Haiti: Nach dem Grauen die Profitraserei

Montag, 18. Januar 2010

Es wäre verrückt, wenn wir alle anfangen würden, Truppen nach Haiti zu schicken.
Daniel Ortega, Präsident von Nicaragua

(17.1.10) Eine Vorbemerkung: Das Erdbeben in Haiti ist so entsetzlich, dass es sich jeglicher Rationalisierung entzieht. Es gibt nichts, mit dem das Leiden heute in Haiti relativiert werden kann. Wer ein wenig Einfühlungsvermögen hat, wer vielleicht auch schon mit einer Umweltkatastrophe konfrontiert war, weiss das.

Wir haben deshalb zunächst auf diesem Blog nichts zum Erdbeben veröffentlicht. Nichts zum unsäglichen Geschwätz von den zu einer vernünftigen Regierung „unfähigen“ HaitierInnen, nichts zur Floskel vom „armen“ Haiti, ohne jeden ehrlichen Hinweis darauf, wer diese Armut seit Hunderten von Jahren gegen alle Rebellion systematisch und mit brutaler Gewalt durchsetzt.  Nichts zu der bei jeder Katastrophe noch unerträglicher werdenden Manie, gleich nach dem ersten Schock in jeder Nachrichtensendung von Neuem die Hilfeleistung der Profis im eigenen Land, in unserem Fall also der Schweiz, zu betonen. Propaganda und Verdrängung zugleich. Und schon gar nichts zum perversen Wettrennen einiger (nicht aller) Hilfswerke, wo es darum geht, sich möglichst vor der Konkurrenz spendenwirksam medial in Szene zu setzen – hat Caritas die Nase vorn oder World Vision?

Es schien fast wie die Trauer missachtend, auf „Nachrichten“ zu reagieren, wonach die Hungersnot in Haiti auf haitische Inkompetenz zurückgehe (s. Artikel von Bill Quigley).

Alles sekundär, so schien es. Dabei war uns natürlich bewusst, dass die horrenden Folgen des Erdbebens mit gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen zu tun haben. Als kleines Beispiel diene die Abschaffung des unter Aristide anscheinend halbwegs funktionierenden Zivilschutzes zugunsten eines „abgespeckten“ Staats.

Doch jetzt sehen wir: „New Orleans“ wiederholt sich. Es war absehbar.

New Orleans. Gerade hat Obama die Ex-Präsidenten Clinton und Bush II als Koordinatoren der privaten US-„Hilfe“ für Haiti eingesetzt. Als Türöffner also für die weitere Zurichtung fürs US-Kapital. Clinton – unter ihm lief 1991 der erste faschistische Putsch gegen Präsident Aristide, den er erst 1994 wieder zurück an die Macht liess, nachdem Aristide hoch und heilig geschworen hatte, künftig allen Geboten von IWF/Weltbank unverzüglich nachzukommen. Da Aristide dieses Gelübde teilweise nicht einhielt, stürzten ihn die USA 2004 zusammen mit Frankreich und Kanada erneut. Bush II: Unter ihm lief die Invasion 2004. Und ab August 2005 die Zerstörung der schwarzen Unterklassen von New Orleans. Erinnern wir uns: Während Tagen berichteten die TV-Crews von den Verdurstenden und Verhungernden in den Notzentren von New Orleans, zu denen aus Gründen der „Logistik“ keine Gehilfe gelangen konnte. Es war unglaublich, aber wahr: Die grösste Wirtschafts- und Militärmacht der Welt behauptete, den Leuten keine Hilfe geben zu können, weil die Seitenstrassen von … Plünderern unsicher gemacht würden. Die ganzen Hetzstories damals in den Tagesschauen und auf den Titelseiten erwiesen sich später als reine Lüge. Sie dienten dazu, die Hilfeverweigerung zu verschleiern“ und die dann erfolgende militärische „Besatzung“ der Stadt zu legitimieren. Es hatte sich um eine gigantische militärische „Quarantäne“-Übung gehandelt (die US-Sicherheitskräfte hatten tagelang private Hilfe an die Eingeschlossenen unterbunden). Damit waren die Grundlagen für den Versuch gelegt, New Orleans als sozial und ethnisch „gesäuberte“ Metropole im US-Süden ganz nach den Profitwünschen der Stadtentwickler neu aufzubauen. Ein teilweise erfolgreicher Versuch, leider.

Und jetzt Haiti. Während Tagen gaben die Medien unter Verweis auf die inexistente und durch das Erdbeben zerstörte Infrastruktur wieder, dass so gut wie niemandem geholfen wurde. Keine Wassersäuberungstabletten, kein Stromgenerator, keine Medikamente. Weil: Chaos am Flughafen. Aufatmen: Die US-Armee übernimmt den Flughafen. Assistenzstaatssekretär Philip Crowley verkündete letzten Mittwoch, man habe mit dem haitischen Premier Bellerive ein „Memorandum of Understanding abgeschlossen, das die Kontrolle des Flughafens  den USA überträgt. Flüge werden jetzt geordnet und der Stau hat abgenommen“ (Pressekonferenz State Department, 15.1.10). Der haitische Botschafter in den USA verweist darauf, dass „die US-Air Force nicht unter der Anleitung von haitischen FlughafenfunktionärInnen arbeitet“ (globalresearch.ca, 15.1.10, Michel Chossudovsky: The Militarization of Emergency Aid to Haiti: Is it a Humanitarian Operation or an Invasion?). Und, wo doch der Verkehrsstau abgenommen hat? Nämlich so:

Das Welternährungsprogramm versuchte am Donnerstag und Freitag Flüge [in Port-au-Prince] zu landen. Aber sie wurden umgeleitet, damit die United States Truppen und Ausrüstungsgüter an- und AmerikanerInnen und andere AusländerInnen ausfliegen konnte. ‚Es gibt pro Tag 200 An- und Abflüge, was für ein Land wie Haiti eine unglaubliche Menge ist’, sagte Jarry Emmanuel [vom Welternährungsprogramm]. ‚Aber die meisten dieser Flüge sind von den US-Streitkräften’
(New York Times, 17.1.10, Ginger Thompson, Damien Cave: Former Presidents to lead Relief Fund).

Got it? Erst die Truppen, dann die Hilfe. Katrina II. Andrés Sal.lari zitiert aus einem EFE-Ticker vom 15. Januar: Der US-Kriegsminister
Gates führte an, dass die vordringlichste Priorität darin besteht, so schnell wie möglich Wasser und Nahrung an die Comunidad zu verteilen, um ‚zu verhindern, dass die Sicherheit wegen der Verzweiflung der Menschen schlechter wird oder es zu Ansätzen von Gewalt kommt’ (rebelion.org, 16.1.10: Qué planea EE.UU. en Haiti?).
Gates definiert die Angelegenheit also in Begriffen der „Sicherheit“. US-Generalstabschef Mike Mullen hilft uns in der gleichen EFE-Mitteilung zu verstehen, was vor der „vordringlichsten Priorität“ kommt: der US-Flugzeugträger Carl Vinson. Der ist nämlich schon angekommen. Genau so wie Einheiten der berüchtigten 82. Luftlandedivision. Das federführende US-Südkommando detaillierte eine veritable Seemacht, die dieser Tage in Haiti erwartet wird, nebst den etwas mehr als 10'000 Truppen (15.1.10, Update on U.S. military relief efforts in Haiti).

Wir werden heute hier sein, morgen und für die kommende Zeit.
US-Aussenministerin Hillary Clinton bei ihrem Besuch des Flughafens von Port-au-Prince am Samstag (NYT, 17.1.10, Mark Landler: In Show of Support, Clinton Goes to Haiti). Sie hatte jenes bezirzende Sprüchlein parat, das ihr Boss schon andauernd runterleiert: Sie sei primär gekommen, um der haitischen Regierung zuzuhören. Hatte dann aber doch einen eigenen „Vorschlag“:
Mrs. Clinton … warnte, dass die Sicherheitslage beunruhigend würde. Sie sagte, sie hoffe, dass die haitische Regierung einen Noterlass anordne, der ihr die legale Vollmacht gebe, Ausgangssperren und andere Massnahmen anzuordnen. ‚Der Erlass würde der Regierung eine enorme Befugnis geben, die sie in der Praxis an uns delegieren würde’, sagte Mrs. Clinton (id.).

Das US-Südkommando zitiert heute seinen Operationschef in Haiti, Lt. Gen. P.K. Keen: 
Unsere wichtigste Mission [ist] die humanitäre Hilfe, aber die Sicherheitskomponente wird einen wachsenden Anteil daran haben (17.1.10: Security Role in Haiti to Gain Prominence, Keen Says).
Einige Gewaltereignisse haben, so Keen, die Fähigkeit der US-Army, die HaitierInnen zu unterstützen, beeinträchtigt. Auch Hillary Clinton beruft sich für ihre Kriegsplanung auf einen CNN-Bericht, wonach „Miami-ÄrztInnen“ aus einem Notspital hätten fliehen müssen, nachdem in der Nachbarschaft Schüsse zu hören gewesen seien. Kann sein, wenn gleich fast alle KorrespondentInnen aus Port-au-Prince betonen, wie friedlich und hilfsbereit die Menschen sind. Zu den wenigen Ausnahmen gehört die New York Times, die in ihrer heutigen Ausgabe vom Feind berichtet: „Looting flares Where Authority Breaks Down“. Es geht dabei um mit Macheten bewaffnete Plünderer. Das erinnert frappant an die Horrorstories aus New Orleans (von den Terror verbreitenden Vergewaltigerbanden in den Notzentren, von gestapelten Leichen von ermordeten Kindern etc. – alles Lügen).

Katastrophenkapitalismus. Die New York Times gibt heute Hinweise. In einer Reihe von Beiträgen (Eight Ways to Rebuild Haiti) warnt etwa Dan Senor in seiner Eigenschaft als früherer Berater der Besatzungsbehörde in Bagdad davor, die ArmeekommandantInnen bei den für ihre Wiederaufbauoperationen nötigen Käufen ins Korsett eines Ausschreibverfahrens zu zwingen. Im Irak und in New Orleans haben sich fast die identischen US-Firmen mit Direktaufträgen der US-Armee Milliarden illegal in die eigene Tasche gesteckt. James Dobbins, ehemaliger Haiti-Gesandter von Bill Clinton, und heute Kader bei der mit dem Pentagon liierten Rand Corp., macht anderes deutlich: "Jegliche Hilfe“ für den „Hafen […] das staatlich kontrollierte Telefonmonopol, [….] das Erziehungsministerium, die Stromgesellschaft, das Gesundheitsministerium und die Justiz“ fusst auf der Voraussetzung der Restrukturierung und/oder Privatisierung dieser Bereiche. Denn: „Dieses Unglück stellt eine Gelegenheit dar, die oft verschobene Reform dieser Sektoren zu beschleunigen“ (id.)


Für einen Einblick in die US-Politik in Haiti: http://www.democracynow.org/2010/1/14/us_policy_in_haiti_over_decades