Zu den Unruhen in Chile

Sonntag, 7. August 2011

Am Donnerstag, dem 5. August, kam es zu in dem seit über zwei Monaten andauernden Kampf der StudentInnen und SchülerInnen für ein soziales Erziehungswesen – Bildung für alle, unabhängig von der Kaufkraft der Eltern – landesweit zu einer breit angelegten Repression. So gross, dass selbst „unsere“ Medien teilweise davon Notiz nahmen. Die Regierung Piñera wollte in Santiago an 6h30 in der Früh um jeden Preis eine angekündigte Grossdemo verhindern.

Hier einige Auszüge aus dem Text Piñera juega con el boomerang de la represión des bekannten chilenischen Journalisten Ernesto Carmona, verfasst am 5. August.
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Ausserordentlicher Weise war es die Regierung selbst, die einen unglaublichen Tag der Gegenpropaganda orchestrierte – „Sie sehen es, es passiert“ – die unkontrollierte Polizeirepression, nicht nur gegen StudentInnen, die zu demonstrieren versuchten, sondern gegen jedes Lebewesen, PassantInnen, Metroaufsuchende, an Bushaltestellen Wartende, Leute, die nichts mit den StudentInnen zu tun hatten, ArbeiterInnen unterwegs nach Hause oder zur Arbeit, Betagte, die zum Gesundheitscheck gingen, AnwohnerInnen, die in ihren Heimen hochgiftiges Tränengas oder damit versetzte Wasserschwaden abbekamen, ahnungslose TouristInnen, ohne Erfahrung im Strassenkampf, sogar streunende Hunde etc. Jede Gruppe von 3-5 Personen, egal, wie alt die Leute waren, wurde mit Tränengas eingenebelt, egal, was sie taten, und wäre es auch nur auf den Bus warten. Die Vorkommnisse endeten nach Mitternacht und kulminierten in der Plünderung eines Geschäftes der Verkaufskette La Polar, die im Auge eines Hurrikans steht wegen der illegalen, missbräuchlichen und unilateralen Restrukturierung von Schulden von fast einer halben Million KlientInnen steht.

Die Alameda, die wichtigste Verkehrsader von Santiago war während des ganzen Tages geschlossen, aber es kam auch zu Zusammenstössen und Verkehrsunterbrüchen auf den wichtigsten Ersatzstrassen, wo Gruppen von StudentInnen Barrikaden errichteten.

Die Ereignisse vom Donnerstag, die nach Angaben der Regierung mit landesweit 947 Verhafteten endeten, markieren „ein Vorher und ein Nachher“ in der 1990 eingeleiteten Rückkehr zur „Demokratie“.

Eine weitere Nachrichtenbombe schlug an diesem Tag ein: Dem im Land am besten angesehenen Umfrageinstitut CEP zufolge sank die Akzeptanz von Präsident Piñera auf 26 Prozent, den tiefsten Punkt für einen Präsidenten in den 22 Jahren seit der Diktatur.

Relevant ist ein breiter Konsens darüber, dass ein grosser Teil der Unruhen und der Plünderungen auf lumpenproletarische Elemente, die nichts mit den StudentInnen zu tun haben, zurückgeht. Viele dieser Elemente gehören sogar zu den Carabineros und haben sich infiltriert, wie reichlich viele, im Internet publizierte Videos und Fotos belegen, die von den Medien nur wenig verbreitet werden. Am Freitag wiesen Regierungssprecher den StudentInnen hysterisch die Verantwortung für die Inbrandsetzung der La Polar zu, aber was Piñera und seine NachbeterInnen behaupten, ist für mehr als 60 Prozent der Befragten nicht mehr glaubhaft. Sie haben schlicht aufgehört zu glauben, was der oberste Würdenträger sagt. Dieser Verlust an Glaubwürdigkeit beeinträchtigt das Überleben des herrschenden Systems ernsthaft, dem die StudentInnen, die nicht einmal im Wahlregister eingetragen sind, praktisch fremd gegenüberstehen. Sie haben auch keine Angst vor den „Bullen“, sie kämpfen mit ihnen, und sie haben, da sie weniger als 28 Jahre alt sind, die Härten der Diktatur nicht gekannt. Die Leute, die nicht am Wahlzirkus teilnehmen, stellen über die Hälfte der Bevölkerung im Wahlalter dar.

Angesichts der Ungewissheit über die politische Zukunft eines Landes, das seinem Staatschef nicht glaubt, braucht es keine Kristallkugel, um zu sagen, dass [die StudentInnenführerin] Camila Vallejos sich in eine national und international bedeutende politische Figur  transformiert hat. Die junge Architekturstudentin, welche die Federación de Estudiantes de Chile präsidiert, hat sich als Leaderin eines neuen Schlages etabliert. Und deshalb hat sie der chilenische Faschismus diesen Freitag mit dem Tod bedroht: Tatiana Acuña Selles, Leiterin des Buchfons im Kulturministerium schrieb in ihrem Twitter: „se mata la perra y se acaba la leva“ [s. Anmerkung unten]. Diesen Satz hatte Pinochet gebraucht, als man ihm während des Putsches vom 11. September 1973 den Tod von Allende rapportierte.
Camila Vallejos

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Anmerkung:
„Se mata la perra y se acaba la leva“ – sinngemäss entspricht dies der gebräuchlicheren Wendung "Se mata la perra y se acaban las pulgas - „Man tötet die Hündin und wird die Flöhe los“. Laut einer Erklärung in der Zeitung La Nación war die spezifisch chilenische Version eine Standardwendung in grossen Landgütern, wo die Grundeigentümer Witwen und „männerlose“ Mädchen zwangsverheirateten, um keine sexuell bedingte Unrast aufkommen zu lassen. Die Vorstellung dahinter war dem Bild einer läufigen Hündin entnommen, die, einmal umgebracht, keine Rüden mehr verrückt macht. Pinochets Gebrauch dieses Satzes ist allgemein bekannt.