(zas, 25.7.11) Die Politik der Zwangsräumung von Vertriebenenlagern, wie sie der gestern hier publizierte Bericht von Bill Quigley und Jocelyn Brooks so eindringlich beschreibt, geht weiter. Am 21. Juli 2011 veröffentlichten das Institute für Justice & Democracy in Haiti (IJDH) aus den USA und sein haitisches Pendant Bureau des Avocats Internationaux (BAI) den Bericht „Football over Families“ über die Räumung von 514 Familien am Montag letzter Woche, die in einem Lager auf dem Parkplatz des Stadions Sylvio Cator in Port-au-Prince eine Notunterkunft gehabt hatten. Begründung des Bürgermeisters Jean-Yves Jason: das Stadion für einen bevorstehenden Match aufzumöbeln. Staatspräsident Michel Martelly hatte das Lager zusammen mit fünf anderen auf einer Liste geführt, die in den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit geräumt werden sollen.
Das Lager im Stadion Sylvio Cator |
Einige, lang nicht alle, der betroffenen Haushalte erhielten laut IJDH/BAI 11'000 Gourdes, umgerechnet $250, um fort zu gehen. Jeena Shah von IJDH/BAI erklärte dazu: „Die Offerte von kleinen Summen Geld kommt angesichts von in die Höhe schnellenden Mieten und dem Fehlen von günstigen Wohnmöglichkeiten und von Hilfe bei der Wohnungssuche einer wirtschaftlichen Zwangsausübung gleich“.
Nun, einige wenige der aus dem Stadion Geräumten hatten eine Alternative angeboten bekommen. IJDH/BAI beschreibt die so: „Die Familien, die an der in einer besonders gefährlichen Gegend von Port-au-Prince befindlichen Umsiedlungsstelle eintraffen, fanden sie ohne Trinkwasser, Sanitäranlagen und Sicherheit vor. Dafür fanden sie ein von Müll übersätes Feld mit einer kleinen Zahl von extrem inadäquaten Zelten vor – offenbar ausgelegt auf 2-3 Personen (bei einer durchschnittlichen Familiengrösse von 5 Menschen), nicht mehr als 1.2 Meter hoch und nicht wasserdicht. In der Mitte des Feldes stand ein heruntergekommenes Haus, dessen Boden fast ein Fuss unter schmutzigem Wasser und Abfall stand, das als Nährboden für Krankheiten dienen kann“.
Die BAI-Anwältin Beatrice Lindstrom kam auf eine dramatische Dimension dieses „Angebots“ zu sprechen: „Angesichts dessen, dass sich Haiti mitten in einer wütenden Cholera-Epidemie und in einer Wirbelsturm-Saison befindet, sind diese Bedingungen nichts als unmenschlich und stellen eine eklatante Verletzung der Menschenrechte dar“.
Cholera
Die Cholera-Epidemie, von der jetzt erwiesen ist, dass sie von UNO-Truppen eingeschleppt worden ist (s. Bericht des UNO-Experten-Gremiums vom 4.5.11), nimmt seit Beginn der Regenzeit im Mai/Juni wieder dramatische Ausmasse an. Laut einer am 16. März 2011 in der Fachzeitschrift Lancet referierten Studie muss für die Zeit vom 1. März 2011 bis 30. November 2011 mit 11'100 Todesfällen und 779'000 Erkrankungen wegen Cholera gerechnet werden. Seit ihrem Ausbruch letzten Oktober sind laut dem am 11. Juli 2011 im US-Linksblatt The Nation veröffentlichten Artikel The Shelters That Clinton Built von Isabel Macdonald und Isabeau Doucet 5500 Menschen an der Cholera gestorben. Die beiden Journalistinnen geben die Aussage des Landesdirektors von Médecins sans Frontières wieder, wonach im Armutsvorort Carrefour von Port-au-Prince die Cholera-Fälle von 85 Ende April auf 820 in der ersten Juniwoche gestiegen seien.
Laut Angaben von UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon vom April 2011 waren, 15 Monate nach den Erdbeben, 80 Prozent der Trümmer nicht weggeräumt. Von menschenwürdigen, nicht zwangsweise krankmachenden Wohnstätten für die Erdbebenüberlebenden kann somit keine Rede sein.
Clintons vergiftetes Geschenk
Dies das lebensbedrohende „Umfeld“, in welches hinein der von Frankreich, Kanada und den USA eingesetzte „Wahlsieger“ Martelly, ein überzeugter Anhänger der Duvalier-Diktatur, seit seinem Amtsantritt immer mehr Familien räumen lässt (zu den „Wahlen“ s. Haiti: Wahlbetrug optimieren). Natürlich ist die „internationale Gemeinschaft“ an diesem unerträglichen Stand der Dinge mitbeteiligt. Wir haben auf diesem Blog und im Correos mehrmals auf die kapitalterroristische Vernutzung der Erdbeben hingewiesen, wie sie seit dem Wirbelsturm Mitch 1998 in Zentralamerika „katastrophenkapitalistischer“ Usus geworden ist (für Haiti, vgl. Correos 161, April 2010: Katastrophenkapitalismus I und II).
Im erwähnten Nation-Artikel berichten Isabel Macdonald und Isabeau Doucet über ein bezeichnendes Bravourstück des Uno-Sondergesandten für Haiti und Ko-Präsidenten der „Wiederaufbau“-Kommission Interim Haiti Recovery Commission (IHRC), Bill Clinton. Seine Clinton Foundation hatte insgesamt 20 Trailer für kommunale Notunterkünfte, bzw., wie sie auf ihrer heute besuchten Homepage erklärt, als „Schulräume für Zeiten ohne Sturmrisiken“ installiert. Das klang vor dem Nation-Artikel vom 11. Juli 2011 anders, nämlich so: „…Wirbelsturm-sichere Notschutzräume, die auch als Schulen dienen können … um die Sicherheit von verletzbaren Bevölkerungen in Hochrisikozonen während der Wirbelsturm-Saison zu garantieren“ (zitiert nach dem Nation-Artikel).
Die beiden Autorinnen beschreiben, wie die zuständigen Gemeinde- und Schulbehörden aufgrund der öffentlichen Versicherungen Clintons in Haiti felsenfest davon überzeugt waren, dass die Trailer jedem Wirbelsturm widerstehen würden – perfekte Schutzräume für die Kinder. Und sie zitieren neue und alte, dem diametral widersprechende Befunde ausgewiesener Experten, etwa auch der US-Notstandsbehörde FEMA: Die Trailer sind keineswegs „Wirbelsturm“-geeicht.
Doch nicht genug damit. Die beiden Frauen fanden trotz Versteckspielen der Clinton-Stiftung heraus, von wem die Clinton-Stiftung die Trailers bezogen hatte – vom Unternehmen Clayton Homes, das dem Grossfonds Berkshire Hathaway von Warren Buffet gehört, einem Sponsor von Bill und Hillary Clinton. Seine Clayton Homes hat in den USA einen Prozess, weil sie nach dem Wirbelsturm Katrina 2005 in New Orleans mit dem Krebserreger Formaldehyd verunreinigte Trailer für die dortigen Überlebenden geliefert und damit massiven öffentlichen Protest provoziert hatte. Luftproben, welche The Nation aus 12 von Clintons Trailern in Haiti entnommen und zur Untersuchung an renommierte US-Labors geleitet hatte, ergaben in einem Fall eine Konzentration von Formaldehyd von 250 Teilen pro Milliarde. Für den Experten Randy Maddalena vom Lawrence Berkeley National Laboratory liegt die gefundene Dosierung 12-25 mal über jener für „normale“ Bauten, „und selbst die gilt als über den regulatorischen Schwellen liegend“. Auch die Fundquote entspreche jener von 9 Prozent in den von der FEMA nach Katrina vermittelten Trailern von Clayton Homes. Maddalenas Schlussfolgerung zu den Trailern in Haiti: „Man muss diese Kids dort rausholen“.
Die Schultrailer in Léogâne. Foto: Canadian Centre for Investigating Reporting. |
Die beiden Nation-Journalistinnen sind nicht von ungefähr auf diese Zusammenhänge gestossen. Als sie die Clinton-Trailer ein halbes Jahr nach ihrer Installation besuchten, fanden sie „Schutzräume“ „mit einer Reihe von Problemen“ vor, die „von Schimmel über Bruthitze zu schäbiger Konstruktion“ reichten. In diesen „Schulzimmern“ herrschte eine stickige Hitze von 40 Grad, Wasser- und sanitäre Anlagen fehlten – selbst bei Trailern, die abseits von Wohngegenden aufgestellt worden waren. Die Sechstklässerin Judith Seide berichtete, dass ihr „Kopf“ jeden Tag „schmerzt und ich spüre, wie sich alles dreht und ich mich nicht mehr bewegen darf, sonst würde ich fallen“. Ihre Sicht wird dunkel, genau so wie bei ihrem Schulkameraden Judel, der manchmal seine Augen nicht öffnen kann. Die Sechstklässerin Mondialie Cineas sagt, ihr Lehrer gebe ihr und der Klasse dreimal die Woche Schmerztabletten, um den Unterricht durchstehen zu können.
Auch Lehrpersonen, Eltern oder etwa der 41-jährige Schulabwart Innocent Sylvain werden in Mitleidenschaft gezogen, vor allem der Abwart, der auch das in die Trailer eindringende Wasser (!) entsorgen muss. Wenn er viele Stunden in den Trailers verbringen muss, brennen und beissen seine Augen. Kein Wunder: Laut dem Center for Disease Control hängt Formaldehyd nicht nur ursächlich mit seltenen Krebsarten, sondern auch mit der Verschlimmerung von Asthma und der Entstehung chronischer Lungenleiden zusammen – besonders, aber nicht nur bei Kindern.
Es war also nicht einfach die „Hitze“, wie alle lange annahmen, die Leiden verursachte. Das Nation-Team kannte die Katrina-„Vorgeschichte“, recherchierte und klärte etwa den Bürgermeister von Léogâne, Santos Alexis, über die Zusammenhänge auf. Seine Reaktion: „Ich hoffe, es handelt sich nicht um die gleichen Trailers, die die Leute in den USA krank gemacht haben. Das wäre ein Chaos …. Es wäre sehr demütigend für uns und wir würden dies als schwarze Angelegenheit nehmen“. Damit zog er, wie die Journalistinnen erklären, „eine Parallele zwischen seiner Gemeinde in Haiti, der ersten schwarzen Republik der Welt, und der unverhältnismässigen Zahl von AfroamerikanerInnen, die vom Fehlmanagement der US-Regierung bei der Notstandsbewältigung nach dem Wirbelsturm Katrina betroffen wurden“.
„Goldrausch“
Clinton ist kein Einzelfall. In einem von Wikileaks der Zeitschrift Haiti Liberté zugänglich gemachten Kabel des US-Botschafters Kenneth Merten in Haiti vom 1. Februar 2010 schreibt der Mann unter dem Titel: „The gold rush is on“: „Wie sich Haiti aus dem Erdbeben hervor grabt, bringen sich verschiedene Unternehmen in Position, um ihre Konzepte, Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen. Präsident Préval traf sich mit General Wesley Clark [ehemaliger NATO-Oberbefehlshaber in Europa und Chef im Balkankrieg] und erhielt eine Verkaufspräsentation eines für einkommensschwache BewohnerInnen entworfenen Hauses mit einem Schaumkern. AshBritt [ein auf „schnelle Antworten bei Katastrophen“ spezialisiertes US-Unternehmen, das nach Katrina mutmasslich korrupte Riesenaufträge herein holte], hat mit mehreren Institutionen über einen nationalen Plan für den Wiederaufbau von Regierungsgebäuden gesprochen. Andere Unternehmen schlagen ihre Wohnungslösungen vor oder ihre Planungsideen für die Landnutzung, und wieder andere Baukonzepte. Alle wetteifern um das Ohr des Präsidenten in einem veritablen Jekami“.
Zwei Anmerkungen: Mit der Aufstellung der von Clinton ko-präsidierten „Wiederaufbau“-Kommission IHRC, in der die Kolonialgemeinschaft das Sagen hat und die über den Einsatz der Hilfsgelder entscheidet, dürfte der lästige Umstand, beim haitischen Präsidenten Gehör finden zu müssen, erledigt sein. Und wo die einen „Goldrausch“ sehen, und wieder andere gleich die einzige rationale Hilfe für Haiti, sehen wir Aasgeier, die, im Gegensatz zu den Vögeln allerdings, sich nicht nur an Leichen schmausen, sondern sie auch produzieren.