Haiti: Am Rand des Bürgerkriegs

Sonntag, 13. Oktober 2019


Lautaro Rivara*
11. Oktober 2019
11. Oktober 2019

Seit geraumer Zeit ist die kritische Situation in Haiti reif für einen Wandel. Aber die Reife beginnt zu faulen. Die Krise scheint kein Ende zu haben, und die wirtschaftliche, politische und soziale Situation scheint selbst für diese gewöhnlich von Unruhen erschütterte karibische Nation von einer beispiellosen Schwere zu sein. Vier Wochen schon sind seit Beginn des letzten Zyklus intensiver gesellschaftlicher Konflikte vergangen, sechs Wochen seit Beginn der Energiekrise und mehr als anderthalb Jahre seit Beginn der allgemeinen politischen und sozialen Instabilität.
Drei Tendenzen ergeben sich aus der aktuellen Lage: die zunehmend unwahrscheinlichere Möglichkeit einer konservativen Stabilisierung mit gleichbleibendem Präsidenten oder einem kontrollierten Wechsel der Figuren; der Beginn einer politischen Transition des Bruchs, der die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Sektoren, Klassen und Interessen innerhalb einer widersprüchlichen Opposition öffentlich macht; oder der fatale Beginn eines Bürgerkriegs, in welchen das Niveau der sozialen Gewalt und der polizeilichen und parapolizeilichen Repression langsam münden.

Die Unmöglichkeit einer Stabilisierung
Hinter den Versuchen einer konservativen Stabilisierung stehen zwei grosse Promotoren. Einerseits Präsident Jovenel Moïse und sein Mentor, der Ex-Präsident Michel Martelly. Mit dabei auch Parlamentspräsident Murat Canave, der sich für einen Dialog im Land aussprach, kurz bevor die Regierung eine weitere, umgehend rundherum abgelehnte weitere Kommission für den Dialog bekanntgab. Sämtliche ihre Mitglieder wären Teil der jetzigen oder der Vorgängerregierung gewesen.
Auf der anderen Seite antwortete die in der sog. Alternative Consensuelle organisierte konservative Opposition rasch mit einer parallelen Bewegung, der sog. Commission de facilitation et de passation du pouvoir (Kommission für die Erleichterung und Übergabe der Macht). Diese versichert, nur die Bedingungen für einen «raschen und geordneten» Rücktritt des aktuellen Präsidenten Jovenel Moïse und seine Ersetzung mit einem Richter des Kassationshofs zu verhandeln. Eine andere Figur, der mehr Macht zugetraut wird als dem Richter, wäre ein Premierminister aus den Reihen des Sécteur Démocratique et Populaire, der stärksten und dynamischsten Kraft innerhalb der erwähnten Alternative Consensuelle. Diese Lösung würde einen reinen Präsidentenaustausch implizieren und die wichtigsten Elemente der Austeritätspolitik, die das Land an den Rand des Abgrunds geführt hat, intakt lassen. Hinter dieser Strategie stehen schon einflussreiche Länder wie Frankreich und Kanada, die im Forum Économqiue du Sécteur Privé zusammengeschlossenen Handelskammern und diverse Familien der traditionellen Oligarchie, für die Réginald Boulos steht, der wichtige Supermarktketten und Autokonzessionen besitzt.

Politische Transition des Bruchs
Aber alles deutet daraufhin, dass die tiefen Gründe für die das Land erschütternden Proteste den alleinigen Bezug auf den Rücktritt des Präsidenten transzendieren und andere Forderungen mitbeinhalten. Das nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur errichtete politische System mit seinen während Jahren praktisch ununterbrochener, vom IWF und dem State Department diktierten neoliberalen Politik, ist ein Auslaufmodell. Die letzten Mobilisierungen waren in zehn Departementen des Landes klar antiimperialistisch ausgerichtet. Die Mobilisierungen richteten sich gegen die internationale Einmischung. Denn die in der Core Group zusammengefassten Länder[1] hatten gerade ihre Unterstützung für Moïse Jovenel unterstrichen. Deswegen gingen verschiedene Demos direkt vor den Sitz der UNO-Justiz-Mission in Haiti (MINUJUSTH) und die US-Botschaft.



Der andere grosse während der Krise gegründete oppositionelle Zusammenschluss, das Forum Patriotique, schlägt das vor, was seine Kader eine «Transition des Bruchs» nennen. Diese Struktur tagte Ende August im ländlichen Papaye und schuf einen Ausschuss, das Comité du Suivi National, um die wichtigsten gefassten Beschlüsse umzusetzen. Der Ökonom Camille Chambers, Exponent des Forums, betonte in diesem Zusammenhang die Schaffung von Departmentskomitees, um die Mobilisierungen zu zentralisieren und zu potenzieren. Er schlug auch die Schaffung eines Triumvirats statt eines Präsidenten für die Übergangsregierung und eines aus VertreterInnen der Departemente gebildeten Kontrollorgans vor. «So haben wir», sagte Chalmers, «die Garantie einer von den nationalen AkteurInnen kontrollierten Transition und den Beginn eines tiefgreifenden Wandels des politischen und ökonomischen Systems.» Das Forum vertritt mehr als 60 Organisationen, darunter soziale Bewegungen auf dem Land und in der Stadt, Linksparteien, Gewerkschaften, Jugend- und Frauenorganisationen, demokratische und fortschrittliche Vereinigungen etc.

Polizeirepression und Krieg niederer Intensität
Die Ereignisse in Haiti beginnen, einem Bürgerkrieg niedriger Intensität zu gleichen, in dem allerdings nicht eine Armee einer anderen gegenübersteht, sondern eine Regierung samt Staatsmaschinerie einer übergrossen Mehrheit der Bevölkerung. Gestern wurde ein weiterer Journalist ermordet. Seine Leiche, gefunden im Kofferraum seines Wagens im Ort Bayas, wies zwei Kopfschüsse auf. Es handelt sich um Nehémié Joseph von Radio Panik FM und Korrespondent von Radio Méga im Landeszentrum. Joseph hatte zuvor von Mitgliedern der Regierungspartei Drohungen erhalten. Seine Analysen und schneidenden Korrespondentenberichten hatten die Behörden verärgert. Es war auch zu Protesten gekommen, um seine Ernennung in der Regionalvertretung der Rentenbehörde ONA zu verhindern.
Nehémié Joseph
Dem Réseau National de Défense des Droits Humains zufolge sind in diesem Jahr bisher 77 Menschen im Zusammenhang mit den Protesten ermordet worden, in ihrer Mehrheit durch die Polizei oder irreguläre Gruppen. Während des Verfassens dieses Artikels ist ein anderer junger Mann in Saint Marc im Departement Artibonite von der Polizei ermordet worden. Es gibt sogar Warnungen, dass erneut US-Söldner ins Land eingeschleust werden, um eine selektive Repression in den engagiertesten Gemeinschaften und Quartieren auszuüben. Es ist zwar schwer, diese These zu verifizieren, aber es ist festzuhalten, dass genau das letzten Februar geschehen war, als eine Gruppe von ehemaligen US-Soldaten mit hochkalibrigen Waffen und Spitzenmilitärtechnologie in Haiti verhaftet wurde.[2]
Gestern haben kriminelle Gruppen auch einen Wagen angegriffen und einen Bus, der nach Jérémie, der Departementshauptstadt von Grand-Anse, unterwegs war, in ihre Gewalt gebracht. Es kam dabei zu vier Verletzten. Wie schon im Oktober und November letzten Jahres, in Zeiuten intensivierter Mobilisierungen, wird die direkt mit der politischen Macht verbundene organisierte Kriminalität dazu angespornt, in der Bevölkerung Terror zu verbreiten und die Proteste zu erschweren. Trotz der zunehmenden Repression nehmen nur wenige internationale Menschenrechtsorganisationen Stellung zur Krise. Die nationalen AkteurInnen befürchten ihrerseits, dass die entfesselte Gewalt weitere internationale, die nationale Souveränität verletzende Interventionen legitimieren soll.
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https://twitter.com/lautarorivara. 11.10.19 : Haití al borde de la guerra civil. Der Autor ist Soziologe und Mitglied der Solidaritätsbrigade Dessalines der Via Campesina Brasilien.


[1] A. d. Ü.: USA, Frankreich, Kanada, Brasilien, Deutschland, Spanien und die UNO.