NATO/Libyen: Koloniale Gehirnwäsche

Samstag, 6. August 2011



(zas, 8.8.11) Die Compañeros, zwei aus Kolumbien geflüchtete Gewerkschafter, schwiegen betroffen. Ich hatte ihnen gerade mitgeteilt, dass die NATO nun offiziell auch Fabriken und andere wirtschaftliche Ziele bombardiere. Als Begründung, erläuterte ich, führe das Militärbündnis an, Ghadhafi missbrauche diese Einrichtungen für seine militärischen Pläne. Dafür hatten die beiden nur Sarkasmus übrig.
Sie reagierten anders als viele Schweizer Linke, die oft solche NATO-Behauptungen als diskussionswürdig aufnehmen: „Ja, dann vielleicht…“! Metropolenneutral eben. Die Colombianos dagegen sahen im Geist schon ihre (früheren) Arbeitsorte bombardiert. Sie sagten: „Und wer hindert den Imperialismus, morgen ein nächstes Land zu überfallen“? Nicht, dass für sie Ghadhafi ein Revolutionär oder was wäre. Es gibt zwar diese Sichtweise in der lateinamerikanischen Linken, aber Untaten des Ghadhafi-Regimes haben sich eben auch rumgesprochen. Dass nun aber ausgerechnet das imperialistische Militär für Emanzipatorisches eingesetzt werde, dass zu schlucken sind die lateinamerikanischen Linken nicht fähig. Die beiden Gewerkschafter stimmten völlig überein mit dem, was mir ein Ex-Guerillero des salvadorianischen FMLN kürzlich sagte: „Es gibt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. In Europa begreifen das viele Linke nicht. Was immer Ghadhafi getan hat, es ist Sache des libyschen Volkes, das zu regeln“.
(Klar, konzedieren wir, so weit fortgeschritten wie die postmodernistische Dekonstruktion von Volk ist dieser Diskurs nicht. Weshalb wir hier uns den Luxus erlauben können, die Bombardierungen in Libyen entweder gut zu heissen oder naserümpfend zu verdrängen).
Da die nun offizialisierte NATO-Doktrin kaum zur Kenntnis genommen wurde, hier ein Auszug aus einer Depesche in der NZZ vom 27. Juli 2011:
«Die Ghadhafi-Truppen besetzen zunehmend Einrichtungen, die einst zivilen Zwecken dienten», sagte der Militärsprecher des Nato-Einsatzes in Libyen in einer ins Nato-Hauptquartier in Brüssel übertragenen Video-Pressekonferenz. Dabei handle es sich um frühere Ställe, landwirtschaftliche Einrichtungen, Lagerhäuser, Fabriken und Produktionsanlagen für Lebensmittel.  «Indem es diese Einrichtungen besetzt und missbraucht hat, hat das Regime sie zu militärischen Anlagen gemacht, von denen aus es Angriffe führt und leitete», erklärte Lavoie. Damit hätten diese Einrichtungen ihren «einst geschützten Status verloren und sind zu zulässigen und notwendigen militärischen Zielen der Nato geworden».
Der zitierte NATO-Oberst Roland Lavoie kam in der Pressekonferenz vom 26. Juli 2011 mehrmals auf dieses Motiv zurück: „ursprünglich“ zivile Einrichtungen als „legitime“ Bombenziele.
Im Schnitt fliegt die NATO seit Ende März rund 140 Einsätze pro Tag, davon über ein Drittel Bombenflüge. Vor einigen Wochen gaben libysche Regierungsquellen die Zahl von über 1100 unter den Bomben umgekommener ZivilistInnen an (über die vermutlich einiges höheren militärischen Verluste gegen die NATO und die sogenannten Rebellen schweigen sich diese Quellen aus. Mir sind auch keine Zahlenangaben zu Gefallenen auf Seiten der Anti-Ghadhafi-Kräfte bekannt.)
Ab und an flimmert auf einem der einschlägigen internationalen Prokriegs-Nachrichtensender (al-Jazeera english, CNN, BBC World Service, France 24, etc.) ein Bild eines bombardierten Wohnhauses oder auch eines angegriffenen Spitals über den Bildschirm – nicht ohne den beruhigenden Hinweis, der Vorfall könne nicht unabhängig von der Ghadhafi-Propaganda verifiziert werden. Dass es zu den von der NATO angekündigten Kriegsverbrechen kommt, ist jedoch nicht zu bezweifeln. So stellte sich NATO-Sprecher Lavoie am 30. Juli 2011 cool hinter die Bombardierung des staatlichen libyschen TV-Senders:
„Unsere Intervention war nötig, da das TV als integrale Komponente des Regimeapparates benutzt wird, um systematisch ZivilistInnen zu unterdrücken und zu bedrohen und Angriffe auf sie anzustacheln. Ghadhafis zunehmender Gebrauch von Hetzsendungen illustriert die Politik seines Regimes, Hass unter den LibyerInnen zu entfachen […[ und Blutvergiessen auszulösen“.
Dabei sind offenbar drei Medienschaffende umgekommen und 15 weitere verletzt worden. Tough luck. Und Gähn für das „alte“ Völkerrecht wie die Genfer Konventionen, etwa Art. 52 ihres Zusatzprotokolles I:
Art. 52 Allgemeiner Schutz ziviler Objekte
1.  zivile Objekte dürfen weder angegriffen noch zum Gegenstand von Repressalien gemacht werden. Zivile Objekte sind alle Objekte, die nicht militärische Ziele im Sinne des Absatzes 2 sind.
2.  Angriffe sind streng auf militärische Ziele zu beschränken. Soweit es sich um Objekte handelt, gelten als militärische Ziele nur solche Objekte, die auf Grund ihrer Beschaffenheit, ihres Standorts, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt.
Vielleicht noch bedrohlicher ist die Meldung aus pravda.ru vom 23. Juli 2011, NATO war crime: Libya water supply. Danach hat die NATO am 22. Juli 2011 eine Pipeline des Great-Man-Made-River-Projektes bombardiert, des weltweit grössten Trinkwasserleitungssystems, das 70 Prozent der libyschen Haushalte mit Wasser versorgt. Am Tag danach habe die NATO eine Fabrik in der Stadt Brega zerstört (sechs Tote), die Röhren für dieses Pipeline-Projekt herstellte.
Unabhängig von der schweren Mitschuld der bisher in Libyen Herrschenden an den Ereignissen seit Februar 2011, unabhängig allenfalls von Wünschen und Willen einer Sozial- und Befreiungsrevolte gegen das Regime, die allerdings hinter der Neocon-„Transitionsleitung“ in Benghazi kaum erkennbar ist, eines ist klar:
Die NATO erlaubt sich, das Begehen von Kriegsverbrechen anzukünden und zu propagieren, ohne dass es in unseren Breitengraden dazu auch nur noch ein vernehmbares Echo gäbe.