Geheime MigrantInnenknäst ein den USA

Donnerstag, 24. Dezember 2009

„Wenn ihr meint, nicht genügend Beweise für ein Strafverfahren zu haben, aber denkt, er ist illegal, können wir ihn verschwinden lassen“. Dies sagte James Pendergraph, hoher Funktionär der US-Migrationspolizei ICE. An einer Konferenz von Polizeioffizieren im August 2008.  Mit im Publikum sass Sarnata Reynolds von Amnesty International, die dazu sagte: „Es war fast surreal, dort zu sein, vor allem für jemanden von einer Organisation, die während Jahrzehnten zu Fällen von Verschwindenlassen in anderen Ländern gearbeitet hat. Ich konnte es nicht fassen, dass er dass so kühn von sich gab, als ob es alles in Ordnung wäre“.

Mit diesen Zitaten führt Jacqueline Stevens in einer online am 16. und 17. Dezember beim linken US-Magazin The Nation publizierten zweiteiligen Reportage in die erschreckende Problematik von 186 nicht deklarierten MigrantInnenknästen in den USA ein (America's Secret ICE Castles und ICE Agents' Ruse Operations).  Es handelt sich dabei um sogenannte sub field offices des ICE ein, deren Adressen  und Telefonnummern in keinem öffentlichen Verzeichnis zu finden und die von aussen nicht als ICE-Einrichtungen erkennbar sind. (Ein field office ist eine Zentrale der Migrationspolizei in einem Bundesstaat). Sie befinden sich in „manchen Vorstadtbürokomplexen oder kommerziellen Zentren“. Stevens zitiert Ahilan Arulanantham von der Menschenrechtsorganisation ACLU bezüglich eines in einem grossen Regierungsgebäude in Los Angeles untergebrachten subfield-Zentrums des ICE: „Du gehst den Gehsteig runter, in die unterirdische Parkplatzanlage hinein, und gehst dann rechts, öffnest eine grosse Tür und voilá, du bist im Internierungslager“.  

Solche subfield-Zentren dienten ursprünglich als Transitort bei Gefangentransporten, entsprechen in keiner Weise den amtsinternen Mindestanforderungen an Gefangenenlager und müssen nicht öffentlich angegeben werden. Stevens zitiert mehrere in solchen Lokalitäten eingepferchte Ex-Gefangene und ihr Gefühl  absoluter Schutzlosigkeit an diesen Orten.  Sie beschreibt fehlgeschlagene Suchaktionen von Angehörigen und AnwältInnen nach Festgenommenen, die an solchen Orten, die der Öffentlichkeit entzogen sind und deren Existenz selbst mit der Repressionsmaschinerie gegen MigrantInnen vertrauten Menschen unbekannt ist, festgehalten wurden. „Alla Suvorova, 26 Jahre, lebte während fast sechs Jahren in Missions Hills, California, und endete“ im oben erwähnten subfield-Center in LA. „Für sie waren der schlimmste Teil nicht der Dreck, nicht die überall herumfliegenden Käfer oder die verstopfte, stinkige Toilette in der Gemeinschaftszelle. Sondern die Panik, die sie erfasste, als die ACE-Leute lachten, als sie wissen wollte, wie lange sie festgehalten würde. ‚Niemand konnte einen Besuch machen, sie konnten mich nicht finden. Ich dachte, diese Leute lassen uns durch den Mixer, machen Würste aus uns und verkaufen sie’“. Ein anderer Fall betrifft Mark Lyttle, einen Mann mit kognitiven und depressiv-manischen Problemen, der, trotz seiner ihn als US-Bürger ausweisenden Papiere, aus dem Gefängnistrakt eines normalen Knasts in ein solches Geheimgefängnis von ICE kam und schliesslich nach Mexiko deportiert wurde. In der Zwischenzeit suchten seine Mutter und seine Geschwister verzweifelt nach ihm, gingen die Totenlisten durch und nahmen seine Spur im normalen Gefängnis auf, verloren diese aber mit seiner Überführung in die Unterwelt von ICE.

Stevens weist auch daraufhin, dass die vom Weissen Haus von Bush gepushten Verhörtechniken des Schlafentzuges und der extremen Kälte in solchen Centers gang und gäbe seien, auch wenn es hier nicht um Verhöre gehe.

Sie berichtet von einem solchen Geheimknast mitten in einer exklusiven Kommerzzone von Manhattan: „Jemand, der ein Jahr lang in diesem Gebäude gearbeitet hat, sagte, er habe Gerüchte über FBI-AgentInnen gehört, obwohl er nie etwas gesehen habe, bis nach neun Monaten einen Mann, der offen eine Pistole durch die Gebäudelobby trug. Im November sah er mittags zwei zivil gekleidete Männer, die einen dritten Mann in Handschellen durch einen Nebenstrasseneingang hinter Crafsteak brachten. ‚Es war sonderbar, gruselig’, sagte er. ‚Ich mag das nicht. Du fragst dich, was verstecken sie? Aus guten oder aus schlechten Gründen?’“

„Natalie Jeremijenko, die in der Nähe wohnt und an der New York University bildende Künste lehrt, wies auf ‚den perversen Genius’ hin, BundesagentInnen im „weltweiten Zentrum der Sichtbarkeit und des öffentlichen Raums“ zu verstecken, unter Bezug auf die Gallerien und den High Line-Park unter diesen Gebäuden“.


Im zweiten Teil ihrer Reportage beschreibt Stevens, wie sich ICE-AgentInnen als SozialhelferInnen, VersicherungsvertreterInnen und sogar als Mormomenprediger ausgeben, um Illegalisierte auszuspionieren. „GuatemaltekInnen in der Gegen von Boston sehen Spione, die sich in Fabriken einschleusen; Busse mit gefärbten Scheiben, die unidentifizierbare ArbeitskollegInnen wegfahren und Männer mit Waffen, die ihre Nachbarn ergreifen. Für diese Überlebenden von Staatsgewalt ist das eine traumatische Erinnerung genau an die Dinge, von denen sie geglaubt haben, sie hinter sich gelassen zuhaben. Die 26-jährige, bei einem ICE-Raid verhaftete Julia sagte: ‚Wenn sie Kinder mitnehmen und alles, dann ist das für mich ein zweiter Krieg. 13 von 15 GuatemaltekInnen aus der Stadt Chimaltenango, die eine Gruppe für ihre von ICE festgenommenen Angehörigen organisiert haben, konnten diese nicht lokalisieren“.

Stevens hat für ihre Recherche einige schon zuvor bekannte Informationen zusammengetragen und hat, dank Indiskretionen und unter Berufung auf den Freedom of Information Act (FOIA), eine Teilliste von Geheimgefängnissen erstellen können. Sie legt dar, wie gleichwohl sehr vieles im Dunkel bleibt. Die erwähnte Kunstdozentin sagt: „Damit eine partizipative Demokratie funktioniert, brauchst du real-time visuellen Beweis für das, was vor sich geht“, und nicht bloss, fährt Stevens fort, „das Wissen von ProfessorInnen, die ein FOIA-Gesuch erstellen oder auch die LeserInnen eines Nation-Artikels.“

Und noch etwas sagt Jacqueline Stevens: „Sie brauchen nicht in den Iran oder nach Nordkorea zu gehen, um Geheimgerichte zu finden. Versuchen sie, einen US-Migrationsverfahren beizuwohnen“.