Mejicanos ist eine Unterklassen-geprägte Vorstadtgemeinde von San Salvador, von der Bevölkerungsgrösse her etwa vergleichbar mit Basel. Eine FMLN-Bastion.
Bericht einer Augenzeugin, veröffentlicht in El Mundo am 22. Juni:
„Plötzlich hörte ich entsetzliche Schreie. Es war halb acht abends und mit meinen schlechten Augen versuchte ich, die Quelle der verzweifelten, makabren Schreie ausfindig zu machen. Ich fuhr in meinem Wagen vorbei, als ich merkte, dass etwas geschah. Ich sah, dass die Schreie aus einem in der Nähe abgestellten Minibus stammten. Die Angstschreie hörten nicht auf. In einem Moment begann die Strasse sich zu erhellen. Der Minibus fing Feuer. Von drinnen hörte ich Schreie von Frauen, die verbrannten.
Ich war verängstigt. Ich zitterte. Ich rief die 911 (Polizeinotruf) an, doch vergeblich. Es war stets besetzt. Draussen um den Minibus gossen mindestens drei Männer Benzin auf den Bus, damit er noch stärker brenne. Sie lachten wie Wahnsinnige.
Ich wusste, dass ich nichts machen konnte. Wäre ich ausgestiegen, hätten sie mich getötet. Ich empfahl mich Gott. Ich konnte nicht mehr fahren. Ich schaffte es nur noch, den Motor abzustellen. Nicht einmal in den gewalttätigsten Filmen habe ich so etwas gesehen.
Es waren Augenblicke. Minuten. Ich weiss es nicht. Aber ich sah, wie, während der Bus immer mehr brannte, eine Frau aus dem Fenster flog. Nachher wurde mir klar, dass es ihr Gatte war, der sie, um sie vor den Flammen zu retten, aus dem Fenster geworfen hatte. Es war eine Señora aus dem Quartier Argentina. Sie lebte nahe von mir.
Nachher sah ich die Silhouette eines Mannes (es war ihr Gatte), der versuchte, aus einem Fenster zu springen, nachdem er seiner Frau geholfen hatte. Aber als er das versuchte, schrieen ihm mehrer mit Pistolen und Gewehren bewaffnete Männer zu, dass es zu spät sei. Sie sagten ihm, falls es ihm gelänge, herauszukommen, würde er unter ihren Kugeln sterben.
Die Flammen wuchsen. Die Männer gossen weiter Benzin auf den Bus mit den Leuten drin. Ein Mal hörte ich ein Weinen wie von einem Bébé. Dies traf mich, denn diese Gottlosen hörten nicht auf, über das zu lachen, was sie taten.
Ich glaube, dass von dem Moment an, wo ich an diesen Ort kam, bis zu dem Moment, wo die Mörder weggingen, zwei oder drei Minuten vergingen. Sie wollten sicher sein, dass der Bus richtig brenne und keine Passagiere flüchten können.
Mittendrin hatte einer der Passagiere die Kraft, es mit diesen Männern aufzunehmen und es gelang ihm zu flüchten. Ich sah, wie dieser Mann floh. Ich kenne ihn sogar, man nennt ihn den „Chino“. Als die Männer sahen, dass er zu flüchten versuchte, schossen sie auf ihn. Schliesslich trafen sie ihn zwei oder drei mal in die Beine. Der arme Mann schrie um Hilfe und schleppte sich mit seinen verletzten Beinen weg. Ich glaube, er konnte entkommen.
Es war die Hölle. Man hörte die Schreie der Leute, die im Bus verbrannten. Die Verfluchten hörten nicht auf zu lachen. Sie waren sicher auf Drogen. Wer weiss.
Danach liefen sie weg.
Noch als der Bus brannte, kam ein Gruppe von Polizisten an. Sie fingen an, den Personen zu helfen. Nach und nach kamen Leute. Wir weinten alle.
Danach ging ich nach Hause. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Was mir am meisten nachging, war das Schreien dieses Kindes. Ich versichere Ihnen, es war ein Neugeborenes, das verbrannte. So sehr ich auch versuche, die Schreie zu vermitteln, ich kann es nicht. Und ich kann nie vergessen, was ich gesehen habe. Alle oder fast alle baten um Mitleid, einer von ihnen schrie, sie sollten bitte den Minibus nicht anzünden. Er sagte, er habe Familie und lieber sollten sie nehmen, was er auf sich habe. Aber sie töteten ihn. Das ist das El Salvador, das niemand leben will.“
Gewaltverhältnisse
Dieses Massaker sprengt den Rahmen der „gewohnten“ Gewalt selbst in diesem Land. Glaubt man einem Bericht, den das UNO-Menschenrechtskommissariat und die Menschrechtskommission der OAS in San Salvador vorgestellt haben, hat das Land in Zentralamerika die höchste Mordrate (Co-Latino, 14.6.10. Guatemala: 48 Morde auf 100'000 EinwohnerInnen, Honduras: 58:100'000, El Salvador: 71:100'000). Allein in diesem Jahr sind nach Angaben von Busunternehmern schon 77 Angestellte des öffentlichen Transportsystems umgelegt worden. (Die Busgesellschaften sind real private „Kooperativen“, eine pro Linie, meist liiert mit den Autoimportnetzen von Toyota etc. Ihre grossen Verbände sind mit den politischen Parteien verbunden.) Diese Morde werden immer mit Erpressungsaktionen der „Maras“ (Strassenbanden) erklärt; allerdings haben bei einer unbekannten Anzahl dieser Morde die Maras auf Geheiss von konkurrierenden Busunternehmern gehandelt. So oder so werden dabei „normalerweise“ die Passagiere ausgeraubt und laufen gelassen.
Schon wenige Stunden nach der Matanza verhaftete die Polizei acht lokale Mara-Mitglieder als direkte TäterInnen (7 Männer und eine Frau): vier weitere Verhaftungen folgten im Lauf des Montags. Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob es sich dabei tatsächlich um Schuldige handelt, doch anscheinend wird das von niemandem gross in Frage gestellt. Aufgrund des Berichts der Augenzeugin (durchgeknallte Täter, offenbar auf Drogen) und der Örtlichkeit ist die Mara-Hypothese jedenfalls plausibel. Motiv? Während die Polizeiführung mit Festlegungen in dieser Frage offenbar vorsichtig ist, zirkulieren in den Medien zwei Erklärungen, die von der Polizei nicht ausgeschlossen, aber auch nicht einfach bejaht werden. Die eine bezieht sich auf die jetzt einsetzende Militarisierung der Knäste. Armeeeinheiten sollen auf Geheiss der Regierung das Umfeld von Gefängnissen absichern und BesucherInnen kontrollieren. In den Gefängnissen herrschen Zustände wie in „einer Hölle auf Erden“, wie Jaime Martínez, Direktor der Polizeiakademie, gerade bekannt hat (Prensa Gráfica online, 23.6.10). Martínez wandte sich damit gegen die von den rechten Parteien nach dem Massaker sofort erhobene Forderung nach Todesstrafe und noch schärferer Repression. Laut Polizei- und Mediendarstellung dirigieren gefangene Marabosse mit Hilfe von korrupten Wärtern aus den Haftanstalten heraus die Untaten ihrer Untergebenen. Der Armeeeinsatz soll hier Abhilfe schaffen. Das Massaker wäre in dieser Lesweise eine aus dem Knast dirigierte Kriegserklärung an die Armee. Die andere Version besteht in den üblichen „Erklärungen“ mit territorialen Konkurrenzkämpfen zwischen den Banden oder einem Racheakt für die Festnahme eines kürzlich verhafteten Marachefs.
Die Rechte mauert
Auffallend ist, dass der Generalstaatsanwalt Romeo Barahona, ein Mann der Rechten, erst gegen die von der Polizei Verhafteten nur wegen illegalem Waffenbesitz vorgehen wollte. Erst unter massivem öffentlichen Druck wird er nun gegen drei Personen Anklage wegen Beteiligung am Massaker erheben (gegen zwei Minderjährige läuft ein separates Verfahren). Ebenfalls bemerkenswert ist die Haltung des Chefs der rechten ARENA-Partei und früheren Staatspräsidenten Alfredo Cristiani, der die aus seinem Lager erhobene Forderung nach Einführung der Todesstrafe für untauglich hält. Für einmal stimmt er mit dem Regierungslager überein.
Kurz: Während die jetzt unter FMLN-Kommando stehende Polizei rasch mutmassliche Täter festnimmt und damit, sollte sich ihre These bestätigen, nicht zum ersten mal ein gestiegenes Mass an kriminalistischer Untersuchungskapazität aufweist, lassen Exponenten der Rechten wie der Generalstaatsanwalt im Konkreten jenen „Schneid“ vermissen, den sie ansonsten als politisches Rübe-ab-Postulat noch so gerne herumposaunen. Umgekehrt fordern etwa der FMLN oder Vizepräsident Sánchez Cerén eine reale, umfassende Aufklärung und eine klare Kooperation von Staatsanwaltschaft und Justiz. Sicherheitsminister Manuel Melgar (FMLN) dazu: „Das ist ein typisch terroristischer Vorfall. Er will die Bevölkerung in Angst versetzen. Man muss untersuchen, welches Motiv dahinter stecken kann“ (LPG online, 21.6.10).
Noch ist es zu früh, um plausible Aussagen zum Massaker zu machen. Fragen stehen allerdings unüberhörbar im Raum. Gibt es einen Zusammenhang zu einem anderen „Vorfall“ am gleichen Abend, ebenfalls in Mejicanos, bei dem vier mit halbautomatischen Gewehren Bewaffnete in einem Bus der Linie 32 das Feuer auf die Passagiere eröffneten und dabei drei Menschen - darunter zwei kleine Mädchen – ermordeten und mehrere andere verletzten? Und die Erinnerung an ein anderes Busmassaker kommt hoch, begangen an Weihnachten 2004 in der honduranischen Stadt San Pedro Sula. Damals waren 28 Passagiere – vorwiegend aus der Fabrik heimkehrende Arbeiterinnen – in einem Linienbus erschossen worden. Die Täter liessen ein mit „Cinchoneros“ firmiertes Spruchband zurück, in dem sie der Regierung des damaligen Präsidenten Maduro (einer der wichtigsten Putschisten letztes Jahr) den Krieg wegen deren brutalen Antimara-Kampagne erklärten. Cinchoneros, so hatte in den 80er Jahren eine seither längst aufgelöste linke Guerillaformation geheissen.
Jenes Massaker in San Pedro fand während einer Wahlkampagne statt. Auf der einen Seite kandidierte damals der heute als Präsident amtende Pepe Lobo zusammen mit seinem „starken Mann“, Maduros Innenminister Álvaro Martínez, einem rechtsradikalen Neffen des früheren Armeechefs und Drogenhändlers Gustavo Martínez, der in den 80er Jahren das Land zum „kontinentalen Flugzeugträger“ für die US-Kriege in Zentralamerika gemacht hatte. Der Neffe, auch er ein Ex-Militär, amtet heute wieder als Sicherheitsminister. Lobo führte damals seine Kampagne mit dem Ruf nach der Todesstrafe für Maramitglieder. Siegreicher Gegenspieler von Lobo war ein gewisser Mel Zelaya gewesen…
Dazu ein Auszug aus Correos 150 (August 2007):
„Der [honduranische] Präsident Zelaya gab mir eine haarsträubende Information, die ich nicht verbreiten möchte, solange wir nicht davon überzeugt sind, dass sich diese Vorgänge zugetragen haben“. Dixit der guatemaltekische Präsident Óscar Berger vor einigen Wochen. Mario Taracena, Parlamentarier der UNE-Partei, deren Präsidentschaftskandidat Álvaro Colom in den Umfragen vorne liegt, beeilte sich am 3. Juli, die Worte Bergers zu verdeutlichen. Der US-Bürger Mark Klugmann habe „in Honduras die Morde an Buschauffeuren ersonnen und es erscheint uns seltsam, dass jetzt, während er den Partido Popular (PP) berät, das Gleiche in Guatemala passiert“. In der ersten Jahreshälfte sind 75 Buschauffeure im Land umgebracht worden, angeblich von Strassenbanden. Klima der Angst. Klugmann hatte in Honduras als Berater die knapp gescheiterte Wahlkampagne des rechtsradikalen Law-and-Order-Kandidaten Pepe Lobo geleitet, während der es am Vorabend von Weihnachten 2004 in einem Aussenbezirk der Industriemetropole San Pedro Sula zu einem Massaker gekommen war: Alle InsassInnen eines Busses, mehrheitlich von der Arbeit heimkehrende Maquilaarbeiterinnen, wurden massakriert. Die Täter hatten Parolen gegen die Repressionspolitik der Noch-Regierungspartei gegen die Strassenbanden zurückgelassen. Der Berater Klugmann wurde im Land mit diesem Massaker assoziiert, der honduranische Sicherheitsminister unterstrich kürzlich, dass dies Gegenstand einer Untersuchung sei.
Klugmann bestritt umgehend, den laut Umfragen zweitplatzierten Law-and-Order-Kandidaten des guatemaltekischen PP, den oben erwähnten Ex-General Pérez Molina, zu beraten. Die honduranische Regierung liess mitteilen, Berger keine entsprechenden Angaben gemacht zu haben. Auffallend ist auf jeden Fall, dass jetzt, in der Vorwahlperiode, die Morde an Buschauffeuren langsam ein Ausmass annehmen, wie sie es in El Salvador vor den Wahlen getan hatten. Die Person von Klugmann ist auf jeden Fall von Interesse. Er stammt aus dem neokonservativen Milieu in den USA, war Redenschreiber für die beiden Präsidenten Reagan und Bush I. und Berater des Enron-Intimus und mächtigen US-Senators Phil Gram gewesen und agiert seit 1989 im engsten pinochetistischen Umfeld in Chile. In El Salvador hatte Klugman für [Ex-Präsident] Flores den Wahlberater markiert und ist in einer nicht näher bestimmten Funktion auch für den heutigen Präsidenten Saca aktiv gewesen, während dessen Wahlkampagne sich die Morde an Buschauffeuren dramatisch gesteigert haben. (Hauptquellen zu Klugmann: die honduranische Zeitung El Heraldo, 29.11.05, 30.6.07).
Widerstand
Im Raum steht schlicht die Frage, ob es sich beim Massaker von Mejicanos um eine Destabilisierungsaktion gegen die Regierung Funes/FMLN gerichtet habe, der die Rechte ja andauernd Inkompetenz in Sachen Law and Order vorwirft. Es wäre also eine Strategie der Spannung. Denn so durchgeknallt Mara-Leute auch sein mögen, es fällt sehr schwer, sich irgendwelche plausiblen Motive für eine derart brutale Eigeninitiative vorzustellen. Mit einer „Strategie der Spannung“ würde das von den Rechten und führenden (und ehemaligen) Offizieren offen vertretene Ziel verfolgt werden, eine linke Regierungspolitik zu verunmöglichen, indem der ohnehin schon extrem kritisierungswürdige Armeeeinsatz im Innern von seinen oft beklagten „legalistischen“ Fesseln befreit würde.
Tatsache ist, wie Sicherheitsminister Melgar sagt, dass mit dem Massaker Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreitet werden soll und wird. Wir haben von Kindern in Mejicanos gehört, die Angstzustände hatten, in den nächsten Tagen in den Schulbus einzusteigen.
Umso wichtiger vielleicht die Initiative der FMLN-Regierungen der Gemeinden im Grossraum San Salvador, gegen Angst und Psychose eine Kampfinitiative zu lancieren. Motto: Wir lassen uns nicht in die Knie zwingen! Unter diesem Motte demonstrierten in Ilopango am Samstag 1000, in Mejicanos 2000 Menschen. Ein wichtiges Zeichen: der FMLN konfrontiert sich ab jetzt direkt mit den Kräften hinter der Gewaltspirale. Der Bürgermeister von Mejicanos, Roger Blandino Nerio, sagte: „Wir sind hier in tiefem Schmerz wegen der Opfer. Es kann nicht sein, dass einige Gewalttäter dieses Volk in die Knie zwingen. Wir können vorwärts kommen und wir müssen mit dieser Verpflichtung von hier weggehen“.
Mobilisierung in Mejicanos: "Das vereinte Volk wird die Gewalt besiegen" (Co-Latino, 26.6.10)
Fünf der verbrannten Opfer waren in den lokalen Komitees aktiv, welche die Gemeinderegierung von Mejicanos organisiert hat, damit die Bevölkerung der von Erdrutschen nach Regenfällen bedrohten Armutsquartiere rechtzeitig evakuiert wird.
Auch wir Linke sind mit einer harten Realität konfrontiert. Daran, dass das Offizierskorps bis hin zum Verteidigungsminister rechts und im Dienst des Pentagons steht, gibt es kaum einen Zweifel. Dass es den Zauberlehrlingen der Regierung Funes/FMLN dereinst extrem schwer fallen wird, die Geister der Militarisierung wieder in die Flasche zurückzuholen, ist auch klar. Aber auch, dass heute jede/r BusfahrerIn in El Salvador erleichtert sein wird, wenn im Bus schwer bewaffnete Uniformierte mitfahren.