Die Wahrheit über die extreme globale Ungleichheit

Mittwoch, 14. August 2013



Die Wahrheit über die extreme globale Ungleichheit
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(zas, 13.8.13) Ein in der Übersetzung gekürzter Artikel aus der Al-Jazeera-Homepage von April 2013, auf den wir erst kürzlich aufmerksam gemacht wurden. Die globale Einkommensschere öffnet sich immer mehr – nichts Neues, aber es ist nützlich, Angaben in konzentrierter Form zu haben. Der Streit um die Höhe der Entwicklungshilfe – hoffnungslos auf einem Nebengleis.
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 The truth about extreme global inequality
Jason Hickel*
Die Krise des Kapitals, der Aufschwung der Occupy-Bewegung und der Crash von Südeuropa haben zum ersten Mal in Jahrzehnten das Problem der Einkommensungleichheit in das Mainstream-Bewusstsein des Westens gebracht. Jetzt reden alle darüber, welch extrem unangemessenen Anteil am Reichtum die reichsten 1 Prozent in ihren jeweiligen Ländern beanspruchen. Das wurde sonnenklar, als ein Trickfilm-Video letzten Monat über die Reichtumsungleichheit in den USA viral wurde. Wenn eine Informationsgrafik die Aufmerksamkeit von Dutzenden von Millionen InternetbenutzerInnen erlangt, weiss man, dass ein wunder Punkt getroffen wurde.
Aber die globale Dimension der Ungleichheit glänzt weitgehend durch Abwesenheit in dieser Story. Deshalb haben wir von /The Rules beschlossen, ein Video herzustellen, das dem etwas Aufmerksamkeit leiht. Die Informationen sind nicht neu, aber weiterhin erschreckend. Im Video sagen wir, dass die reichsten 300 Personen auf der Welt mehr Eigentum besitzen als die ärmsten 3 Milliarden, fast die Hälfte der Erdbevölkerung. Wir nahmen diese Zahlen, da sie sich für einen klaren und erinnerbaren Vergleich eignen, aber tatsächlich ist die Situation noch ärger: Die reichsten 200 Leute besitzen etwa $ 2.7 Billionen, mehr als die 3.5 Milliarden Ärmsten, die zusammen etwa $ 2.2 Billionen[i] haben.
Aber wir wollten mehr tun als nur das brutale Ausmass der Ungleichheit zu illustrieren; wir wollten aufzeigen, dass dieses zunehmend schlimmer wird. Ein kürzlicher Bericht von Oxfam zeigt, dass "das reichste 1 Prozent in den letzten 20 Jahren sein Einkommen um 60 Prozent vergrössert hat, wobei die Finanzkrise diesen Prozess eher beschleunigt als verlangsamt". Das Einkommen der Top-0.01-Prozent ist sogar noch schneller gewachsen.
Das Video zeigt, wie die sich ausweitende Ungleichheit zwischen den Ländern funktioniert. Unter dem Kolonialismus weitete sich der Unterschied zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern von 3:1 zu 35:1 aus, zum Teil, weil die europäischen Mächte so viel Reichtum in Form von Ressourcen und Arbeit aus dem globalen Süden extrahierten. Seither ist die Differenz auf fast 80:1 angewachsen. Wie ist das möglich?

Kapital fliesst von arm zu reich
Die Kluft wächst zum Teil wegen der in den letzten Jahrzehnten von internationalen Institutionen wie der der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds oder der Welthandelsorganisation den Entwicklungsländern aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftspolitik. Diese Politik zielt darauf, die Märkte mit Gewalt zu liberalisieren, um den Multis beispiellosen Zugang zu billigen Ressourcen, Land und Arbeit zu geben. Zu einem ernsten Preis: Arme Länder haben dem Ökonomen Robert Pollin von der University of Massachusetts zufolge ungefähr $ 500 Mrd. pro Jahr dabei verloren.
Im Ergebnis sehen wir einen klaren Reichtumsfluss von arm zu reich. Wir haben das Video so gestaltet, dass es hilft, diesen Fluss zu visualisieren.
Wenige Leute wissen von diesem konstanten Absaugen von Reichtum. Einer der Gründe dafür liegt darin, dass die Rede von der Hilfe so viel Raum einnimmt. Siehe die enorme Publizität für Jeffrey Sachs und die Milleniums-Entwicklungsziele, oder für Bono und Bob Geldof oder sogar die grossen Hilfswerke wie Save the Children, Christian Aid und Action Aid.
Regierungen reicher Länder zelebrieren andauernd, wie viel sie für die Hilfe an Entwicklungsländer ausgeben und Multis pflatschen "Social Responsibility"-Kredentiale über all in ihre Jahresberichte und Produktlinien hin – beide geben nicht zu, wie viel sie aus den Entwicklungsländern heraus holen.
Das Video beleuchtet den Fakt, dass Hilfsgelder von reich zu arm verblassen im Vergleich zum Kapitalbetrag, der andersherum fliesst. Allein Steuervermeidung macht jährlich mehr als $ 900 Mrd. aus – Geld, das die Unternehmen von Entwicklungsländern stehlen. Sie verstecken es in Steueroasen (oder genauer: Diebstahlzonen), von denen die Londoner City als globaler Hub fungiert. Schuldendienstzahlungen stehen für weitere $600 Mrd. im Jahr, vieles davon als Zinseszinszahlung für illegitime Kredite an längst abgesetzte Diktatoren. Beide Finanzflüsse können als direkte Cash-Transfusionen von arm zu reich begriffen werden[ii]
Verhältnis Hilfe an den Süden und Hilfe des Südens(Quelle: Video des Autors)

Es gibt so viel mehr, das wir im Video hätten einbeziehen können. Zum Beispiel das neue Buch von Fred Pearce, The Land Grabbers, das aufzeigt, dass die Multis allein im letzten Jahrzehnt von den Entwicklungsländern Land geraubt haben, das die Grösse von Westeuropa übertrifft. Könnten wir den Wert dieses Landes quantifizieren, hätten wir einen Riesenbetrag zum Haufen von $ 2 Billionen hinzufügen können, den das Video als Fluss von arm zu reich veranschaulicht.
Oder nehmen wir den Klimawandel: eine globale Erwärmung um 2 Grad wird Regionen wie Afrika oder Südasien ungefähr 5 Prozent ihres BIP kosten, weit mehr als den reichen Ländern, obwohl diese die Hauptverantwortung für diese Katastrophe tragen. Verluste dieser Dimension werden die Entwicklungshilfe als unbedeutend erscheinen lassen.
Dies sind die grossen Treibkräfte für Armut und Ungleichheit. Dies sind die Probleme, die wir angehen müssen.
* Jason Hickel unterrichtet an der London School of Economics


[i] (zas) Dieser Link führt auf einen "Guardian"-Artikel mit einem ähnlichem, aber nicht dem angegebenen  Thema. Offenbar ein Irrtum.
Generell sind globale Reichtumszahlen natürlich mit Vorsicht zu geniessen. Wie etwa wird der "Wert" eines über Generationen funktionierenden Bewässerungssystems "berechnet", wie jener einer Wasserquelle in einer nomadischen Ökonomie, wie das Aufziehen von Kindern nicht nur in der Schweiz, sondern im Sudan? Welche Daten werden wo wie von wem erhoben, welche nicht?  Solche Angaben geben uns eine Richtung an, mehr nicht. Die quantitative Dimension ist nur die Hülle der qualitativen Brutalität.
[ii] (zas) Laut Video beträgt die "Entwicklungszusammenarbeit" des Nordens mit dem globalen Süden $130 Mrd. im Jahr.