Nicaragua: Der rechte Spin bei den Menschenrechten

Sonntag, 10. Juni 2018


Zwei Tage nach der „Mutter aller Demonstrationen“ vom 30. Mai (s. Von der „Mutter aller Demonstrationen“ und Schlimme Eskalation auf diesem Blog) verurteilte die Menschenrechtskommission CIDH der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), gestützt auf  „öffentlich bekannte Information“, den Einsatz „parapolizeilicher Kräfte“ gegen diese „friedliche Demonstration zur Unterstützung der Mütter des Aprils“. Am 30 Mai selber hatte die CIDH ein Abkommen mit der Regierung Ortega unterzeichnet, das die Schaffung einer „Interdisziplinären Gruppe von Unabhängigen Experten“ (GIEI) zwecks internationaler Untersuchung der Ereignisse seit Beginn der Unruhen am 18. Mai zum Inhalt hat. Die ExpertInnengruppe wird von ihr und dem Generalsekretariat der OAS zusammengestellt. Am 21. Mai hatte die gleiche Kommission ihren ersten Untersuchungsbericht vorgelegt, basierend auf einem knapp viertägigen Aufenthalt in Nicaragua und Aussagen von „hunderten von Zeugen“. Darin macht sie ausschliesslich das Regierungslager für die damals 76 Toten verantwortlich (Die Tragödie geht weiter). Es ist offensichtlich, dass sie einzig Angaben oppositioneller AktivistInnen (gleich Die Frauen, Die Bauern, Die Studentinnen etc.) und deren „menschenrechtlichen“ Sprachrohre Cenidh, ANPDH und CPDH aufnahm.
Das ist der springende Punkt. Mit Teilwahrheiten kann eine komplette Lüge formuliert werden. Die CIDH hatte auch Treffen mit sandinistischen Gewaltopfern – deren Aussagen verschwinden einfach. Selbstverständlich können diese „sandinistischen“ Aussagen nicht der „Neutralisierung“ von Zeugnissen von Opfern der staatlichen Repression dienen. Sie könnten aber – und müssten es, angesichts der realen Ereignisse – helfen, andere Akteure als hier das friedlich protestierende Volk und dort die mörderische Staatsmacht in den Blick zu kriegen. Natürlich ist es schwierig, in der komplizierten Lage Nicaraguas klar zu sehen. Wir haben es zweifellos auch mit einer rebellischen Bewegung gegen erstickenden Autoritarismus zu tun, mit staatlicher, auch mörderischer  Repression, widerlich kaschiert mit frommen Sprüchen. Und wir haben es ebenso eindeutig auch mit faschistoiden Manövern der Rechten, mit Kalkülen von regime change und Brutalität  «friedlicher» Kräfte zu tun. In diesem Amalgam sich zurecht zu finden, ist eine Aufgabe, die auch in Nicaragua Viele vor extreme Probleme stellt: Was ist Lüge, was stimmt? Wer nun einen wichtigen Teil der Dynamik systematisch ausblendet, lügt bewusst. Así las cosas.

Progressiv für regime change
Die CIDH agiert gerne progressiv. Bei sog. Genderfragen etwa; bei „Altlasten“ von angeblich in die Geschichte entsorgten Militärdiktaturen (je nach Fall); wenn es darum geht, den Tod von AktivistInnen zu beklagen, die sich gegen Megaprojekte wehrten –ohne die Kalküle und transnationalen Finanzen der Megaprojektmultis zu benennen, geschweige denn, die Ermordeten nicht bloss als Opfer, sondern als Militante politischer Organisationen des Widerstandes zu ehren. Sag Umwelt, sag Indígenas, sag LGBTI – die CIDH ist dabei. Sag Multi, sag Sexismus, sag Imperium – die CIDH marginalisiert oder bekämpft dich. Sie tanzt regelmässig nach US-Vorgabe gegen von Washington als unfriendly eingestufte Länder. Ihren Hauptsitz hat die Kommission natürlich in Washington; sie erhält den Grossteil ihres Budgets von der US-Administration. Aus quasi naturgesetzlichen, deshalb nicht zu erwähnenenden Gründen hat Washington den CIDH-Vertrag nie unterschrieben; die Interamerikanische Menschenrechtskonvention gilt nur für die anderen.
Was in Nicaragua geschieht, ist eine Sache. Die andere, was die CIDH registriert. Letzteres widerspiegelt die Version der antisandinistischen Kräfte. Das OAS-Gremium ist einseitig nicht im Sinn mangelnder „Ausgewogenheit“, sondern als Mittel für die Herstellung eines regime change.
Seit der Präsentation ihres „Untersuchungsberichts“ intervenierte die CIDH mehrmals zu Nicaragua. Sie rief die Regierung auf, Schutzmassnahmen für 17 StudentInnen, für Weihbischof Silvio Báez und für den Pfarrer Ramón Calderón und für den Chef der „Menschenrechtsorganisation“ ANPDH, Álvaro Leiva Sánchez, zu ergreifen.  Das Leben dieser Personen sei bedroht. Báez, der Bischof, ist für die Bischofskonferenz in der „Vermittlung“ des Dialogs zwischen Regierungslager und Opposition aktiv. Er hat sich seit Jahren als antisandinistischer Hardliner profiliert. Am 23. April hatte er erklärt: „Ich sehe keine Bedingungen für einen Dialog mit der Regierung von Nicaragua gegeben.“ Offenbar qualifizierte ihn das, neben seiner Funktion als Agitator und „spirituellen Inspirator“ regierungskritischer Demos, für eine „Vermittlerrolle“ in den später eingesetzten, von der Bischofskonferenz geleiteten und seit einiger Zeit blockierten Dialogrunden. Er schwebe, so die CIDH,  „mutmasslich wegen seiner Vermittlungsaktivitäten“ in Lebensgefahr, wegen „mutmasslich von der Regierung über offizialistische Medien (…) orchestrierter Angriffe“. In ein ähnliches Kapitel gehört die Schutzmassnahme für Pfarrer Calderón. Der wurde nach Selbstdarstellung in den 80er Jahren Pfarrer, als er die religiöse „Verfolgung“ durch den FSLN sah. Heute hat er mit Leiva Sánchez, dem Chef der „Menschenrechtsorganisation“ ANPDH, eine wichtige Rolle in Masaya, wo seit Tagen massive Kämpfe mit Toten im Gang sind. Laut Propagandavideo der ANPDH erreichte er dort die Freilassung von 21 verhafteten Männern, weshalb für die CIDH die ihr vorliegenden Berichte die Verhängung von Schutzmassnahmen für ihn und Leiva Sánchez „prima facie“ rechtfertigten. 
Calderón und Leiva Sánchez
Ist es nicht „prima facie“, dann ist es wiederholt „öffentlich bekannte Information“, die sie inspiriert. Expressis verbis darauf gestützt, verurteilte das OAS-Gremium zwei Tage nach der eine neue, intensive Eskalation einleitenden „Mutter aller Demonstrationen“ vom 30. Mai, dass „die Teilnehmer friedlicher Demonstrationen mit Schusswaffen“ angegriffen worden seien. Usw. „Prima facie“, „öffentlich bekannt“ – das umschreibt schlicht das Kopieren der Versionen der Rechten.

Amnesty und die Horden
Gleich operiert Amnesty International. Eine detaillierte Beschreibung erübrigt sich infolgedessen. Zu bemerken ist allenfalls, dass sich die AI-Chefin für Americas in ihrem Twitteraccount Verrenkungen wie die Floskel der „öffentlich bekannten Information“ schenkt. Sie retweetet ungeniert Tweets der Antiregierungskräfte, manchmal mit einem unterstützenden Kommentar. Und legt sich wenig Hemmung beim Sprachgebrauch auf. Am ominösen 30. Mai verkündete Guevara-Rosas: „Die gewalttätige Repression von Präsident Ortega hat extreme Ausmasse angenommen. Ein gewalttätiger Angriff gegen die massive friedliche Demonstration, organisiert von den Müttern der während der Proteste Getöteten, zeigt die shoot to kill-Strategie der Regierung.“  In einem anderen Tweet fordert sei, die „Regierung muss ihren Horden sofort das Ende der Gewalt befehlen“. Horden, turbas, Dauerbegriff der Rechten für reale oder angebliche sandinistische Kräfte. Was immer an diesem Tag wirklich passiert ist, angefangen hatten die tödlichen Ereignisse klar mit einer Offensive rechter „Avantgarden“ auf Heimkehrende von einer sandinistischen Mobilisierung (s. frühere Posts auf diesem Blog). Guevara-Rosas wusste an diesem Tag auch einen Angriff auf den rechten Sender 100 % Noticias zu geisseln, vergass aber zu erwähnen, dass gleichentags der Pro-Regierungssender Radio Ya in Brand gesteckt wurde, nachdem ein Angriff zwei Tage zuvor den Sender nicht vollständig beenden konnte. Dieses Mal brannte das ganze Gebäude. (Vorgestern wurde das offizielle Radio Nicaragua niedergebrannt. No news.) 

Empören musste sich Guevara-Rosas, dass an der gerade beendeten OAS-Versammlung der Generalsekretär Luis Almagro gegen Nicaragua nicht so massiv wie gegen Venezuela vorgegangen ist – aus was für Gründen auch immer. Insbesondere der Umstand, dass die OAS und die Regierung am 1. Juni ein letztes Jahr initiiertes Abkommen unterzeichnet haben, das einen Zeitplan für Wahlrechtsreformen vorsieht, entsetzt die Rechte und Guevara-Rosas. Denn besagter Zeitplan sieht weder einen sofortigen Abgang der Regierung Ortega noch binnen weniger Monate vorgezogene Neuwahlen vor. Im AI-Artikel „Die OAS-Staaten dürfen die Opfer der Repression nicht allein lassen“ zum Auftakt des OAS-Treffens sagt Guevara-Rosas: „Wenn die Länder der Region die Regierungsverantwortung für diese Grausamkeiten ignorieren, machen sie sich zu Komplizen des andauerndes Massakers an DemonstrantInnen und ZivilistInnen.“ Trost können diese Kreise vielleicht beim US-Botschafter vor der OAS, Carlos Trujillo, finden. Er sagte bezüglich der OAS-Resolution: „[Sie] ist nicht die letzte Aktion der US-Regierung. Sie ist die erste Aktion hier in der OAS.“ Und wir vergessen nicht, was hohe Kader der Trump-Administration kürzlich bezüglich Nicaragua via die Mediengruppe McClatchy zu verstehen gaben: „Die/der senior administration official sagte, die USA würden die Opposition nicht lenken und müssten behutsam mit den Oppositionsgruppen umgehen, um nicht Regierungsanschuldigungen bzgl. US-Imperialismus zu verursachen.Dies ist, was die Regierung betrifft, ein Land, dem es ziemlich gefällt, bei jeder Gelegenheit gegen uns auszuteilen. Das Risiko ist, dass wir, wenn wir rhetorisch zu sehr an der Spitze dessen sind, was sich ereignet, riskieren, es zu unterminieren.‘“

«Einseitigkeit»
Die zielorientierte „Einseitigkeit“ von CIDH, AI u. a. ist widerlich. „Öffentlich bekannt“, zumindest in Nicaragua, aber ungeeignet für die Sensibilität der CIDH etc. sind etwa auch Angaben über bewaffneten Bandenterror gegen nicht-streikende Belegschaften in – ausgerechnet – Maquilazonen. Natürlich schiebt die Rechte solche Vorkommnisse kurzerhand den „sandinistischen Horden“ in die Schuhe, als hätte die Regierung auch nur das geringste Interesse an einer Verschärfung der eh schon gravierenden wirtschaftlichen Destabilisierung. Wir sagen nicht, was der sandinistische Gewerkschaftschef Pedro Ortega dazu äussert, sei einfach zu glauben. Aber es strikt ignorieren? Zum Beispiel die Aussage, dass einerseits viele Tausende ihren Tageslohn wegen solcher Zwangsschliessungen verloren haben, und andererseits eine Belegschaft in Masatepe nahe Masaya angeblich 40 mit den selbstgebastelten Mörsern ausgestattete Vermummte vertrieben habe. Und es dauerte bis vorgestern, dass die CIDH einen Tweet für Schweinereien übrig hatte, die sich gegen Leute aus dem Regierungslager wie auf dem Bild unten aus Rio Blanco häufen. On die drei Sätze Folgen zeitigen werden? Wir kennen oppositionelle Sandinistas, die wegen Drohungen ihr Haus haben verlassen müssen. Und wir kennen FSLN-Mitglieder in der gleichen Situation. Es ist schwierig, zu versuchen, mit Widersprüchen klarzukommen. Und Fragen offen zu lassen, wenn  wir die Antworten nicht kennen. Dies nicht als Taktik, um die Regierung Ortega in ein schönes Licht rücken zu können. Sondern weil das weniger widerlich ist als mit dem Mäntelchen der humanitären Empörung für ungenannte Agenden hausieren zu gehen.