Haiti - Weiter im Katastrophentext

Freitag, 6. Januar 2012

(zas, 4.1.12). Der Haiti-Artikel in der NZZ vom 31.12.11– Anzeichen für eine neuartige Dynamik in Haiti – ist gewissermassen eine Trouvaille. Sein Autor, Peter Gaupp, bedient gewohnte kolonialistische Stereotypen, um umso mehr den Staats- und den Ministerpräsidenten,  Michel Martelly und Garry Conille, zu loben, die beide, so Gaupp, den „Ausweg Wirtschaftsförderung“ aus der Notlage nach den Erdbeben vom Januar 2010 erkennen.

Gleich zu Beginn werden wir auf den bisherigen „haitischen Schlendrian“ eingestimmt: „Fast zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar 2010 sind Haiti und vor allem seine Hauptstadt noch immer von der Katastrophe gezeichnet. Von systematischem Wiederaufbau ist in Port-au-Prince wenig zu sehen.“ Später erfahren wir: „Ein Grossteil der Unterstützung versickerte von jeher ohne nachhaltige Wirkung im Sog von Armut, Schlendrian, Korruption und Inkompetenz.“ Gaupp füttert uns Halb- und Falschinfos. So sei Präsident Martelly gegen Zwangsräumungen der Notlager der Erbebenüberlebenden – dass es „trotzdem“ zu einer grossen Welle von Zwangsräumungen gekommen war, wird nicht erwähnt (s. Von New Orleans nach Port-au-Prince: Profitraserei gegen die Armen). Dafür sieht es bei der Schweizer Botschaft wieder fein aus: „Die Bürgermeisterin des … sozial gehobenen Vororts Pétion-Ville hingegen vermochte die Place St-Pierre, an der auch die bescheidene Schweizer Botschaft liegt, freizumachen, indem sie den Lagerbewohnern Geld für die Miete fester Häuser gab. Geholfen hat auch, dass der Präsident den Platz im November für eine politische Veranstaltung nutzen wollte.“ Um das zu interpretieren, nützt folgendes Zitat von Jeena Shah vom Institute for Justice & Democracy/ Bureau des Avocats Internationaux (USA/Haiti) aus dem gerade verlinkten Artikel: „ Die Offerte von kleinen Summen Geld kommt angesichts von in die Höhe schnellenden Mieten und dem Fehlen von günstigen Wohnmöglichkeiten und von Hilfe bei der Wohnungssuche einer wirtschaftlichen Zwangsausübung gleich“.

Gaupp lamentiert: Schwer sei es, die Leute auch nur ein wenig aus ihrer gewohnten Umgebung „zu locken“. Doch die 15 km ausserhalb der Hauptstadt gelegene neue Siedlung Corail-Cesselesse komme nicht auf Touren, obwohl sie eine schmucke Sache sei. Immerhin, ihm ist aufgefallen: „Arbeit gibt es jedoch wenig, die Stromversorgung ist erst im Entstehen, und Wasser muss aus Tankwagen bezogen werden.“ Aus solchen Projekten laufen die „Begünstigten“ davon: no future, abgeschnitten von ihren sozialen Netzen und Einkommensquellen.

Dass die versprochenen internationalen Hilfsgelder nicht so richtig fliessen, erklärt sich unser NZZler mit den politischen Unsicherheiten vor der neuen Regierung. „Lobenswert“ sei jetzt aber, „ dass die neue Regierung  … aus dem Teufelskreis von Armut, Wohltätigkeit und Abhängigkeit ausbrechen, die Almosenempfänger-Mentalität ablegen und vor allem die Wirtschaft entwickeln möchte.“ Selbst eine internationale Investorenkonferenz unter Führung der Interamerikanischen Entwicklungsbank IDB habe es gegeben und Baubewilligungen würden jetzt binnen zwei Monaten statt drei Jahren erteilt (soviel zu Abklärungen punkto sozialer und ökologischer Gefahren etwa der von Gaupp erwähnten Hotelprojekte…).
Bill Clinton amüsiert sich an der Investorenkonferenz von Ende November 2011

Inspirierend auch dies: „Der ländlichen Entwicklung dient eine von der IDB, Frankreich und der Clinton-Stiftung unterstützte Partnerschaft mit Nestlé und dem kolumbianischen Kaffeeproduzenten-Verband, die 10 000 haitianischen Kaffeepflanzern helfen soll, ihr Produkt zu verbessern und so höhere Preise zu erzielen.“ Nestlé soll also auch haitische Peones kriegen, nebst kolumbianischet Komplizenschaft.

Soweit die Lüge.

Und nun einige Angaben zur oft bemühten haitischen „Almosenmentalität“ aus dem Artikel Haiti After the Quake von Bill Quigley und Amber Ramanauskas vom 3.1.12 Eine rassistische Generalanschuldigung, die im Beispiel des NZZ-Artikels das lichte Businesskommando kontrastieren soll. Generell wird damit der „Fehlschlag“ genau dieser businessorientierten transnationalen „Hilfe“ verdrängt, Fehlschlag, wenn damit Hilfe für die Erbebenopfer gemeint wäre – und nicht für die Katastrophenprofiteure. Im Folgenden einige Zitate von Quigley und Ramanauskas:

Es stellt sich heraus, dass fast nicht von dem Geld, von dem die breite Öffentlichkeit annahm, es gehe nach Haiti, direkt nach Haiti gegangen ist. Die internationale Gemeinschaft zog es vor, das haitische Volk, die haitischen Nichtregierungsorganisationen und die haitische Regierung zu umgehen. Die Mittel gingen stattdessen an andere Regierungen, internationale NGOs und Privatunternehmen. Obwohl die HaitierInnen fast überhaupt keine Kontrolle über die Gelder hatten, werden sie, wenn uns die Geschichte einen Hinweis geben kann, in einer typischen „Schuld sind die Opfer“-Tour für die Fehlschläge verantwortlich gemacht werden.

Gleich nach dem Erdbeben  stellten die USA $379 Mio. als Hilfe zur Verfügung und entsandten 500 Militärs. Die Associated Press entdeckte, dass die meisten Mittel der ursprünglichen versprochenen Hilfe von $379 Mio. nicht wirklich direkt, in einigen Fällen nicht einmal indirekt, nach Haiti gelangten. Sie dokumentierten im Januar 2010, dass von jedem dieser US-Dollars für Haiti 33 Cents direkt in die USA gingen, um uns für die Entsendung der Militärs zu entschädigen. 42 Cents jedes Dollars gingen an private und öffentliche Nichtregierungsorganisationen wie Save the Children, das UNO-Werternährungsprogramm und die Panamerikanische Gesundheitsorganisation. Fast nichts ging direkt an die HaitierInnen oder ihre Regierung. Die von den USA insgesamt als Hilfe bereit gestellten $1.6 Mrd. wurden einem Bericht des Congressional Research Office vom August 2010 weitgehend nach dem gleichen Muster ausgegeben.

Auch die internationale Hilfe folgte diesem Muster. Der UNO-Sondergesandte für Haiti berichtete, dass von den $2.4 Mio. humanitären Geldern 34 Prozent an die von den Gebern eingesetzten eigenen zivilen und militärischen Organisationen für die Katastrophenbekämpfung zurückgingen. 28 Prozent gingen an die UNO oder an von NGOs ausgeführte spezifische UNO-Projekte, 26 Prozent an private Unternehmen und andere NGOs, 5 Prozent an die die internationalen und die nationalen Rotkreuzgesellschaften und 0.4 Prozent an haitische NGOs.

Weniger als 1 Prozent der US-Hilfe ging laut Associated Press an die Regierung von Haiti. Gleiches gilt für andere internationale Geber. Die haitische Regierung wurde von der US-Regierung und der internationalen Gemeinschaft bei der Hilfe völlig umgangen.

Das American Red Cross erhielt $486 Mio. für Haiti geschenkt. Es sagt, zwei Drittel des Geldes seien für Verträge für Hilfe- und Aufräumarbeiten verpflichtet worden, obwohl es schwierig ist, an genaue Details zu kommen. Die CEO des American Red Cross verdient im Jahr über $500'000 […] „Die NGOs müssen punkto ihre Buchführung immer noch Red und Antwort stehen, denn es geht um viel Cash“, meinte Nigel Fisher, der leitende humanitäre UNO-Funktionär in Haiti. „Was ist mit den ungefähr $1.5-2 Mrd., welche das Rote Kreuz und andere NGOs von normalen Leuten erhalten haben und die von den Regierungen verdoppelt wurden? Was lief mit diesem Geld? Und da ist es sehr schwierig, die Spur dieser Mittel zu verfolgen“.

Weniger als einen Monat nach dem Beben sandte US-Botschafter Kenneth Mertens ein Kabel mit dem Titel „THE GOLD RUSH IS ON“ nach Washington. In diesem von The Nation, Haiti Liberté und Wikileaks veröffentlichten Dokument vom 1. Februar 2010 berichtete Botschafter Merten, dass der haitische Präsident ein Treffen mit dem früheren General Wesley Clark hatte, bei dem es um die Verkaufspromotion eines Unternehmens in Miami ging, das Schaumkern-Häuser baut. Lewis Luke, ein hochrangiger Hilfekoordinator der [staatlichen Entwicklungsagentur] USAID traf sich unmittelbar nach dem Beben zweimal in seiner Eigenschaft als USAID-Vertreter mit dem haitischen Premier. Er verliess danach die USAID und heuerte für $30'000 im Monat beim Florida-Unternehmen Ashbritt, bekannt für seine grossen Katrina-Verträge ohne Ausschreibungen, und einem prosperierenden haitischen Partner an, um für Katastrophenverträge zu lobbyieren. Locke sagte: „Es wurde uns klar, dass, wenn richtig damit umgegangen wird, das Erdbeben ebenso eine Chance wie ein Unglück darstellt“. Ashbritt und ihr haitischer Partner bekamen rasch einen $10 Millionen-Vertrag ohne Ausschreibung.

Fast zwei Jahre nach dem Beben ist von den für Infrastrukturwiederaufbau vorgesehenen $412 Mio. der US-Regierung weniger als ein Prozent ausgegeben worden.

Und dann kommt ein Gaupp, schwafelt von „Almosenempfänger-Mentalität“, fant für weitere Unternehmerinitiative und pinselt den gängigen RassistInnen hierzulande Bauch und Kamm! (Und kein Wort zu der von den UNO-Truppen eingeschleppten Cholera-Verheerung). Das Krepieren derer unten dort als Vorlage für die ideologische Selbstvergewisserung der MitläuferInnen hier.