(zas, 5.12.24) Vergangenen November nahm das Parlament in einer erster Lesung den von Präsident Daniel Ortega angestossenen Vorschlag einer neuen Verfassung an. Deren Schwerpunkt: die Abschaffung der traditionellen staatlichen Gewaltenteilung. Wer die Regierung leitet, soll den ganzen Staat befehligen. Also etwa auch die Justiz. (Die Idee hatte Ortega wohl nicht von Trump, dessen Lager in den USA das Gleiche anstrebt.) Parlamentspräsident Gustavo Porras drückte das so aus: “Wir überwinden das Konzept der legislativen, exekutiven und rechtlichen Gewalten». Denn souverän sei einzig das Volk, das via die presidencia (ein Co-Präsident und eine Co-Präsidentin) und den Frente Sandinista regiere. «Wichtig ist klar zu machen, dass die Presidencia der Republik die Regierung leitet und alle diversen Staatsorgane koordiniert, auch jene der Kontrolle und der Verwaltung.» Das Recht auf umfassende kostenlose Gesundheitsversorgung (inklusive das «kommunitäre und Familiengesundheitsmodell») und Erziehung auf allen Stufen bleibe weiter in der Verfassung verankert. Natürlich werde, so Porras, die Presidencia auch in Zukunft demokratisch in einem Mehrparteiensystem gewählt. Er betont auch eine gender-bewusste Sprache im gesamten Verfassungstext.
Ortega hatte schon vor Monaten seine Gattin, Rosario Murillo, bis dahin «nur» Vizepräsidentin, als faktische Ko-Präsidentin bezeichnet. Dies wird nun offizialisiert, zum Leidwesen auch eines Teils der sandinistischen Basis. Denn die Frau hat einen herrischen Ruf, und ihre offizielle Stellungsnahmen durchfliessende Vorliebe für eso-religiöse Weichenstellungen stösst nicht auf Begeisterung. Auch dass ein Sohn des Paares schon länger an inoffiziellen, aber wichtigen Schalthebeln der Macht sitzt, kommt nicht gut an. An Familiendynastischem haben die Nicas wenig Freude.
Ein Frente-Kader argumentiert auf Kritik von unserer Seite so: Die Revolution in Nicaragua habe sich auf sozioökonomischem Gebiet vertieft und müsse gleichzeitig vor brutalen Angriffen des Imperialismus geschützt werden. Hinter der allseits gepriesenen Gewaltenteilung steckten in Wirklichkeit stets nur die herrschenden kapitalistischen Klassen, während in Nicaragua das Volk presidente sei. Die neue Verfassung «reflektiert ein neues Kräfteverhältnis, nachdem die Oligarchie und die Yankees [2018] das bis dahin geltende Modell zerstört haben. Es reflektiert die Vorgehensweise, von der Basis auszugehen. Das heisst, die internen feindlichen Kräfte und ihr Pate werden keine Möglichkeit mehr haben, [illegal] um die Macht zu kämpfen.»
Wie sich dieses «von der Basis aus arbeiten» ausdrücke?
«Da fehlt es noch an Vertiefungen. Aber es gibt wichtige Fortschritte. So werden die Gemeindebudgets auf der Basis der Forderungen der Comunidades erstellt. Das neue Erziehungsgesetz beruht auf breiten Absprachen mit dem gesamten Erziehungssektor (vom Kindergarten bis zum akademischen oder technischen Studium); die Gesundheitsversorgung ausserhalb der Gesundheitszentren und Spitäler basiert auf den Bedürfnissen und Forderungen der Comunidades und ihrer aktiven Beteiligung an seiner Ausarbeitung; die mit der Produktion befassten Institutionen, die wir das Nationale Produktionssystem nennen, arbeiten in Übereinstimmung mit den entsprechenden Sektoren.»
Zu diesem Produktionssystem hatten wir Fragen. Daran seien, so die Antwort, zahlreiche Ministerien, Behörden, Finanzinstitutionen, akademische Gremien, aber etwa auch die beiden Regierungen der karibischen Autonomieregionen beteiligt. «Vor Ort gibt es Versammlungen von ProduzentInnen eines spezifischen Produkts wie Bohnen oder Reis oder Gemüse oder Kaffee oder Vieh. Dabei werden Produktionsziele pro Ernte oder Jahr beschlossen, es werden Massnahmen etwa für Plagen, Dürre oder Preiszerfall inklusive technische Beratung und Weiterbildung festgelegt. Auch Probleme wie die Verteilung (Lagerung, Transport, Gross- und Kleinhandel etc.) und anderes werden diskutiert.» Wir erhielten dazu ein umfangreiches offizielles Dokument mit genauen Zielvorgaben für 2024/25 und einem Fokus etwa auf die bäuerische Agrarproduktion oder Anpassungen an den Klimawandel. Zum Prozessen seiner Erarbeitung scheint nichts explizit formuliert zu sein.
Zur Verfassungsreform, so eine weitere Antwort, gelte es zu verstehen, dass «nichts, was wir machen oder sagen, gemacht oder gesagt werden kann, ohne die Konfrontation mit den Yankees und ihren Satelliten in Rechnung zu stellen. Absolut alles hängt damit zusammen. Ihre Massnahmen und Aggressionen sind total, ausser im Militärischen als offener Krieg. Aber ihre Bestrebungen, Polizei und Armee zu spalten, erfolgen täglich. In diesem Zusammenhang mussten wir fundamentale Entscheidungen treffen, um zu verhindern, dass uns das Gleiche wie in Georgien oder Venezuela passiert (mit als Präsidenten verkauften Usurpatoren). Dies ist das Herz der Reform: Institutionell kann der Imperialismus die Macht des Volkes nicht mehr brechen.» Dazu komme, dass wichtige strukturelle Veränderungen in den letzten 18 Jahren sich in der Verfassung niederschlagen müssen. Veränderungen, «die von Rechten des Individuums («Trinkwasser ist ein Menschenrecht»), der Gleichheit der Geschlechter, dem partizipativen Entwicklungsmodell bis zur Definition der Staates und der Macht («die Republik Nicaragua ist ein revolutionärer Staat», «das Volk übt die revolutionäre Macht direkt aus») einschliesslich der Organisation der Instrumente des Rechts und der Wahlen». Auch der Einbezug von vier Sprachen der indigenen Völker, jener der Garífunas und das afro-nicaraguanische Creole als zweite Amtssprache an der Karibikküste gehöre dazu.
Auf den Einwand, dass es gerade im Kontext dieser zentralen Reform keine breite Debatte gab, antwortete der Freund: «Klar wäre eine umfassende und nationale Diskussion ideal gewesen. Aber dafür sind objektiv die Bedingungen nicht gegeben. Denn die Feinde konspirieren alle Tage und auf alle Weisen. Sie sind unter Kontrolle … aber wir dürfen keine Schwäche zeigen.»
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Kommentar: Unter den Brücken schlafen…
Natürlich ist die viel zelebrierte Gewaltenteilung primär ein Mythos. Sie folgt der gleichen Logik, die Anatole France so auf den Punkt brach: «Die majestätische Gleichheit der Gesetze verbietet es Reichen wie Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf der Strasse zu betteln oder Brot zu klauen» (La majestueuse égalité des lois interdit aux riches comme aux pauvres de coucher sous les ponts, de mendier dans la rue et de voler du pain.) Dennoch sehen wir dort, wo diese klar relative Gewaltenteilung abgeschafft wird, wie die unten dem Terror von denen oben noch mehr ausgesetzt werden. Sie abzuschaffen, bedingt wohl eine sozialrevolutionäre Grundbewegung und Kraft, von der wir in Nicaragua kaum was sehen. Das negiert nicht, dass ein relevanter Bevölkerungsteil der sandinistischen Regierung wohl gesonnen ist, trotz grosser Probleme, wie sie sie sich in der Emigration niederschlagen. Aber viel wird offenbar von «oben» erwartet oder hingenommen – nicht gerade el pueblo presidente. Und gravierend: Genau diese neue Verfassung, die doch epochale Entwicklungen verarbeite, wurde nicht aktiv von unten bestimmt. Kommt sie dort also je an?
Kein Zweifel, die imperialistische Bedrohung Nicaraguas ist keine Erfindung, die Notwehr kein Diktat der Paranoia. Gerade hat Washington Nicaragua für ein weiteres Jahr zur «ausserordentlichen Bedrohung» der Sicherheit der USA erklärt. Als «legale» Voraussetzung für völkerrechtswidrige Sanktionen. Wirtschaftsterror gegen ein Land der Armen. Das beeinflusst das westliche Entsetzen ob der «Diktatur» in Nicaragua natürlich kein bisschen.[i]
So viel zum Demokratiegezeter von rechts bis progressiv-liberal.
Nun, die neue Verfassung dürfte nach Inkrafttreten zwar das Regieren erleichtern, aber nicht wirklich das Los der Leute. Bei allen guten Ansätzen im Sandinismus: Solange im Frente ein gewisses Duckmäusertum gefördert wird, solange undurchsichtige Seilschaften um das Präsidialpaar zirkulieren, ist eine weitere Machtkonzentration genau dort ohnehin ungut. Wir werden sehen, ob die angebliche partizipative Macht von unten sich manifestiert oder auf mehr oder weniger freiwilliges Abnicken hinausläuft.
[i] Gestern am Radio die Nachricht vom neuen Stromzusammenbruch in Kuba. Die Kraftwerke bräuchten Öl, doch Venezuela liefere dieses nicht mehr. Und die Installationen seien nicht instandgehalten. Kein Wort zur Ursache dafür: die extremen westlichen Sanktionen gegen Kuba. Dafür Kopfschütteln im Hintergrund wegen der Misswirtschaft auf der Insel. Kein Einzelfall: Wo immer die Sanktionsgewalt zuschlägt, sind die Angegriffenen die Schuldigen, und die Gewalt beleibt unsichtbar.