(zas, 21.9.11) Im Februar 2010 entliess der venezolanische Präsident Hugo Chávez überraschend den marxistischen Handelsminister Eduardo Samán. Allgemein hielt man den energischen Kampf des Ministers gegen die von einigen Grossunternehmen systematisch betriebene Hortung von Nahrungsmitteln für den Anlass der Kündigung; kurz vor den Parlamentswahlen vom folgenden September habe Chávez versucht, die Polarisierung mit den Nahrungsunternehmen zu mindern und diese so dazu zu animieren, die Lage auf dem Nahrungsmarkt nicht noch weiter zuzuspitzen (vgl. Interview mit Samán in Correos 164, Dezember 2010) .
Nun wirft ein von Wikileaks veröffentlichtes Kabel der US-Botschaft in Caracas - DRAFT INTELLECTUAL PROPERTY LEGISLATION HAS AN UNCERTAIN vom 11. Februar 2010 – ein etwas anderes Licht auf die Kündigung. Stein des Anstosses sei ein radikaler Gesetzvorschlag von Samán zum Patentrecht gewesen, versichert die Botschaft nach einem Gespräch mit Fernando Allende vom Pharmaverband Caveme (primär ausländische Multis). Statt Patenten, so die Botschaft, visiere Samán eine Art Konzession an. Doch sein Vorschlag, zitiert das Kabel Allende, habe „keine Chance“, angenommen zu werden. „Chavez“, schreibt die Botschaft, „wird Saman vermutlich vor den Parlamentswahlen … zurückrufen“ – in den Worten des Caveme-Vertreters „wie einen Hund an der Leine“.
Offenbar wusste Caveme noch vor Samán selber, schon am 25. Januar, von seiner wahrscheinlichen Entlassung … Das Kabel erwähnt weiter einen Gegenvorschlag des Pharmaverbandes für ein Patentgesetz. Dieses sei, zitiert das Kabel den Caveme-Vertreter, mit Blick auf den lukrativen venezolanischen Markt (Jahresumsatz $ 6 Mrd.), „in chavistischer Sprache geschrieben, um eine offene Konfrontation mit Chávez zu verhindern. Das Kabel weiter: „Caveme hat einen Vorschlag mithilfe von Hildegard Rondón Sanso, der gut vernetzten Schwiegermutter von Rafael Ramírez, Präsident [des staatlichen Erdölkonzerns] Pdvsa, erarbeitet, der ‚den Entwurf von Samán versenkt’“.
Eduardo Samán |
Ein Grund unter anderen, den Allende dem Botschaftspersonal gegenüber anführt, warum Chávez auf Samán Vorschlag nicht eingehen könne, ist, dass dieser „die venezolanische Kampagne für den Mercosur-Beitritt schädigen könnte“.
In einem Interview mit Samán vom 19. September 2011 auf aporrea.org erklärt der Ex-Minister, der im Übrigen an der Führungsfunktion von Hugo Chávez im Prozess in Venezuela keinen Zweifel lässt, die Hintergründe der Patentauseinandersetzung. Zwar verpflichte die WTO-Mitgliedschaft das Land zu einem Gesetz über intellektuelles Eigentum, doch nicht zu einer bestimmten Definition desselben. Grundsätzlich sei es WTO-konform, statt Patente – Besitzansprüche – einjährige Konzessionen zu bestimmten Bedingungen zu erteilen, zu denen etwa die Produktion im Land und Knowhow-Transfer gehören. Bei Bruch dieser Verpflichtungen würde die Konzession sofort hinfällig. Die Pharmakonzerne würden selbst dem seit hundert Jahren erhältlichen Aspirin eine neue Farbe und einen neuen Guss verpassen und erneut ein Patent anmelden.
Samán erläutert die Lage mit einem Beispiel: Für das Osteoporose-Medikament Fosamax (4x70 mg) verlangt die Herstellerin Merck 77.0 Bolívares oder $18.11. Die venezolanische Generikaherstellerin Genven vertreibt das gleiche Produkt für $5.37. In Chile, das ein mit dem Freihandelsvertrag mit den USA noch zugespitztes Patentrecht kennt, kostet Fosamax $80.7.
Samán musste gehen. Sein Amtsnachfolger hat bis heute jeden Anschein von „Radikalität“ vermieden. Hoffen wir, dass sich in dieser Frage jene Kräfte im Regierungslager durchsetzen, die sich nicht einfach aus Opportunitätsgründen der „chavistischen Sprache“ befleissigen, sondern das Wohl der Kranken über den Extraprofit der Pharmakonzerne stellen.