Nicaragua: Desinformation und offene Fragen

Sonntag, 11. August 2013

(zas, 11.8.13)

Anhand einer kleinen Meldung in der NZZ vom 9. August zeigen wir einige Momente der Desinformation zu Nicaragua auf. Dies vor dem Hintergrund, dass tatsächlich immer wieder offenen Fragen zur Entwicklung im Land auftauchen, aber meist andere, als der Mainstream glauben machen will. Zuerst die NZZ-Meldung:
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Erfolg für Nicaraguas Senioren
Die Regierung zahlt Teilrenten
pgp. San José · Nach jahrelangen Protesten haben Nicaraguas hartnäckige Senioren die Regierung zum Nachgeben im Konflikt um Rentenansprüche gezwungen. Seit diesem Monat erhalten über 60-Jährige, die wegen mangelnder Beitragsjahre keinen Anspruch auf die volle staatliche Altersrente haben, von der Sozialversicherung ihren jeweiligen Leistungen entsprechende Teilrenten.
Die 2007 begonnene Kampagne der sich betrogen fühlenden Senioren kulminierte im Juni in einer friedlichen «Besetzung» des Hauptsitzes der Sozialversicherung, die von der Polizei unsanft beendet wurde. In der Folge solidarisierten sich zahlreiche junge Leute mit den Alten und errichteten eine Zeltstadt auf dem Platz vor dem Gebäude. Diese wurde von Schlägertrupps der Sandinistenpartei FSLN zerstört, wobei die Polizei tatenlos zuschaute.
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Natürlich kommen gleich einige Fragen auf: Woher auch nur hat sich die NZZ plötzlich ein Herz für UnterklassenrentnerInnen geborgt? Oder bei all ihrer Ambivalenz, warum soll die sandinistische Führung Leute, die für Sozialforderungen eintreten, polizeilich abzuservieren? Immerhin ist eigentlich unbestritten, dass es in Nicaragua unter der sandinistischen Regierung zu beträchtlichen Soziareformen gekommen ist.   
1979 fand die sandinistische Revolution 8000 Mitglieder der Sozialversicherung INSS (staatliches Alters- und Krankheitsinstitut für Leute mit einem Job im formellen Sektor) vor, die keine Renten erhielten, weil sie nicht die geforderten 750 Wochen lang einbezahlt hatten (weil der Patron die Sozialzahlungen für sich behalten hatte oder sie nicht lange genug formelle Jobs gehabt hatten). Die Revolution führte per Dekret eine reduzierte Rente für alle ein, die mindestens 250 Wochen ihre Beiträge einbezahlt hatten.
1994, als die gefeierte neoliberale Präsidentin Violeta Chamorro die Minimalrente ersatzlos abschaffte, fand Peter Gaupp, Verfasser der obigen Meldung, daran nichts auszusetzen. Er war damals schon NZZ-Korrespondent gegen die Bewegungen in Zentralamerika gewesen. Jetzt aber ist Gaupp scheinbar für die RentnerInnen und den Ausbau ihrer Sozialrechte. Dabei gehen ihm einige "Details" etwas unter. Seit die Sandinistas wieder an der Regierung sind, erhielt diese Klasse der RentnerInnen zwar keine formale Rente, aber immerhin einen Bonus als Ersatz, bezahlt aus den ALBA-Fonds. Warum Bonus und nicht Rente? Weil, wie die Rechten angeben, der Diktator auf dem Präsidentenstuhl die Leute mit Geschenken (Boni) statt Rechten (Renten) von sich abhängig machen will? Nun, vielleicht ist es nicht ganz so einfach. Die Sozialversicherung INSS scheint tatsächlich in einer  Krise zu stecken, etwa ab 1919 sollen Finanzierungsengpässe anstehen, weshalb eine Reform Not tue. Findet auch der IWF und drängt gleich wieder seine fabelhaften Rezepte auf: Rentenkürzung, Erhöhung des Pensionierungsalters… Daraus soll aber nichts werden, glaubt man den Worten von Staatspräsident Daniel Ortega. Und ein Zusammenschluss von sandinistischen und nicht-sandinistischen Gewerkschaften liess vor wenigen Tagen verlauten, solche Rezepte seien ein Casus belli. Das Sozialinstitut solle auf zwei Wegen reformiert werden: Höhere Abgaben der Patrons (die Bourgeoisie in Nicaragua schwimmt, dank der positiven Wirtschaftsentwicklung, in Geld) und Mehreinnahmen auf der Basis der Schaffung von besser qualifizierten und bezahlten Arbeitsplätzen.
Bisher haben wir in der NZZ keinen flammenden Artikel gegen dieses Daueransinnen des IWF in Nicaragua oder in Südeuropa oder in den USA gelesen. Überraschend, nicht? Gaupp teilt auch nicht mit, dass die 2007, im Jahr der sandinistischen Regierungsübernahme, eingesetzten Kämpfe der erwähnten RentnerInnen vom sandinistischen Gewerkschaftsbund FNT unterstützt und finanziert sind. Und vom FNT weiss man, dass er sehr eng mit den Frente Sandinista verbunden ist. Und kein Wort dazu, dass dem Chef dieser spezifischen RentnernInnenorganisation mehrere Korruptionsvorfälle "unterlaufen" sind, worauf ihm seine Machtbefugnisse beschnitten worden sind. Der Mann rächte sich, in dem er zur antisandinistischen Rechtspartei MRS lief (die sich in den 90er Jahren vom Frente Sandinista wegen dessen Unterstützung von Sozialkämpfen abgespalten hat …). Und genau damit wurde das Schicksal der RentnerInnen Herzensanliegen der Rechten, so sehr, dass deren Protestaktion im Sozialinstitut gleich von den Jugendverbänden des MRS und der erzreaktionären Partei PLI des Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán unterstützt wurde. Ja, es stimmt, sandinistische Kräfte haben diese "engagierten Jungen" vor dem INSS vertrieben; es soll dabei niemandem von den protestierenden RentnerInnen ein Haar gekrümmt worden sein.
Am 19. Juli, dem 34. Jahrestag der sandinistischen Revolution 1979, verkündete Daniel Ortega, dass die Minimalrente nun wieder offizialisiert sei, also Rente, nicht mehr Bonus. Mit auf der Tribüne der erwähnte Chef der Organisationen dieser RentnerInnen. Zwei Fragen stellen sich uns: Warum ist der offenbar korrupte Mann wieder im Rennen, was sind die Kräfteverhältnisse? Und vor allem, warum ist eine Rente jetzt möglich, und vorher war sie es nicht? Offenbar hat die Staatsführung dem Druck nachgegeben, zugunsten einer, wenn die Angaben zum dringenden Reformbedarf des INSS stimmen, sehr prekären Lösung. Die kommende Reform des Instituts wird zeigen, wie die Karten verteilt sind. Allzu viel Pessimismus scheint fehl am Platz: Ende 2006 (also bei Amtsantritt von Ortega) verzeichnete das INSS 439'002 Versicherte, Ende 2011 waren es 596'328 (+ 35.8 %). Die Zahl der Rentenberechtigten stieg im gleichen Zeitraum um 25 % auf 134'296 Menschen. Und die Durchschnittsrente erhöhte sich ebenfalls in dieser Periode um 118.7 % auf 2994 Córdobas (inflationsbereinigt um ca. 60 %).

Der Kanal
Die obige Meldung dient wie das Meiste, was im Mainstream zu Nicaragua geschrieben oder gesagt wird, der Verfälschung. Das ist klar. Oft weniger klar ist, was denn real Sache ist in diesem Prozess. Mit dem von Ortega im Juni propagierten Bau eines "grossen Kanals" zwischen den beiden Ozeanen verschärfen sich diese Dimensionen der Unklarheit, nur schon wegen des gigantischen Ausmasses des Projekts. Wir fragen nach den sozialen und ökologischen Konsequenzen dieses Super-Megaprojekts. Dabei müssen wir uns durch jede Menge rechter Desinformationen durchkämpfen (wie sie natürlich auch Gaupp in der NZZ verbreitet hat). Wir sehen aber auch in den Pro-Kanalbau-Darlegungen der Regierung Ungereimtes.
Nur ein Beispiel für die Problematik: Der riesige Nicaragua-See, die grösste Süsswasserreserve Zentralamerikas, müsste für die Passage der Post-Panamax-Tanker ausgebaggert werden, mit eventuell katastrophalen Folgen im Bereich der Sedimentierung des Sees. (Post-Panamax bezieht sich auf Tanker einer Grösse, für die auch der Panamakanal nach Abschluss seiner Erweiterung zu klein bleiben wird.) Das Problem ist aber komplexer: Offenbar schreitet die Sedimentierung derart schnell voran, dass dieser See in 15 bis 20 Jahren zum Teich wird, wenn nicht Wiederaufforstungsmassnahmen in seinem Einzugsgebiet von 40'000 qkm ergriffen werden, zusammen mit einer Lösung der Frage des Umgangs mit den Agrarabfällen in dieser Region, offenbar Hauptursache der Segmentierung. Das übersteigt die finanziellen Kapazitäten Nicaraguas bei weitem, weshalb die Regierung aussagt, einzig ein kapitalintensives Unterfangen wie der Kanalbau, bei dem die Investoren alles Interesse an der Rettung des Lago Nicaragua haben, stelle eine Lösung dar. Denn der Kanal braucht das See-Wasser für sein Funktionieren. Als ich dieses Argument in abgekürzter Form zum ersten Mal las, packte mich ein Grauen. Umweltzerstörung als Umweltrettung, nur was kostet, schützt die Umwelt – die alten Weltbank-Linien. Jetzt, wo ich von der fast nirgends berichteten Gefährdung des Lago Nicaragua auch ohne den Kanal weiss, erscheint dieses Argument nicht mehr ganz so absurd wie ohne diese Info. 
Werbung für den "grossen Kanal" (Qulle: La voz del sandinismo)

Doch was, wenn auch nur einer dieser Tanker eine Havarie im See hat? Wie war das mit der Exxon-Küstenzerstörung in Alaska? Wo blieben die Abermilliarden, nötig, um das Allerschlimmste zu verhindern? (Auf dem Konto von Exxon, natürlich.) Und was kann das kleine Nicaragua in so einem Fall schon machen? Zur Beruhigung trägt nicht bei, dass in den Machbarkeitsstudien der nächsten zwei Jahre das britische Unternehmen ERM die Verantwortung für die ökologischen Abklärungen hat. Zwar verfügt EMR in Nicaragua bisher in ökologischen Kreisen über einen guten Ruf, weil sie etwa Kleinprojekte in Sachen Wasserreinigung finanziert hat. Doch laut dem Vizeleiter der Ökoorganisation Centro Humboldt war es EMR, die eine das Keystone XL-Projekt befürwortende Ökostudie verfasst hat. Das Projekt sieht den Transport von Schieferöl aus Kanada  in die grossen Erdölraffinerien im Midwest der USA vor; letztes Jahr musste Obama aufgrund eines massiven Protests seine Umsetzung aussetzen. Auch die von Präsidentengattin Rosario Murillo, Nummer 2 in der Partei- und Staatsführung, angerufene Mutter Gottes als Schutzpatronin des "Grossen Kanals" zur Überwindung der Armut in Nicaragua, ähnliche Ergüsse Ortegas oder das Mitwirken von Topshots aus der Wall Street und dem imperialen Kader der USA wie etwa John Negroponte am Projekt tragen nicht zur Beruhigung bei.
Nur, es wäre einfach, schnell ein paar "coole" Aussagen über "linken Extraktivismus" (Wirtschaften auf der Basis von zerstörerischer Ausbeutung oder in diesem Fall von Transport von Naturressourcen) zum Besten zu geben. Wir ziehen es vor, erst zu begreifen versuchen, was das Projekt soll, wie es aufgegleist ist, ob und warum es zustande kommt oder nicht. Das braucht Zeit, Arbeit, Zugang zu nicht offenkundigen Hintergrundinfos – wir hoffen, in diesem Blog und im "Correos" mit der Zeit Material dazu liefern zu können.