Ukraine: Spiel mit dem Wahnsinn

Samstag, 19. Februar 2022

Ein ehemaliger US-Botschafter in Moskau sieht einen innenpolitisch motivierten Machtpoker Bidens (nicht Putins) als treibendes Motiv hinter der jetzigen Kriegsgefahr, ein US-Ökonom dagegen eine Strategie der wirtschaftlichen Absicherung des westlichen Imperiums. (zas, 19.2.22) Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein ehemaliger US-Botschafter die Politik seines Landes kritisiert. Nun … grad nie, wie wir den Eindruck vermittelt bekommen, geschieht das allerdings auch nicht. Normal ist jedoch, dass die Mainstreammedien gerade dann ihrer Recherchierwut Einhalt gebieten. Vielleicht müssen sie dieses Mal ein paar Worte zur Schadensbekämpfung äussern, denn die Kritik von John F. Matlock Jr. ist nicht «irgendwer». Der Verfasser des Artikels (Today’s Crisis Over Ucraine) war von 1987 bis drei Wochen vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion (SU) 1991 US-Botschafter in Moskau war.
Matlock zieht den Vergleich mit der Kubakrise von 1962. Die USA hatten, so Matlock, Atomraketen in der an die SU angrenzenden Türkei stationiert. Die SU stellte daraufhin ebensolche Raketen in Cuba auf. Chruschtschow und Kennedy verhinderten damals den real drohenden Atomkrieg mit dem Abzug ihrer jeweiligen Atomarsenale von der Insel und aus der Türkei. (Anzumerken ist, dass Fidel Castro später oft eine Selbstkritik an seiner damaligen Einwilligung in die Stationierung und danach sogar Kritik am sowjetischen Übereinkommen mit den USA geäussert hat. Kerninhalt: Er habe bloss die drohende US-Militäraggression gesehen, aber keine Vorstellung von der Entsetzlichkeit eines Atomkriegs gehabt.) Matlock erwähnt natürlich auch die westlichen Versprechen anlässlich der Wiedervereinigung Deutschlands, die NATO nicht «einen Zoll» nach Osten zu verschieben. Die damalige Administration Bush (Vater) habe sich darangehalten, Clinton, Bush (Sohn), Obama und jetzt Biden hätten aber die «stückweise» NATO-Expansion vorangetrieben. Er habe, in Übereinstimmung mit andern, in einem US-Senatshearing 1997 vor der damals thematisierten Ost-Expansion als potentiell «schwerstem strategischen Fehler seit Ende des Kalten Kriegs» gewarnt. Den folgenden krassen Wortbruch der NATO bringt er in Zusammenhang mit der dann massiv reduzierten Militärmacht Russlands. Der Ex-Botschafter geht auch im Überflug auf ein weiteres Element der Verschärfung der Spannungen zwischen West und Ost ein: die Abkehr Washingtons von internationalen Atomwaffen-Abrüstungsabkommen, insbesondere vom Raketen-Vertrag ABM. Die zunehmenden Spannungen hätten mit einer politisch-wirtschaftlichen Integration West- und Osteuropas, also nicht unter dem Banner der NATO, vermieden werden können. Heute strebe Moskau eine solche Sicherheitsstruktur an, ohne den Austritt jetziger Mitglieder aus der NATO zu fordern. Eine diplomatische Lösung in dieser Richtung wäre denkbar, werde aber durch die aufgeheizte Stimmung in den beiden US-Parteien massiv erschwert. Interessant sein Verdacht, was hinter Bidens Kriegspromotion stehe: Die Dems gehen als wahrscheinliche Verliererpartei in die Kongresswahlen von kommendem November; mit Biden in der Pose als Muskelmann, der Putin gestoppt habe, suchten sie, Stimmen zu machen. (Eine «Show»-Lösung wie 1962, als nach aussen (bis heute) fast ausschliesslich der sowjetische Raketenabzug aus Cuba, nicht aber der parallele Abzug des US-Atom-Arsenals aus der Türkei, Thema war, wäre auch heute denkbar). Angesichts des erbärmlichen Mitgeiferns heute der Mainstreammedien könnte ein solches Resultat durchaus möglich sein. Von Medienseite her wäre eine halbwegs ehrliche Berichterstattung nicht zu erwarten. Falls Matlock nicht wie gewohnt totgeschwiegen werden kann – immerhin war er Teil des Machtestablishments gewesen - dürfte er als Spinner oder schlicht Agent Putins abgefertigt werden.
Bestimmt gibt es keine einfache monokausale Herleitung der aktuellen Kriegsgefahr. Einen interessanten Aspekt erwähnt der heterodoxe US-Ökonom Michael Hudson in seinem wie gewohnt interessanten Artikel America’s real adversaries are its European and other allies vom 8. Februar. Er interpretiert den Aufbau von Spannungen mit Russland und China als Versuch der USA, mindestens Europa unter Kontrolle zu behalten und von Dingen wie Nord Stream 2 und Neuer Seidenstrasse fernzuhalten. Auch gegen die eigenen sozioökonomischen Interessen der europäischen Länder. Auch Hudson kann selbstverständlich die Gefahr eines bevorstehenden realen Kriegs nicht ausschliessen, ähnlich wie Matlock betont er aber andere als die von Biden und Anhang vorgebrachten Herleitungen als Realmotiv für die extreme Eskalation. Bezeichnend übrigens: Die Stimme von PazifistInnen in der Ukraine, die zwar Washington als wichtigsten Kriegstreiber sehen, aber deswegen keineswegs auf «pro-russische» Propaganda machen, ist nur in einigen linken Medien zu vernehmen. «Big News» hat sie ausgeblendet.