(12.1.10) Es ist nicht Aufgabe dieses Blogs, in fremden Themenbereichen wildern zu gehen. Und schon gar nicht, nur aus Gegnerschaft zu den neoliberalen Schuften in ein Halleluja auf die keynesianische Variante der Systembrutalität auszubrechen. Die LeserInnen mögen also diese Zeilen als Akt mentaler Hygiene hinnehmen, als momentanes Aufschnaufen gegen die pausenlos niederprasselnde Gemeinheit und Dummheit in den meisten Medien.
In der heutigen NZZ ärgert sich ein Wirtschaftskorrespondent über eine geplante Erweiterung des so genannten Konjunkturförderungsprogramms der Administration Obama, das vorgibt, auch Massnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen anzupeilen. Unerhört! Nachdem man einhellig „Ja“ zu den staatlichen „Stützungsmassnahmen“ für die finanzkapitalistischen ZerstörerInnen gebrüllt hat, wird wieder ganz ordoliberal davor gewarnt, Staatsgelder für Arbeitsplätze und Sozialmassnahmen zu versauen, statt die Steuern für die Reichen senken. Das tönt so: „Wenn man die staatliche Konjunkturankurbelung bejaht, so geben die Harvard-Ökonomen Alberto Alesina und Silvia Ardagna […] Hinweise darauf, wie solche Massnahmen aussehen sollten. […] Ihr Fazit ist eindeutig: Dieses Ziel lässt sich nur über Steuersenkungen, nicht aber durch zusätzliche Ausgaben erreichen“ (NZZ, Christoph Eisenring, 12.1.10: Noch mehr Keynes für die USA). Das haben sie nämlich ganz genau erforscht und herausgefunden, dass Steuersenkungen zu Wirtschaftswachstum führen, der Rest aber zu Steuererhöhungen. (Und wenn es diese Jahre mit dem erfrischenden Rezept nicht so recht geklappt hat, dann gewiss nur, weil es zu zaghaft angewandt wurde.)
Alesina ist seit Jahren so etwas wie ein ökonomischer Guru für verschiedene Sezessionsbewegungen und failed-states-Kolonialzugriffe, seit er für die Weltbank das Konzept mitentwickelt hat, dass grosse Staaten/grosse Regierungen mancherorts dem vernünftigen Wirtschaften im Rahmen eines Nachwächterstaates im Wege stehen. In Lateinamerika etwa sind sezessionistische Kräfte in Bolivien, Venezuela oder Ecuador auf dieser Linie, AfghanistankriegsstrategInnen verwiesen erfreut auf seine Thesen. Er gehört zur Standardequippe der globalen Armutsforschung, die jedes Jahr neue bereichernde Erkenntnisse über Armutsgründe vorlegt, ohne je auf die Zwangsverhältnisse zu stossen, die Verarmung bringen. Dafür hat er mit einem anderen Meister seines Faches, William Easterly, schon rausgefunden, dass Armut fördernde, da Ethnien spaltende Staatsgrenzen neu so zu ziehen sind, dass Ethnien zusammen kommen. wie wenn die Grenze an sich das Problem wäre und nicht die jeweilige Machtpolitik. Neuerdings propagiert er, dass "Europa" eigentlich ein linkes Projekt sei. Eine wahre Quelle der Weisheit, mithin.
Nun hat aber Alesinas NZZ-Fan ein Problem. Was er als wissenschaftliche Offenbarung präsentiert, ist längst als Sozialkriegshetze entlarvt und wird vom Funktionskader der Herrschenden auf seine Tauglichkeit oder Kontraproduktivität fürs Krisenkommando abgeklopft, nicht auf eine imaginierte "wissenschaftliche Evidenz". Zufällig fiel mir gerade ein Artikel aus der New York Times in die Hände, der dies illustriert. Darin meint etwa Reagans ehemaliger Ökonom Martin Feldstein zu Obamas bisherigen „Ankurbelungsprogrammen“: „Es hätte mehr direkte Bundesausgaben geben müssen, um die Gesamtnachfrage zu steigern". Die von Obama mitfinanzierten „temporären Steuererleichterungen […] wurden weitgehend gespart und haben den Konsum nicht stimuliert“ (nix angebetetes Wachstum also) (NYT, 21.11.09: „New Consensus Sees Stimulus Package as Worthy Step). Die für einen durchschnittlichen Schweizer Wirtschaftsjournalisten schon fast linke NYT legt dar, dass es eher einen ÖkonomInnenkonsens für Massnahmen der "verfluchten" Art gibt als für die von der NZZ unbeirrt, da die Macht im Rücken wissend, gepredigten. Die Times kann sich mit folgender Aussage auf einen Erzkommi wie den Chefökonom von Moody’ berufen: „Jeder Dollar für zusätzliche Infrastrukturausgaben bedeutet $1.57 in wirtschaftlicher Aktivität [… ] Noch wirkungsvoller sind Erhöhungen bei den food stamps (Essensgutscheine) ($1.74) und Arbeitslosengeldern ($1.61), weil die EmpfängerInnen ihre Gutschriften rasch für Güter und Dienstleistungen ausgeben“. Uralt, bekannt, doch den Angriffsplänen der Bosse der NZZ-SchreiberInnen derzeit undienlich, also tot geschwiegen.
Gibt nämlich viel Besseres: „Aus liberaler Warte gäbe es einen einfachen Weg, wie man die Beschäftigung erhöhen könnte: die Reduktion oder gar Abschaffung des Minimallohnes. Er wurde zwischen 2006 und 2009 um 40% von $ 5.15 auf $ 7.25 je Stunde erhöht. Eine Verringerung würde den Steuerzahler erst noch nichts kosten. Doch dieser unbürokratische Vorschlag ist politisch chancenlos. Lieber setzt man in Washington derzeit auf die ordnende Hand des Staates als auf die Kreativität der Wirtschaft.“ (NZZ, s.o.). Man denke! Wo doch der kalabrische Unternehmerverband N’drangheta die Vorzüge dieser Kreativität gerade in Rosarno vorgeführt hat.
Wie gesagt: Es geht nicht darum, den Keynesianismus hochleben zu lassen. Der ist in den 70er Jahren in die Krise geraten, nicht, weil er „falsch“ gewesen wäre, sondern eher, weil ihn die Aufbruchsbewegungen von Vietnam bis in die Fiat ausgehebelt haben. Die Antwort der Herrschenden war, eingeleitet mit dem Putsch 1973 in Chile, der Neoliberalismus. Dessen massive Verschärfung in und mit der allgemeinen Krise seit 2007, wie sie die Mächtigen knallhart betreiben, ist mit allen Mitteln zu bekämpfen. Auch mit einem Aufstöhnen ob all der Lügen.