Mexiko: Krise des repräsentativen Systems

Samstag, 13. Juni 2015



Prägnante Analyse der mexikanischen Wahlen vom Sonntag, dem 7. Juni 2015, aus der Feder des bekannten Kommentators der mexikanischen Tageszeitung „La Jornada“ (7 de junio: crisis de representación, veröffentlicht am 9. Juni 2015).

Luis Hernández Navarro

Den jungen Antonio Vivar Díaz brachte letzten Sonntag die Policía Federal um. Er war nicht der einzige, der in Tlapa von den Sicherheitskräften angegriffen wurde. Mindestens vier weitere Personen wurden schwer verletzt. Antonio war Vater eines acht Monate alten Kindes. Er studierte im letzten Jahr integrale kommunitäre Entwicklung an der Nationalen Pädagogikuniversität.
Alles begann um halb 3 nachmittags, als die Besatzung zweier Wagen der Policía Federal gewaltsam in die Räumlichkeiten der Coordinadora Estatal de Trabajadores de la Educación de Guerrero (Ceteg, LehrerInnengewerkschaft von Guerrero) eindrang. Ohne Haftbefehl nahm sie 6 Lehrer fest. Später kehrten Mitglieder dieser Polizeikraft zurück und behändigten zwei Kleinlaster der Lehrkräfte.
Die Agenten gingen auch zum Lehrer Juan Sánchez Gáspar nachhause und nahmen ihn unter Gewaltanwendung mit. Sein Sohn ist der Lehrer Juan Leuguín Sánchez, der am 5. Juni von der Polizei des Gliedstaates und Schlägern der Parteien brutal angegriffen worden war.
Empört über die Festnahmen, warfen die Nachbarn des Quartiers Tepeyac den Uniformierten ihr Verhalten vor, hielten sie fest und warnten sie, sie könnten erst gehen, wenn auch die Lehrer frei kämen. Die Policía Federal antwortete mit einem Grossaufgebot, das die Bevölkerung belagerte. Schliesslich wurde unter Vermittlung der Menschenrechtsorganisation Tlachinollan der Austausch der Gefangenen beider Seiten beschlossen.
Um 20 h drang die Policía Federal in Verletzung der Absprachen in das Quartier ein und schoss dabei scharf und mit Tränengas. ZeugInnen zufolge waren dabei auch Soldaten des 27. Infanteriebataillons beteiligt. Im Verlauf dieser Operation ermordeten die Sicherheitskräfte Antonio Vivar Díaz.
Beerdigung von Antonio Vivar Díaz am 9. Juni 2015. Bild: La Jornada.

Tlapa ist kein Einzelfall. In Oaxaca, Chiapas, Guerrero und Michoacán schützten Einheiten der Policía Federal, des Heeres und der Marine die Wahlen, die in diesen Gliedstaaten in einem Klima der Militarisierung stattfanden. Ziel war, den Aufruf zum Wahlboykott des Movimiento Popular Guerrerense und der CETEG zu neutralisieren. Der Aufruf sollte den Katalog von 11 beim Erziehungsministerium vorgebrachten Forderungen unterstützen, unter anderem nach dem Wiederauftauchen der 43 Studenten von Ayotzinapa und anderer Verschwundener am Leben; der Abschaffung aller Strukturreformen, insbesondere der Erziehungsreform, und einem neuen Erziehungsmodell für das Land.
In Chiapas führten die LehrerInnen mehrere Protestaktionen durch. In Oaxaca besetzte ihre Gewerkschaft Bezirksniederlassungen der Nationalen Wahlbehörde INE und Tankstellen, eine Raffinerie und ein Depot des staatlichen Ölkonzerns Pemex. Nach einem Treffen der Verhandlungsdelegation und des Innenministeriums am 5. Juni in der Militärkaserne Nr. 1, an der ein Funktionär der Bewegung ein Ultimatum stellte, erteilte ein Gewerkschaftsführer von Oaxaca die Anweisung, die besetzten Einrichtungen zu räumen und sich in öffentlichen Parks zu versammeln. Dennoch prallten in Städten wie Tuxtepec Lehrerinnen und Bewohner mit Armeeangehörigen zusammen. Dutzende von LehrerInnen wurden verhaftet.
Angaben der Wahlbehörde zufolge verhinderte der Boykott die Aufstellung von 603 Wahlurnen – die höchste Zahl seit vielen Jahren – mehrheitlich in Oaxaca, Guerrero, Chiapas und einigen indigenen Comunidades in Michoacán. Dem ist die grosse Zahl annullierter Stimmen jener hinzuzufügen, die so zum Protest aufriefen und ihren Entscheid über sie sozialen Netze bekannt gaben.
Aber die Ereignisse im südlichen und zentralen Pazifikgebiet haben sich nicht im ganzen Land wiederholt. An diesem 7. Juni drückte sich der Unmut der BürgerInnen über das Parteiensystem und die Machtaufteilung in der Folge der Abkommen von Barcelona von 1996 regional unterschiedlich aus.  Schliesslich ist Mexiko viele Mexikos. Wenn sich in einem Fall der Boykottaufruf materialisierte, drückte er sich in einem anderen als Aufkommen unabhängiger Kandidaturen oder neuer Parteien aus und in wieder einem anderen Fall als Stimmenannullierung (5 Prozent aller abgegebenen Stimmen).
So gewann in Nuevo León Jaime Rodríguez, bis vor kurzem ein Kader des PRI, die Gouverneurswahlen als Unabhängiger. Dieser Sieg von El Bronco (Der Rüppel) drückt sowohl den Überdruss der WählerInnen bezüglich der Parteienherrschaft wie auch den Entscheid der Bourgeoisie von Nuevo León aus, auf einen direkten politischen Repräsentanten zu zählen, der nicht beim PRI oder beim PAN sei. Wir haben es mit einem ähnlichen Phänomen wie damals zu tun, als Manuel Clouthier und eine Reihe Unternehmer im PAN landeten, was mit dem Sieg von Vicente Fox in den Präsidentschaftswahlen seinen herausragendsten Ausdruck fand. Nur dass sie jetzt, dank der Figur des unabhängigen Kandidaten, nicht mehr mit den Parteispitzen verhandeln müssen.
Ähnlich lässt sich der Sieg des Fussballers Cuauhtémoc Blanco in den Bürgermeisterwahlen von Cuernavaca interpretieren, der formal für eine lokale Partei antrat, die während Jahren darum kämpfte, nicht zu verschwinden. Ohne irgendwelche Meriten in der Politik vorweisen zu können, unterstützt von seinen Sportsfreunden und anderen mit der Unterhaltungsindustrie verbundenen Milieus, schaffte es Blanco, den PRI zu beschämen.
Ausdruck dieser Tendenz, das existierende institutionelle Geflecht in Frage zu stellen, ist auch das landesweite Debakel des PRD, das in seiner Hochburg, Mexiko-Stadt, eine besondere Dimension annahm. Dass Morena [linke Gruppierung um Manuel López Obrador] in der Landeshauptstadt als zweitstärkste Kraft auftritt, zeigt sowohl den lokalen Unmut über eine verfaulte und korrupte politische Kraft wie auch über eine formal oppositionelle Stadtregierung, die sich der Logik und den Interessen der Bundesregierung unterwirft.
Unter diesen Umständen von den Wahlen als Erfolg oder von einem demokratischen Fortschritt im Land zu reden, ist Unsinn. Es stimmt, es war eine historische Wahl, aber nicht aus den Gründen, die ihre ApologetInnen anführen, im Gegenteil. Unter dem Strich ergibt sich ein gravierendes Problem der politischen Repräsentation und des Unmuts über das existierende Parteiensystem. Eine ernste Repräsentationskrise.