Haiti: Die Gewaltfrage und die Linke

Freitag, 12. Mai 2023

Carlos Aznárez befragt Henry Boisrolin*

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(zas) Zur aktuellen Situation in Haiti s. auch "Die Banden sind ein geplanter Terror, um den 'Status quo' aufrechtzuerhalten", ein Interview ebenfalls mit dem in Argentinien lebendem Haitier Henry Boisrolin und Haiti: Bandenterror vor der Nase der Polizei.

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[Gefragt nach der gewalttätigen Gegenwehr von unten gegen den Bandenterror in einigen Zonen der Hauptstadt und des Landes sagt Henry Boisrolin:]

HB: Einige Leute haben sich entschieden zu reagieren. Und da auch viele Polizisten Opfer dieser Banden wurden, gibt es welche, die nicht mit der Korruption gehen, sagen wir im funktionalen Apparat, und die sich dem Volk anschliessen, es begleiten und handeln. Es gab eine starke Antwort, bei der mehrere Banditen das Leben verloren haben, mehr als hundert in vier bis fünf Tagen. Deshalb haben der De-facto-Premier Ariel Henry und gewisse internationale Sektoren zur Beendigung dieser Volksantwort aufgerufen. Sie üben Druck auf die Polizisten aus, ihre Positionen zu verlassen, den Schutz, den sie an einigen Kontrollpunkten in den Quartieren gaben. Dieses von einigen Polizisten unterstütztes Vorgehen des Volkes konnte sogar einige Zonen ohne Banden erzielen. Das war eine Wasserscheide, nicht nur bei der Sozialdemokratie und den reaktionären Sektoren, sondern auch innerhalb der Linken. Da gibt es einen Sektor, der sagt, das gehe nicht, denn wir könnten nicht gleich handeln wie die Banditen. Sie beziehen sich dabei auf Dinge wie «enthaupten, Leichen verbrennen» etc. Auch wenn alle die Reaktion verstehen, sagen sie, das geht nicht, weisen andere linke Gruppen darauf, dass das alles noch schlimmer macht, denn die Rache der Banditen wird schlimm sein, das, was wir jetzt schon erleben, in den Schatten stellen. Sie sagen das, ohne eine Alternative anzubieten. Dagegen sagt ein anderer Teil der Linken «ja», man müsse diese Volksantwort unterstützen und sich in diese Bewegung einbringen, die ihr eigenes Organisationsniveau hat, aber offensichtlich nicht von der Linken geleitet wird. Die Linke kann versuchen, die Leitung dieser Art von Bewegungen zu übernehmen, im Wissen, dass sie von irgendeinem Sektor der Gesellschaft benutzt werden kann.

 

CA: Diese unterschiedlichen Kriterien überraschen nicht, denn sie die, die sich in vergleichbaren Situationen in jedem Land wiederholen, wenn Volkssektoren reagieren und Gewalt gegen jene, die sie angreifen, ausüben.

HB: Die Linke, die sagt, sie mache da nicht mit, ist jene, die stets auf Wahlen setzt. Sie glauben, in Haiti gebe es die Möglichkeit, das von Chávez zu wiederholen, von Correa in Ecuador, von Evo in Bolivien: mit Wahlen an die Macht gelangen. Ich glaube, in Haiti wird das nicht möglich sein. Jede von dieser Regierung organisierte Wahl wird ein Betrug sein. Und da mitmachen heisst, das zu legitimieren, schliesslich funktional dafür zu sein. Und wenn man dann verliert, sagt man «Betrug», und alles beginnt wieder von Neuem. Die Radikalisierung dieser extremen Gewalt im Klassenkampf in Haiti trifft auf eine auf ein solches Szenarium nicht vorbereitete Linke.

 

CA: Das ist wichtig, denn Haiti ist ein Land mit überbordender Gewalt.

HB: Das kommt daher, dass auch die Linke ein Produkt eurozentrischer Bildung ist. Sie haben uns einige Dinge aufgezwungen, die wir nicht sehen können, ohne dass wir es merkten. Deshalb sind einige gegen das Kopf Abhauen, das Niederbrennen von Häusern, was Sektoren des Volkes gemacht haben. Sie denken, dass einige Unschuldige zu Unrecht signalisiert wurden etc. Das ist vielleicht nicht ausgeschlossen, aber es kann die Aktionen nicht abwerten, sondern dazu dienen, zu schauen, wie man das verhindert. Plötzlich sind in fünf oder sechs Quartieren Wachbrigaden entstanden, Junge, bewaffnet mit Macheten, Gewehren usw., um das Quartier zu schützen. Und dagegen stellen sie sich. Ein wichtiger Journalist sagte sogar, man müsse die Banditen festnehmen und sie überstellen. Aber an wen? Wenn die Justiz nie etwas gemacht hat, sie existiert nicht! Das Polizeikorps existiert nicht, es gab nie einen Entscheid, Schluss zu machen. Das wiederholt sich: Die Banditen greifen ein Quartier an, die Leute telefonieren, SOS, damit die Polizei kommt, um sie zu beschützen, und niemand kommt. Und jetzt, wo die Leute sich verteidigen, kommt eine gewisse Linke mit absurden Überlegungen, als ob wir in einer «normalen Gesellschaft» lebten.

Das Thema ist ziemlich komplex und schwierig. Und in dem Mass, wie es keine Einheit gibt, ist klar, dass die Möglichkeit zu reagieren abnimmt. Es gibt Manöver, es heisst, die Regierung habe 17 Millionen Gourdes ausgesetzt, damit die Polizisten das nicht mehr unterstützen. Die Leute der Rache der Banditen ausliefern, die aufgrund der Volksreaktion ungefähr 146 Verluste einstecken mussten. Klar, wenn es da keine Änderung gibt, wird die Bewegung scheitern und die Konsequenzen werden dramatisch sein, denn diese Banden werden so barbarisch weiter machen wie vorher. Vor einigen Tagen haben sie einen Volksmarkt niedergebrannt.

CA: Aus der Ferne betrachtet ist klar, dass die Medien und diejenigen, die Haiti noch mehr beherrschen wollen, ein Bild von einem unbewohnbaren Land erzeugen, in dem man nicht "normal" leben kann.

HB: Betrachten wir die Dinge einmal anders die Presse. In einem Land, in dem mehr als 70% der Bevölkerung arbeitslos sind; in einem Land, in dem mehr als 5 Millionen von insgesamt 12 Millionen Einwohnern unter schwerem Hunger leiden, in einem Land, in dem seit mehreren Jahren 12-jährige Mädchen vergewaltigt werden; in dem Massaker stattfinden; in dem Stadtviertel niedergebrannt werden; in dem 80 % der Hauptstadt praktisch unter der Kontrolle von fast 200 bewaffneten Banden stehen; in dem praktisch nichts mehr funktioniert. Wenn du deiner Familie Geld schicken, haben die Banken derzeit nichts flüssig. Natürlich ist es ein unbewohnbares Land, und nicht wegen der Aktionen der Menschen, die versuchen, Gerechtigkeit zu schaffen, die versuchen, den Vormarsch der kriminellen Banden zu stoppen. Es ist ein unbewohnbares Land, aus dem alle zu fliehen versuchen.

Wir müssen also herausfinden, wer die wahren Schuldigen hinter dieser Art von allgemeinem Chaos sind, von dem sie sprechen, und die Situation in den Griff bekommen. Und da hilft nur, dass die Menschen kämpfen. Dass wir Organisationen haben, die in der Lage sind, den Kampf zu führen. Niemand wird kommen und das haitische Volk befreien. Das ist eine Lüge. Und wie oft haben sie seit 1993 bis heute internationale Missionen geschickt! Vor dreissig Jahren schickten sie Missionen, und sie machten alles noch schlimmer. Sie haben vergewaltigt, sie haben massakriert, sie haben Wahlen manipuliert, sie haben uns die Cholera gebracht.  Ehrlich gesagt, was die internationale Gemeinschaft mir oder vielen Haitianern sagen kann, ist uns egal. Denn für sie ist Haiti wirklich ein irrelevanter, unbewohnbarer Ort. Sie wollen uns als unzivilisiert und unbedeutend hinstellen. Dahinter steckt ein enormer Rassismus, und das nicht nur in Haiti.  Wir haben es in Ruanda gesehen, wir sehen es jetzt im Sudan. Es gibt verschiedene Fälle, die verdeutlichen, wie die Welt heute aussieht. Die Welt, in der wir leben, wird vom Finanzkapital, den Monopolen, dem Währungsfonds und so weiter beherrscht. Wo also Ungerechtigkeit herrscht, ist die Reaktion des Volkes, die Rebellion, gerecht und ein Recht.

Ich glaube, dass unsere Vorfahren angesichts der Sklaverei eine Gewalt entwickeln mussten, die der Gewalt der Sklavenhalter überlegen oder ebenbürtig war. Und in solchen Momenten ist, Gewalt anzuwenden normal, um diese grausame Gewalt, unter der vor allem das Volk leidet, zu beseitigen. Jetzt herrscht Terror im Lager der Banditen, weil mehrere von ihnen hingerichtet worden sind.  Die Angst der internationalen Gemeinschaft ist, dass diese Reaktion des Volkes wirklich alles umstürzen wird, und dass sie also ihre Beherrschungsformen ändern müssen. Sie sehen eine reale Gefahr in der Situation.

Wenn sich also eine Änderung bezüglich der Banditen aufdrängt, wollen die eigentlichen Machtsektoren diese selber bestimmen. Und das, weil die Banditen von ihnen abhängen und selber keine Waffen kaufen können, das besorgt die haitische Führungsschicht - über die Amerikaner. Und es stellt sich heraus, dass die Amerikaner zehn haitische Familien beschuldigten, für den Waffenhandel verantwortlich zu sein. Es sind diese Familien, die die Waffen in den USA kaufen, und deshalb haben sie formelle Sanktionen gegen sie verhängt. Nur, sie nennen die Namen dieser zehn Familien, nicht aber die Namen derjenigen, die verkaufen. Sie wissen also, wer einkauft, und behaupten, weder zu wissen, wer verkauft noch wie es möglich war, tonnenweise Waffen und Munition ausser Landes zu bringen. Wir reden hier von mehr als fünfhunderttausend Waffen. Als wäre unbekannt, dass alle diese Waffen aus den USA kommen. Niemand glaubt das, denn eine einzige Spritze kann zwar nicht nach Kuba gelangen, aber Tonnen von Munition können die USA in Richtung Haiti verlassen. Wenn das nicht Mittäterschaft ist, so zumindest eine Verantwortung für all das.

 ·       resumenlatinoamericano.org, 7. 5. 23: Henry Boisrolin: “Una parte de la izquierda no está preparada ni entiende la reacción popular frente a los paramilitares que matan impunemente”