„Mit Beissen versuchten die Frauen zu überleben“

Freitag, 29. Juli 2016



(zas, 29.7.16) Da und dort eine kleine Meldung. ÄrztInnen ohne Grenzen (MsF) haben am 20. Juli 2016 im Mittelmeer in Seenot geratene MigrantInnen retten können und die Leichen von 22 weiteren Menschen, 21 von ihnen Frauen, geborgen.
Il Manifesto hat am 23. Juli einen Artikel mit Zeugnissen von Überlebenden und MSF-Mitgliedern  dazu veröffentlicht: «A morsi le donne cercavano di vivere». Es sind erschütternde Berichte.
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„Mit Beissen versuchten die Frauen zu überleben“
Von Rachele Gonnelli

„Der Boden des Schlauchboots brach unter dem Gewicht der Personen entzwei, und Wasser begann einzudringen. Als das Wasser bis zu den Knien reichte, gerieten die Mädchen, die in der Mitte sassen, in Panik. Sie heulten und schrieen. Einige von ihnen haben versucht aufzustehen, aber sie sind nach hinten in die Pfütze aus Wasser und Benzin ausgerutscht. Einige bissen die Männer, denn sie sie sassen unten in der Falle.“
Die Mittelmeerüberfahrt begann für David im nächtlichen Libyen.

„Ich ging vor drei Nächten an Bord des Schlauchboots. Es war eine schreckliche Nacht; einige Männer feuerten Schüsse in die Luft, sie haben die Personen versammelt und Richtung Meer getrieben. Sie haben Zuviel Personen auf unser Boot geladen.“

Er erinnert sich der Momente der Tragödie, der absoluten Panik, als das Boot nach Tagen der Fahrt im offenen Meer entzwei riss.

„Alle im Boot bewegten sich erregt. Sie konnten nirgends hin, aber wenn sie ihre Position änderten, versuchten, nicht auszurutschen, nicht in der Falle der Pfütze von Benzin und Wasser zu bleiben, aber wie sie sich von einer Seite zur anderen bewegten, kam immer mehr Wasser hinein. Wir fingen an, das Wasser auszuleeren, das Boot war voll Wasser.“

Dann kam die Hilfe:

„Als das italienische Schiff kam, wurden zuerst alle noch lebenden Frauen weggetragen. Ein Mädchen, das unter den Leichen lag, lebte noch.“ „Ich lebe noch und danke Gott dafür. An Bord des Bootes zu gehen, ist wirklich gefährlich. Das ist die Wahrheit. Ich rate niemandem dazu. Ich kann nicht vergessen, was ich mit meinen Augen gesehen habe.“
Quelle: Il Manifesto

Mary, vergewaltigt in Libyen
Das Zeugnis von Mary, 24 Jahre alt, sie Nigerianerin, auch sie an Bord des brechenden Boots, zusammen mit ihrem Mann, ist sogar noch härter.

„Während der Überfahrt drang Wasser ein. Ich war am Ertrinken, ich kämpfte ums Überleben. Statt mir zu helfen, traten mich die Personen und benutzten mich, um zu versuchen, sich über Wasser zu halten. Eine Schwangere bat um Hilfe, einige Personen waren schon tot. Ich bat weiter um Hilfe, aber niemand half mir. Ich atmete nicht, ich musste beissen, um atmen zu können. Ich sagte Gott, dass ich nicht sterben wollte. Dann reif jemand: ‚Deine Frau ruft dich‘, und mein Mann hat meine Hand genommen und mich gezogen, damit ich atmen könne. Die Leute gingen über mich. Einige bissen meinen Mann, sein Körper war voller Bisse. Mit aller Kraft, die er noch hatte, hat er mich genommen und über den Rand des Schlauchboots gedrückt. So kam das Wasser zu meinem Mund raus. Als wir einen Helikopter sahen, haben wir versucht, um Hilfe zu winken. Ich dachte, dass auch die libysche Polizei kommen könnte. Ich wäre lieber in jenes Gefängnis zurückgegangen als im Meer zu sterben. Gott hat mir eine zweite Chance gegeben.“

„Auf unserem Rettungsschiff habe ich einen Mann gesehen, der mir nicht geholfen hat. Er sagte, es sei nicht seine Schuld gewesen, er habe selber um sein Leben gekämpft. „

Mary hatte zwei Monate in Libyen verbracht. Sie war dort im Gefängnis und berichtet, dass sie von den Wärtern vergewaltigt worden ist.

„Ich kann das nicht abstreiten. Sie haben die Pistolen, sie schreien, reden in ihrer Sprache. Ich hoffte, sie würden mich nicht beachten, dass sie mich als erwachsene Frau sähen. Sie suchten junge, attraktive Mädchen. Sie langen dir an den Busen, machen, was sie wollen, sie schlagen dich wie ein Tier. Jeden Tag weinten Personen, fielen in Ohnmacht. Wenn du um Hilfe batest, lachten sie dir ins Gesicht. Hin und wieder öffneten sie das Gefängnis und sagten dir, du solltest abhauen, aber dann fingen sie dich ein und brachten dich wieder zurück. Dies ist mein Zeugnis; ich will es benutzen, um den Personen zu sagen, wie gross Gott ist.“

Das Schweigen der Überlebenden
Die Ärztin Erna Rijnierse leitet das medizinische Team von MsF an Bord der Aquarius. Sie berichtet:

„Als wir ankamen, ist uns sofort das Schweigen aufgefallen. Normalerweise werfen die Personen die Arme in die Luft, schreien, wenn du zu einem Boot gelangst. Dieses Mal lief alles still ab. Ich bat um die Erlaubnis, das Boot zu betreten. Das Wasser reichte mir an die Wade. Es gab einen äusserst penetranten Geruch von Benzin, gemischt mit Urin und anderem. Es war schwierig, nicht auf den Leichen herumzutreten, aber ich wollte absolute Gewissheit, dass die Frauen jenseits jeder Möglichkeit der Wiederbelebung wären. Einige hatten schon die Leichenstarre. Es war klar, dass sie nicht eben in den letzten Minuten gestorben waren. Und ich konnte an ihren Augen ersehen, dass sie ums Überleben gekämpft hatten. Vom medizinischen Standpunkt aus gab es nichts mehr zu machen. Deshalb bin ich auf unser Boot zurückgekehrt, um nach den Überlebenden zu schauen. Viele hatten Augenverbrennungen wegen des Treibstoffs oder des Gas. Andere hatten Kratzer oder Bisse an den Beinen, auf dem Rücken oder an den Armen. Beigefügt vermutlich von den auf den Boden geworfenen Mädchen, als diese sich retten wollten. Es muss die Hölle gewesen sein.“

Die Ärztin fügt weiter an:

„Die Überlebenden sind traumatisiert, sie schauen ins Leere, verlorene Blicke. Sie erkennen nicht einmal mehr ihre Nächsten wieder. Was ich wirklich nicht ertragen kann, ist, dass diese Mädchen eines schrecklichen Todes gestorben sind allein deswegen, weil sie keine andere Möglichkeit hatten, nach Europa zu kommen. Ich bin aufgebracht. Ich bin wütig wegen der Politik, die diese Personen fern hält, die für sie nichts zählen. Diese Mädchen hätten ein Flugticket kaufen und eine bequeme und sichere Reise machen können. Und sie hätten weniger als die Hälfte dessen bezahlt, was sie für diese verdammte Überfahr hinlegten. Gleichzeitig bin ich extrem traurig, denn diese Personen haben kein Verbrechen begangen. Sie waren nicht krank. Es waren normale Personen mit dem ganzen Leben vor sich.“
Quelle: Il Manifesto


Freddy Schippers, MsF-Koordinator auf der Aquarius, berichtet seinerseits:

„Die Leute, die an Bord kamen, blickten ins Leere, sie schauten auf einen fernen Punkt. Die meisten antworteten nicht einmal, wenn wir sie fragten, welche Sprache sie sprächen. Wir haben ihnen eine Tasche gegeben mit einer Decke, Nährungsbiscuits, Wasser, das sie in einem Zug tranken, Strümpfe und einem Handtuch. Ein Mann hat mir auf französisch gesagt: ‚Meine Frau ist tot und sie ist noch auf dem Boot. Ich weiss nicht, was tun….‘“

Die letzte Phase der Operation bestand in der Bergung der leblosen Körper, erklärt der Koordinator:

„Drei Männer sind an Bord des Schlauchboots gegangen, mit einer Bahre und einem Flaschenzug. Egal, wieviel Leichen wir hinüber luden, das Schlauchboot schien sich nie zu leeren. Ich war wütend und voller Trauer für diese unglücklichen Personen, die so viel gelitten hatten. Sie haben kein Delikt begangen ausser jenem, in Europa ein besseres Leben zu suchen.“

 Der Tod wird deine Augen haben
Ablaygalo Diallo ist der Kulturmediator im MsF-Team. Der sich an der psychologischen Ersthilfe beteiligt hatte, als das Schiff in Trapano anlegte. Er hat unter anderem den nigerianischen Mann betreut, der seine Frau sterben sah:

„Ich blieb lange an seiner Seite, im Innern des MsF-Zelts, wo wir den Verletzbarsten eine Privatsphäre und ein Sicherheitsgefühl garantieren. Er hat mir erzählt, wie sie gemeinsam aus Nigeria geflüchtet sind und die Wüste durchquert haben. Die schwangere Frau hat während der Reise ihr Kind verloren. Trotz der enormen Schwierigkeiten ist es ihnen gelungen, gemeinsam zu fliehen und für die extrem gefährliche Überfahrt an Bord zu gehen. Das überladene Boot gab unter dem Druck der mehr als hundert Personen nach; es entstand ein Leck. Die Frauen, die in der Mitte waren, sind erstickt und ertrunken, hat er mir weinend erzählt. Er hat seine Frau nicht mehr gesehen und sah erst auf der Aquarius, dass sie unter den Leichen war. Er erkannte sie an ihrem T-Shirt.“

Diallo gelang es, ihn zum Weinen zu bringen und ihn zu beruhigen. Er überzeugte ihn, seine Familie zuhause anzurufen, „um der Mutter zu sagen, dass er noch lebt“:

„Als er nach Monaten die Stimme seiner Mutter hörte, sah ich ein Lächeln auf seinem Gesicht.“ „Es fiel mir schwer, ihm seine Zukunft zu erklären, jetzt, wo er hier angekommen ist.“