https://amerika21.de/2025/11/277776/polizeigewalt-120-tote-brasilien
Rio de Janeiro. Nach dem Polizeieinsatz mit zahlreichen Todesopfern am vergangenen Dienstag rufen soziale Gruppen zu Protesten und einer lückenlosen Aufklärung der Vorfälle auf. Während Menschenrechtsaktivist:innen von einem Massaker sprechen, erklärt der Gouverneur der Stadt, Cláudio Castro, den Einsatz als gelungen. Am vergangenen Dienstag waren einem Polizeieinsatz in den Favelas Penha und Alemão mindestens 121 Menschen ums Leben gekommen, darunter vier Polizisten. Aktuell sprechen Medien sogar von 132 Toten.
Der Einsatz galt der kriminellen Organisation Comando Vermelho (CV). Der zentral gesuchte kriminelle Anführer Edgar Alves de Andrade konnte bei dem Einsatz nicht festgenommen werden und ist weiterhin auf der Flucht.
Seit Freitag finden landesweit Proteste gegen die Polizeieinsätze in den brasilianischen Favelas statt. Die Demonstrierenden, Studierende, soziale und politische Aktivist:innen sowie Anwohner:innen und Angehörige der Opfer kritisieren das Vorgehen der Polizei stark.
Auch der Nationale Gesundheitsrat (CNS) des Landes findet klare Worte gegen den Einsatz: "Die CNS bekundet ihre tiefste Solidarität mit den Familien der Opfer und der gesamten Bevölkerung des Bundesstaates Rio de Janeiro, die seit Jahrzehnten täglich Gewalt und Angst ausgesetzt ist. Das Geschehene kann nicht als 'Kriminalitätsbekämpfung' oder 'Großoperation gegen Drogenhandel' abgetan werden, sondern ist eine menschliche Tragödie, die das Versagen der Sicherheitspolitik offenlegt. Anstatt den Schutz des Lebens in den Vordergrund zu stellen, verwandelt diese unsere Gemeinden in Schlachtfelder". Auf der Homepage schreibt er weiter: "Der Nationale Gesundheitsrat ruft die Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und staatliche Institutionen dazu auf, ihre Kräfte zu bündeln, damit dieses Massaker nicht nur eine weitere Geschichte von Schmerz und Straflosigkeit bleibt. Es soll ein Meilenstein für die Transformation der öffentlichen Politik in Brasilien werden, mit dem Ziel, ein Modell zu entwickeln, das Frieden, Sicherheit und vor allem die Achtung des Lebens und der Menschenwürde fördert."
"Organisierte Kriminalität bekämpft man mit Strategie, nicht durch Hinrichtungen oder das Eindringen in Favelas, um die arme Bevölkerung zu töten!", kritisierte Camila Neves vom Nationalkollektiv der Schwarzen Jugend. "Das war ein Massaker, kein Einsatz", mahnt sie.
Der Anwalt Guilherme Pimentel, Koordinator eines Unterstützungsnetzwerks von staatlicher Gewalt betroffener Menschen, erklärt zudem, dass ausreichend bekannt sei, dass vor allem auch Amtsträger in den Waffen- und Munitionshandel verwickelt seien. Der Wissenschaftler Ricardo Balestreri, Spezialist im Bereich der Öffentlichen Sicherheit, führt diesen Vorwurf in einem Interview mit der BBC weiter aus: "Gewehre wachsen nicht in Favelas. Es gibt eine Oberschicht der Kriminalität, die nichts mit den Bewohnern der Favelas zu tun hat, die nicht in Favelas lebt, die sich nicht mit Banditen aus Favelas zum Wein oder Kaffee trifft. Das sind Leute, die in Luxuswohnanlagen, in Penthouse-Wohnungen, an den teuersten und vornehmsten Orten des Landes leben".
Besonders betont er in diesem Zusammenhang die im August durchgeführte Operation Carbono Oculto. Dieser Einsatz richtete sich gegen die kriminelle Vereinigung Primer Comando Capital (PCC), neben dem CV eine der beiden größten kriminellen Organisationen Brasiliens, und sollte deren Finanzsystem im Kraftstoffsektor zerschlagen. Während des Einsatzes fiel kein einziger Schuss, stattdessen wurden jedoch rund 7,6 Milliarden Real (etwa 1,22 Milliarden Euro) an Steuerhinterziehung aufgedeckt sowie 3,2 Milliarden Real (510 Millionen Euro) an Vermögenswerten sichergestellt: darunter ein Hafenterminal, vier Alkoholproduktionsstätten, 1.600 Lastwagen und mehr als 100 Immobilien und Beteiligungen an 40 Investmentfonds.
Statt die Kriminalität in den Favelas durch Schießereien beenden zu wollen, fordert Balestreri mehr staatliche Unterstützung für junge Erwachsene. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, sich beruflich weiterzubilden und für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können. "Die Kriminalität bietet diese Möglichkeiten. Die Kriminalität hat einen informellen Karriereplan", erklärte er.
Viele der Demonstrierenden fordern nun den Rücktritt sowie eine Gefängnisstrafe für den derzeitigen Gouverneur der Stadt Rio de Janeiro, Cláudio Castro, der den Einsatz als "gelungen" bezeichnete. Bereits in den Jahren 2021 und 2022 kam es unter seiner Regierung zu mehreren tödlichen Polizeieinsätzen in den Favelas. 2021 starben dabei 28 Menschen im Viertel Jacarezinho (amerika21 berichtete) und 2022 erneut 25 Personen in Vila Cruzeiro (amerika21 berichtete) und 19 im Complexo do Alemão (amerika21 berichtete).
Seit Mittwoch werden die Körper der Opfer identifiziert, dennoch gelten noch immer Personen als vermisst. Erste Meldungen hatten von nur 60 Toten gesprochen, nachdem die Anwohner:innen zahlreiche Leichen in einem angrenzenden Waldstück auffanden, erhöhte sich die Zahl der Opfer auf mindestens 121.
Bei dem Einsatz haben die Sicherheitskräfte insgesamt 118 Waffen, darunter 91 Gewehre, 26 Pistolen und ein Revolver sichergestellt und 113 Menschen festgenommen.

