US-Geheimdienst 2012: Westliche Unterstützung für die Kräfte des Kalifats

Montag, 8. Juni 2015



(zas, 8.6.15) Judicial Watch ist eine im erzkonservativen Bereich des US-republikanischen Spektrums angesiedelte Lobbygruppe in den USA, die sich in der Rolle einer Watchdog-Organisation gefällt. Eine ihrer Spezialitäten liegt in der Veröffentlichung von über die Freedom of Information Act erlangten Regierungsdokumenten. Am letzten 18. Mai war es wieder einmal soweit: Judicial Watch veröffentlichte eine Reihe von Dokumenten des Pentagons und des State Departments zum Angriff vom 11. September 2012 auf ein Gebäude der US-Botschaft in Benghazi, Libyen. Das gab in den US-Medien viel zu reden: Was wussten die Obama-Administration und speziell die heutige Präsidentschaftsanwärterin und damalige Aussenminister Hillary Clinton über die Hintergründe des Anschlags, was verheimlichten sie? Eine parteipolitische Farce, die mithalf, dass ein teilzensuriertes mitgeliefertes Dokument fast unterging: eine Lageeinschätzung des Pentagon-Geheimdienstes DIA vom 12. August 2012 zur Situation in Syrien und Irak. Die Webseite levantreport.com des Ex-Marine Brad Hoff erörterte als erste die explosiven Inhalte des DIA-Dokuments und setzte damit eine vor allem über Internet zirkulierende Debatte ein, die dann auch von einigen Medien wie „Salon“, „The Guardian“, „Huffington Post“ und im deutschsprachigen Raum „Die Welt“, „Focus Online“ oder „Tages-Anzeiger“ marginal wahrgenommen wurde. 

DIA-Papier

Zu einem Zeitpunkt, als die herrschende Propaganda noch lange voller Enthusiasmus über die westliche Unterstützung der „gemässigten“ Free Syrian Army berichtete, hielt die DIA fest:

„Die Salafisten, die Muslim Bruderschaft und AQI [Al Qaeda in Iraq] sind die treibenden Kräfte im Aufstand in Syrien. Der Westen, Golfstaaten und die Türkei unterstützen die Opposition, während Russland, China und Iran das Regime unterstützen.“

Die DIA hielt auch fest, dass

„AQI über den Sprecher des Islamischen Staates in IRAK (ISI), Abu Muhammad al Adnani, dem syrischen Regime als Speerspitze“

der Ungläubigen den Krieg erklärt habe. Der Mann figuriert heute als Sprecher des IS. Der Bericht sah eine vom Westen unterstützte Errichtung eines „Kalifats“ in seinen heutigen Gebieten voraus:

„Oppositionelle Kräfte versuchen die an die irakischen Provinzen Mosul und Anbar angrenzenden östlichen Gebiete (Hasaka und Deir ez-Zur) zusätzlich zur Region an der Grenze mit der Türkei unter ihre Kontrolle zu bringen. Westliche Länder, die Golfstaaten und die Türkei unterstützen diese Bestrebungen.“

Und weiter:

„Falls sich die Lage verschlimmert, kommt es möglicherweise zu einem erklärten oder unerklärten salafistischen Fürstentum in Ostsyrien (Hasaka und Deir ez-Zur), was genau das ist, was die die Opposition unterstützenden Mächte wollen, um das als strategisches Hinterland der Shia-Expansion (Irak und Iran) begriffene syrische Regime zu isolieren.“

Was laut dem DIA-Paper für den Irak „düstere“ Konsequenzen haben könnte, nämlich

„eine ideale Atmosphäre für die Rückkehr von AQI an ihre alten Gebiete in Mosul und Ramadi […] ISI könnte auch dank eines Zusammenschlusses mit anderen terroristischen Organisationen in Irak und Syrien einen islamischen Staat ausrufen, was für die Vereinigung des Iraks und den Schutz seines Territoriums eine grosse Gefahr darstellen würde.“

Die DIA hatte also Jahre bevor der IS als solcher in Erscheinung trat, einige seiner wichtigsten Charakteristika vorweggenommen.  Das ganze westliche Regimegewäsch von den „moderaten“ Kräften, die man unterstützen wolle, ist nun auch durch dieses Dokument als Propaganda entlarvt. (Eine völlig andere Sache wäre die Solidarität mit emanzipatorischen Kräften des arabischen Frühlings in Syrien gewesen, doch daran verschwendete die transnationale Macht logischerweise keinen Gedanken.)
Das DIA-Papier ist formell keine „abschliessend evaluierte Geheimdiensterkenntnis“, sondern ein „Geheimdienstlichenr Informationsbericht“, der aber bewertet und an die anderen US-Geheimdienste, das State Department, das Pentagon, das Department for Homeland Security und andere weitergeleitet worden war. An seiner Echtheit gibt es keine Zweifel.
Sagt der Bericht, dass die USA bewusst den IS aufgebaut hätten? So sagt er es nicht. Er hält bloss nüchtern fest, dass „die die Opposition unterstützenden Mächte“ ein Kalifat in seinem heutigen Territorium  wollen und meint an anderer Stelle: „Die Salafisten, die Muslim Bruderschaft und AQI sind die treibenden Kräfte im Aufstand in Syrien“, unterstützt vom Westen und seinen regionalen Alliierten. Die vielen zensurierten Passagen und eine gewisse begriffliche „Schludrigkeit“ im Bericht lassen durchaus Raum für die Vermutung, dass die DIA die faschistischen Kräfte à la (damals) AQI oder ISI als zwar nicht präferierte, aber in ihr „syrisches“ Beziehungsnetz eingebettete Akteure sehen konnte. Mindestens aber ist festzuhalten, dass man in Washington die eigene Propaganda des „moderaten“ Widerstandes in Syrien als Fiktion kannte und deswegen aber keineswegs Anstalten traf, die eskalierende militärische Hilfe für den realen „Widerstand“ auch nur zu drosseln. 
Ein 24-h-Überwachungsraum der DIA
 Die aktive Unterstützung der Türkei für den IS in seinem auch heute andauernden Angriff auf das kurdische Rojava in Syrien war und ist – ausser für die meisten Medien – evident. Siehe dazu auch  das jüngst erschienene Interview mit dem Aussenverantwortlichen von Kobanê, Idriss Nassan: Kobanê: Hilfskorridor zum Wiederaufbau gefordert. US-Vizepräsident Joe Biden hatte letztes Jahr die Unterstützung von Golfstaaten und der Türkei für den IS öffentlich gemacht. Letzten September behandelten der einflussreiche US-Senator Lindsey Graham und der US-Streitkräftechef Martin Dempsey („Ich kenne wichtige arabische [US-] Alliierte, die sie [den IS] finanzieren“) das Thema in beiläufiger Offenheit. Graham meinte etwa, seine Alliierten  hätten ihren „Fehler“ unterdessen eingesehen; Dempseys Aussagen hatten offenbar viel mit der Diskussion über den Einsatz von US-Bodentruppen zu tun.


Neu ist, dass nun ein amtliches Dokument mit dem Unsinn aufräumt, wonach „Fehler“ in der Syrienpolitik leider zum unvorhergesehenen Erstarken des IS geführt haben. Berichte über die Zielgerichtetheit der Unterstützung der faschistischen Kräfte zirkulieren seit einiger Zeit, s. dazu etwa How the West Created the Islamic State von Nafeez Ahemd oder – für Fans von Mainstreamkauderwelsch - den New York Times-Artikel Arms Airlift to Syria Rebels Expands, With Aid From C.I.A. vom März 2013. Gegen wen sonst? hat auf diesem Blog letzten April Hinweise auf Artikel von Reuters und vom „Wall Street Journal“ gebracht, die einem neuen Trend folgen: Dem Weisswaschen des syrischen Al Qaida-Mitglieds Al Nusra. Parallel zur militärischen Ausbildung „moderater“ syrischer Kräfte durch die USA in der Türkei und in Saudi-Arabien wird Al Nusra jetzt als zu unterstützende „Gegenkraft“ zum IS propagiert, der in Syrien aus ihr und grossen Teilen der FSA entstanden ist. Der Reuters-Artikel beleuchtet etwa die Rolle der in den letzten Monaten massiv gesteigerten westlichen Waffenhilfe bei den  jüngsten Militärerfolgen von Al-Nusra und das Journal beschreibt die „humanitäre“ Hilfe Israels für diese Gruppe. Vergleiche zur neuen Sprachregelung betreffs eine „reformistische“, Allianz-fähige Al Qaida auch Accepting Al Qaeda in „Foreign Affairs“ vom letzten März aus der Feder von Barak Mendelsohn vom rechten Think Tank Foreign Policy Research Institute in Pennsylvania.
In einem Artikel über das DIA-Papier (Pentagon report predicted West’s support for Islamist rebels would create ISIS) geht der Analyst Nafeez Ahmed auf einen Bericht der mit dem Pentagon verbandelten Rand Corporation ein. Ahmed schreibt: Deren „Report, vier Jahre vor dem DIA-Bericht veröffentlicht, ruft die USA dazu auf, ‚aus dem Shia-Sunni-Konflikt Profit zu schlagen ,in dem sie sich entschieden auf die Seite konservativer Sunni-Regimes stellen und mit ihnen gegen alle schiitischen Ermächtigungsbewegungen in der muslimischen Welt zu arbeiten‘“. Ähnliches hatte Seymour Hersh im April 2014, gestützt auf seine Kontakte in die US-Militär- und Geheimdienstkreise, im Zusammenhang mit den berüchtigten Giftgasangriffen in Aussenquartieren von Damaskus recherchiert.
In Anbetracht solch komplexer und sich wandelnder Faktoren, Strategien, Debatten stellt sich natürlich auch die Frage, warum das Pentagon das DIA-Papier überhaupt herausgerückt hat. Jedenfalls sollten seine Aussagen rezipiert werden.