El Salvador: Viren, Maras, Viren...

Mittwoch, 29. April 2020


(zas, 29.4.20) Seit letztem Freitag werden in El Salvador urplötzlich über 20 Morde pro Tag verübt, nachdem es offiziell in der Zeit zuvor 2-3 waren. Die Täterschaft stand schon “fest”, bevor die Ermittlungen überhaupt begannen: die Maras. Das ist bis jetzt wahrscheinlich, aber nicht gesichert. Das verhinderte letzten Samstag keineswegs eine schnelle Reaktion des Präsidenten, die gleiche wie schon in der Vergangenheit: “Höchster Alarm in allen Gefängnissen für Bandenmitglieder. Aufgrund geheimdienstlicher Informationen über Mordebefehle aus den Gefängnissen. 24h/Tag Totaleinsperrung, alle Tage, solange die Polizeioperationan andauern. Die Anführer kommen in Einzelhaft.“ Die Rechtslage hat sich seit Februar nicht geändert: Der Staatspräsident hat danach nichts zu beordern, die Gefängnisleitung kann den einzig entscheidungsbefugten HaftrichterInnen Gesuche für bestimmte Haftregimes stellen. RichterInnen hoben nach ein paar Tagen vielerorts das verschärfte Haftregime auf. Damals ging es um einen angeblich von Maras verübten Mord an einem Soldaten auf Heimurlaub; vermutlich aber wurde der Junge Opfer eines Streits um Wasserquellen. “Unwichtig”. Es galt damals, die Bevölkerung aufzuhetzen gegen eine Parlamentsmehrheit, die unziemenderweise wissen wollte, wofür der Präsident gerade wieder einen neuen 100-Millionen-Kreditantrag stellte.
Am Sonntag doppelte Bukele nach: “Polizei und Armee müssen ihr Leben schützen, das ihrer Kollegen und der ehrlichen Bürger. Der Einsatz tödlicher Gewalt ist zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung des Lebens der Salvadorianer bewilligt. Wir rufen die Opposition dazu auf, sich auf die Seite der ehrlichen Bürger zu stellen und die von ihr kontrollierten Institutionen, aufzuhören, diejenigen zu schützen, die unser Volks ermorden.” 
Notwehr war schon bisher kein Delikt. Unter “Opposition” fasst das Regime mit Vorliebe seinen Hauptfeind FMLN mit der Rechtspartei ARENA (soweit noch nicht auf Linie) zusammen. So publiziert Bukele als erste Antwort auf seinen Tweet folgende “Bürgermeinung”: “Dieser Abschaum steckt dahinter, sie wollen die Pläne für die öffentliche Sicherheit boykottieren”, zusammen mit einer Fotomontage FMLN/ARENA. Auch Sicherheitsminister Rogelio Rivas wusste in das Horn seines Capos zu blasen: “Unser Land erlebt eine Zunahme der Morde; es scheint, sie haben ihnen politisch motivierte Befehle erteilt, um unsere Regierung zu zwingen, Notmassnahmen zu ergreifen und uns nachher zu kritisieren, weil wir das Leben der Salvadoreños mit all unserer tödlichen Kraft verteidigen.”
Am Samstag diktierte Buekele, dass die gefangenen Mitglieder verfeindeter Mara-Organisationen anders als bisher ab sofort in den Grosszellen nicht mehr getrennt werden. In dem Mass, wie sich die alte Mara-Weltsicht vom unbedingten Kampf gegen die jeweils andere Mara erhalten hat, wird es damit zwangsläufig wieder zu Toten kommen. Das war in den Nuller Jahren der Grund für ihr Trennung in den Knästen.
Im Land sind Armee und Polizei omnipräsent, kaum sonst jemand ist auf den Strassen. Kein Wunder, kommen Fragen auf. Wie etwa seitens des in Nicaragua asylierten Ex-Präsidenten Mauricio Funes, der sich mehrere Male als bemerkenswert gut informiert erwiesen hat. Er meinte: “Wie kommt es zu diesen Verbrechen vor den Augen von Polizei und Armee, wenn Nayib alle Sicherheitskräfte ins Territorium geschickt hat? Wie kommt es, dass die geheimdienstliche Information über die aus den Gefängnis stammenden Befehle erst nach der Tat erfolgt? (...) Wer hat die Befehle aus den Gefängnissen übermittelt, wenn angeblich alle Telefonsignale zu 100 % blockiert und alle Besuche vom Notstandsdekret verboten sind?”
Je nach Quelle fallen die Antworten unterschiedlich aus. Jeanette Aguilar, während Jahren Kriminalitätsexpertin der Jesuitenuni UCA, fragt sich: “Wie erklären sich diese Morde in einem militarisierten Land, mit mehr als 40’000 Militärs auf den Strassen, mit obligatorischer Quarantäne?” Ihre Antwort: “Was wirklich klar ist, die Botschaft, die sie senden, ist, dass es trotz der ganzen Regierungspropaganda eine territoriale, parastaatliche Macht gibt - sie, die Banden. Ich interpretiere das als eine Botschaft, die die Banden der Regierung schicken, und die wir von aussen nicht ganz entschlüsseln können, denn wir wissen nicht, wie sich die Regierung in den letzten Monaten zu diesen Gruppen verhalten hat.”

Maras als Ordnungsmacht
Dass die Dauerbehauptung des Regimes, die Lage unter Kontrolle zu haben, gelogen ist, steht fest (s. in diesem Blog El Salvador: Gewalt, Lügen, Gehirnwäsche und Putsch in slow motion – aktueller Stand). Das hat sich auch in der jetzigen Phase der Coronabedrohung deutlich gezeigt. Ende März beschlossen die drei wichtigsten Mara-Strukturen – die grösste, die Mara Salvatrucha oder MS-13, sowie die Sureños und die Revolucionarios, in die sich die Organisation Barrio 18 gespalten hat –die Ausgangssperre der Regierung in «ihren» Zonen zu unterstützen. Das Portal El Faro zitierte dafür diverse Begründungen. Da sagte ein Marero, im Notfall würden sie im Spital bestimmt nicht mit einem Atemgerät behandelt, ein anderer meinte, je mehr Virus, desto mehr Bullen in der Zone. Jedenfalls sei man übereingekommen, dass ab 31. März pro Familie nur eine Person zu bestimmten, von den Maras diktierten Öffnungszeiten der Geschäfte einkaufen darf. Wer sich nicht daran halte, werde verprügelt oder ermordet. Ausserhalb der Geschäftsöffnungszeiten dürfe sich niemand draussen aufhalten. Interessant diese Aussage eines MS-Sprechers: «Kontrollen [der Sicherheitskräfte] hat es auf den Strassen, aber nicht in den Comunidades. Es gibt Patrouillen, aber wenn sie weg sind, kommen alle raus und feiern. … Uns respektieren sie, wohl oder übel.»
Wenige Tage später zirkulierten Videos aus MS-kontrollierten Zonen, in denen Quarantänebrecher sich an die Hauswand stellen mussten, um «ihre» Baseballschläger-Hiebe zu bekommen. Laut dem ehemaligen El Faro-Journalisten Roberto Valencia soll bloss die MS diese Praxis angewendet haben, während die Sureños sich darauf spezialisierten, in «ihren» Zonen breit Hilfspakete an arme Familien zu verteilen. Wie das ähnlich die Kartelle in Mexiko oder das Comando Vermelho in Rio de Janeiro tun. Die MS ihrerseits scheint mehr auf die Strategie jener kolumbianischer Paramilitärs zu setzen, die im Department Nariño die Todesstrafe für QuarantänebrecherInnen androhten. Einig waren oder sind sich die Maras offenbar in der Aufforderung an «ihre» Bevölkerung, die Quarantäneverordnungen der Regierung zu beachten. Insgesamt deutet auch diese Epidemie-Praxis der Maras auf das Entstehen einer Art paramilitärischen Formationen hin, die Ordnungs- oder auch Sozialfunktionen wahrnehmen. Eine interessante Frage ist, woher die Sureños die Menge an verteilten Bedarfsgüter haben.

Maras, transnationaler Drogendeal und ein neualter Chefermittler der Polizei
Wie ist oder war die Beziehung Maras/Bukele? Viel ist von einem geheimen Stillstandabkommen die Rede, das die tiefe Mordrate erklären könne. Die oben erwähnte Jeanette Aguilar antwortete Anfang März auf die Frage nach einem neuen die tiefe Mordrate erklärenden Stillhalteabkommen: «Ja, diese Information habe ich von Polizeiquellen. Das ist natürlich schwierig zu belegen. Die Veränderungen fallen auf, nicht nur die der Banden, es scheint eine Linie zwischen den verschiedenen Akteuren der Gewalt zu geben.» Mit anderen Akteuren meint sie im Interview etwa polizeiinterne Todesschwadronen oder internationale Drogenhandelsringe. Ein Teil der Maras ist nach allen Erkenntnissen immer mehr an die Drogenkartelle angebunden – die meisten gegenseitigen Morde finden seit langem entlang der Schmuggelkorridore statt, dienen also deren Kontrolle. Auffallend ist, dass es nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft und der Polizei letztes Jahr (ab 1. Juni regierte Bukele) zu einem markanten Einbruch bei beschlagnahmten Kokainmengen gekommen ist, nach dem Rekord im letzten FMLN-Regierungsjahr.


In diesem Zusammenhang wirkt auch die am Sonntag bekanntgewordene Ernennung des Kommissars Héctor Mendoza Cordero zum Subdirector de Investigaciones der Policía Nacional, also zum höchsten Ermittler der Polizei, mitten in der neuen Mordwelle eigenartig.  Héctor Silva ist ein bekannter Journalist, der früher mehrere Primeurs aus den USA verbuchen konnte, mit Infos aus der US-Justiz zu Vorgängen in El Salvador. So auch in einem Artikel zu Mendoza Cordero aus dem Jahr 2013 in Insight Crime, einem an das US-Justizdepartment angelehnten Portal. Danach spielte Mendoza, in jenen Jahren Polizeichef im Westen des Landes, eine wichtige Rolle in kriminellen Machenschaften des Unternehmers Sandoval Villeda, der Teil des danach aufgeflogenen Drogen-Cartel de Texis gewesen sein soll. Ermittlungen belasteten Mendoza schwer, aber schadeten seiner Karriere nicht. Beim Regierungsantritt der 2. FMLN-Regierung 2014 wurde Mendoza, schon damals Chefermittler der Polizei, von diesem Posten abgesetzt, dafür machte ihn die US-Botschaft zum Vizechef der US-kolumbianischen Polizei- (und Militärschule) ILEA in El Salvador. 

Wie Aguilar sagte, die Lage der jetzigen Mordwelle können wir nicht klar “entschlüsseln (...), denn wir wissen nicht, wie sich die Regierung in den letzten Monaten zu diesen Gruppen verhalten hat.” Wenn es ein Stillhalteabkommen Maras/Regime gab, kann es jetzt nicht nur vorübergehend obsolet geworden sein. Denkbar ist auch ein partielles Stillhalteabkommen mit Teilen der Maras, die übergerodneten Interessen nicht in die Quere kommen. Die faktische Einstellung von Kokainbeschlagnahmungen (nicht erst seit Ausbruch der Covid-10-Epidemie) in einer Zeit, als der transnationale Deal quer durch Zentralamerika unvermindert anhielt (die kolumbianischen Kokainrekordernten sollten schliesslich monetarisiert werden) ist tatsächlich beunruhigend. Und die Ernennung des neuen, US-protegierten Chefermittlers mitten in einer wieder aufflammenden Mordserie im Land kann auch als Teil einer Disziplinierungsoffensive gegen Mara-Sektoren gelesen werden. Sollten wirklich Maras – die Rede ist insbesondere von der MS – für die neue Mordserie verantwortlich sein, müsste dahinter auf jedenfall ein wichtiges Motiv stecken, das das Verhalten Regierung/Maras markant verändert hätte. Es gibt null plausiblen Grund, warum die Maras ausgerechnet die aktuelle Situation der Militarisierung des ganzen Landes mit weitgehender Ausgangssperre für eine massive Herausforderung der etablierten Mächte gewählt haben sollen.

Die Angst unten, die Hetze oben
Letzten Montag appellierte die Bukele erneut an faschistische Reflexe: “Ab sofort bleiben alle Zellen mit Bandenmitgliedern versiegelt. Man wird nicht mehr nach aussen blicken können. Dies wird die Kommunikation mittels Gesten zum Gang verunmöglichen. Sie werden drinnen sein, im Dunkeln, mit ihren Freunden der anderen Banden.” Begleitet von Fotos wie diesem:



Die Kommunkation mittels Gesten verunmöglichen? Am 28. März reagierte Bukele indirekt auf die vielen Fragen, wie es denn überhaupt zur Befehlsausgabe aus den Knästen habe kommen können. Seine Version: “Wie es kommt, dass die Befehle rauskommen, wenn alles blockiert ist? Antwort: Mit Freilassungen. Am Donnerstag wurde ein zu 175 Jahren verurteilter Anführer auf freien Fuss gesetzt. Er kam mit einer Appellation frei. Genau einen Tag danach begannen die Morde. Aber was bringt es, die Zellen zu versiegeln, wenn das nicht verhindert, dass die Justiz sie raus lässt? Eben, um zu verhindern, dass so Informationen an andere Zellen gelangen. Wir haben gemerkt, dass sie sich so verständigten.” Angehängt ein Video von gestikulierenden Mareros an der Gittertür ihrer Zelle.
Diese Herleitung ist absoluter Quatsch. Kommt einer raus, der dem Präsidenten zufolge eigentlich für 175 Jahre einsitzen sollte, besteht im observierten Land keine Möglichkeit für die Sicherheitsapparate, dem Typen ein paar Stunden auf den Fersen zu bleiben. Dafür zeigen sich die Maras binnen Stunden bereit für Grossoperationen. David Morales, der bekannte frühere Ombudsman für Menschenrechte, äusserte soeben: “Die aktuelle Mordwelle hängt (...) von einem freigelassenen Häftling ab? Dies scheint mir keine seriöse These zu sein; sie versucht, die Komplexität der kriminellen Strukturen (...) zu negieren.” Zu dem Freigelassenen machte niemand von der Regierung trotz Dauereinsatz auf Twitter weitere Angaben. Medienberichten zufolge kam am letzten Donnerstag ein einziger Mensch frei, ein im ersten Verfahren zu 350 Jahren verurteiltes Mitglied der MS. Der Mann hatte rekurriert, nach drei Jahren ohne rechtskräftige Verurteilung habe er freigelassen werden müssen. Mehr ist zu diesem ominösen Fall bisher nicht bekannt.
Logischer Schluss: Der Mordbefehl kam nicht von Insassen. Doch diese sind die “Aussätzigen” par excellence, ideale Schuldenböcke, um von dem, gemessen an der Dauerpropaganda des Regimes, eklatanten “Versagen” der brillanten Verbrechensbekämpfung abzulenken. Die Mareros sind bei Vielen wegen ihrer scheusslichen Taten verhasst, Aussagen wie “Zellentüre zu, Schlüssel wegwerfen” sind Alltag. Da dockt die faschistische Regimehetze an. Verwünschungen, auch bösartige, geboren aus der Angst realer oder potentieller Opfer, sind nicht das Gleiche wie ihre Zuspitzung durch Leute in den Machtzirkeln.

Die Scheisse kocht, doch das State Department beruhigt
Egal, wie diese Geschichte weiter geht, sie passt zur allgemeinen Marschrichtung des Regimes hin zu diktatorischen Zuständen. Die Frage ist, wie lange diese Tendenz aufrecht gehalten werden kann. An der Epidemiefront verschärfen sich die Widersprüche. Dies nicht primär wegen der Viruskrankheit per se (offiziell zurzeit insgesamt 377 Fälle, 9 Tote, dominierend jetzt die Ansteckungsrate landesintern). Täglich werden neue Grausamkeiten aus den “Quarantänezentren” bekannt; die parlamentarisch bewilligte Kreditaufnahme in der Höhe von $ 2 Mrd. ist nach Angaben Bukeles blockiert (nein, nicht von “immer den Gleichen”, sondern offenbar wegen mangelnden Marktinteresses); statt der angekündigten $ 300 Nothilfe pro Monat an angeblich drei Viertel der Bevölkerung hat das Regime jetzt begonnen, Lebensmittelpakete im Wert von real unter $ 30 zu verteilen (Breite unklar) ... ob die Maras bei möglichen Hungerprotesten weiter “Ordnungsfunktionen” übernehmen, dürfte nicht so sicher sein. Und international kommt das Regime unter Beschuss. Vivanco von Human Rights Watch wird fast täglich schärfer in seiner Kritik an der Aushebelung der Gewaltenteilung. Sogar die ultrarechte Mary Anastasia O’Grady, Mitglied des Editorail Board von Murdochs Wall Street Journal, schrieb am 26. April unter dem Titel El Salvador’s President Is No Friend of the U.S.: «Die Regierungen, die Trumps Immigrationpolitik unterstützen und sich zu Venezuela auf die Seite der USA schlagen, scheinen Alliierte zu sein. Aber wenn sie gleichzeitig wie Bukele zuhause die Demokratie unterhöhlen, arbeiten sie gegen die Interessen der USA.» Sie nervt, dass Bukele mit der Missachtung des Obersten Gerichts (s. El Salvador: Zwischen Delirium und Diktatur II) ein bewährtes must der imperialen Herrschaftssicherung negiert. Bislang aber stehen die Trump-Administration (und damit die OAS) hinter Bukele. Zwar haben einige Medien im Land betont, dass Michael Kozak, der neokonservative Lateinamerika-Zuständige im State Department) in einem Tweet vom 25. April die Staatsgewalten zu Kooperation aufgefordert hat, aber in seinen Presserläuterungen vom Vortag macht er deutlich, dass Washington in den «Meinungsdifferenzen» zwischen Parlament und Exekutive «zu Fragen der optimalen Umsetzung von Quarantäne und social distancing» keinen «Versuch der Unterdrückung der freien Meinungsäusserung oder so etwas sieht.» Ändert sich diese Haltung nicht, ist kein realer Rückwärtsgang der Bukele-Administration unter internationalem Druck wahrscheinlich. Entscheidend ist die Dynamik vor Ort. 
Am Nationaltag letzten September ergötzte sich das präsidiale Paar an der theatralischen Inszenierung seiner Mara-Bekämpfung.
Jetzt.