders geschmiert, wenn sie sich in ihrer moralischen Entrüstung ob der chavistischen Herzlosigkeit suhlen.