El Salvador und USA: Die Justiz der Schlange

Montag, 4. November 2019


Letzten Februar in einem Armutsviertel bei San Salvador: Das zehnjährige Mädchen, das vor seinem Haus mit einem anderen Kind spricht, sieht, wie ein fremder Mann Geld auf den Boden wirft. Es nähert sich, um eine Münze aufzulesen, wird dabei vom Mann hochgehalten und an seinen Genitalien betatscht. Daraufhin rennt der Mann fort, das Mädchen schreiend zu seiner Mutter, die den Typen bis zu seinem Wagen verfolgt. Er wird identifiziert.
Am 1. November hat der Mann den Prozess. Die Verteidigung des Mannes argumentiert, «eine Berührung gefährdet die sexuelle Freiheit der Person nicht». Die Kammer spricht den Mann von der Anklage des sexuellen Angriffs auf eine Minderjährige frei, die ihn sonst 8 bis 12 Jahre Gefängnis gekostet hätte. Sie hält ihn aber eines «Verstosses gegen die öffentlichen Sitten» schuldig. Das gibt eine Busse, für die ein Zivilgericht zuständig sei.
Der Mann heisst Jaime Escalante und ist Richter in der 3. Zivilkammer des Obersten Gerichts.
Sofort erhoben die Feministinnen massiven Protest und verlangten eine Bestrafung. Ihre Wut wurde von Müttern und Väter gestärkt, die fassungslos auf den Richterspruch reagierten. Petitionen sind lanciert, im Kongress betreiben FMLN-Parlamentarierinnen die Abschaffung des das Urteil ermöglichenden Paragraphen, der Hastag «Sí es delito» (Doch, es ist ein Delikt) verbreitet sich rasend schnell. Staatspräsident Nayib Bukele, auf jeden Fall immer bestens über Trends in den Social Media auf dem laufenden, vergeudete wenig Zeit, um expressis verbis «Handeln» zu markieren: Das Oberste Gericht habe den Fall zu untersuchen. (Detail: Eine «Untersuchung», also Beurteilung des Falls, durch höhere Justizinstanzen hängt eigentlich nicht von einem Tweet des Präsidenten ab, sondern von rechtlichen Schritten.) Die Generalstaatsanwaltschaft, die verbissen um Jahrzehnte Knast für junge Frauen aus der Armutsbevölkerung wegen «Kindsmord» (Fehlgeburt) kämpft, zeigte sich erst «überrascht» vom Urteil und kündigte dann, die Nase doch noch im Wind, Berufung an.
Die FMLN-nahe Journalistin Tania Escobar schrieb am 2. November:
2014 wurde ein Mann verurteilt, weil er einem Mädchen im (Engros-) Markt La Tiendona an den Hintern langte. Aber der hatte keine Connections in diesem «Justizsystem». Doch: Mädchen zu betatschen ist ein Delikt. Kinder zu missbrauchen ist ein Delikt!


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Democracy Now, 24. Oktober 2019:
In Louisiana klagen Angehörige von Bauarbeitern, die beim Einsturz des halbfertigen Hard Rock Hotels in New Orleans ums Leben kamen, die Unternehmen hinter dem Unglück an. Die Angehörigen sagen, das 18-Stock-hohe Gebäude sei schlecht geplant und von unlizenzierten Vertragsnehmern und nicht-gewerkschaftlichen Arbeitern gebaut worden. Beim Einsturz am 12. Oktober kamen drei Arbeiter um und Dutzende wurden verletzt. Zwei Tage, nachdem er das Unglück knapp überlebt hatte, wurde ein migrantischer Arbeiter, der drei Stockwerke tief gestürzt war, von der Migrationsbehörde ICE verhaftet. Die AnwältInnen sagen, Delmer Ramírez -Palma müsse operiert werden, doch im ICE-Gefängnis in Oakdale, Louisiana, wo er auf seine Abschiebung nach Honduras warte, bekomme er keine angemessene ärztliche Betreuung. Kurz nachdem er in einem spanisch-sprachigen TV-Sender seine Verletzungen beschrieben hatte, wurde er verhaftet.
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Vor Jahren sagte mal einer in El Salvador, der später für seine Geisteshaltung mit dem Leben zahlte: «Die Justiz ist wie die Schlange. Sie beisst nur die Barfüssigen.» (Arnulfo Romero)