Venezuela: Chávez liefert Verfolgten an kolumbianisches Regime aus

Dienstag, 26. April 2011

(zas, 26.4.11) Am 23. April reiste ein schwedischer Bürger kolumbianischer Abstammung in Venezuela ein und wurde wegen FARC-Mitgliedschaft festgenommen. Am 25. April lieferte ihn Hugo Chávez dem kolumbianischen Folterregime aus.

„Dieser Fall ist eine weitere Demonstration dafür, wie flüssig und wirksam diese Zusammenarbeit  ist“, freute sich der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos letzten Samstag (El Tiempo, 23.04.11). Stunden zuvor hatte Venezuelas Präsident den schwedischen Bürger kolumbianischer Abstammung Joaquín Pérez Becerra verhaften lassen. Das Blatt berichtete weiter: „Santos erzählte, dass er sich gestern mit Präsident Hugo Chávez telefonisch in Verbindung gesetzt habe, um ihn zu bitten, ein als „Alberto Martínez“ bekanntes Mitglied der FARC zu verhaften, der mit einem Flug aus Frankfurt (Deutschland) in Caracas ankomme. ‚Ich gab ihm den Namen und bat ihn, bei der Verhaftung zu helfen. Er zögert keinen Moment’, sagte der Präsident, der anfügte, er habe heute morgen erneut mit Chávez telefoniert, um ihm für die Verhaftung des Guerillero zu danken“.

Aus einer ersten Stellungsnahme der venezolanischen Regierung: „Die Regierung der Bolivarischen Republik von Venezuela informiert, dass am 23. April 2011 im internationalen Flughafen Simón Bolivar von Maiquetia der kolumbianische Staatsbürger Joaquín Pérez Becerra mit dem Identitätsausweis 16.610.245 … festgenommen wurde. [Er] wird von den Justizorganen der Republik Kolumbien über die rote Liste von Interpol wegen … Terrorismusfinanzierung und Verwaltung von Ressourcen im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten gesucht … Die bolivarische Regierung bekräftigt ihre unwiderrufbare Verpflichtung zum Kampf gegen den Terrorismus, die Kriminalität und das Organisierte Verbrechen in strikter Erfüllung der internationalen Verpflichtungen und Kooperation, unter den Prinzipien  von Frieden, Solidarität und Respektierung der Menschenrechte“.

Das ist mehrmals falsch . Becerra hat seit 1994 Asyl in Schweden und gab bei seiner Einbürgerung in Schweden vor 10 Jahren seine kolumbianische Nationalität auf. Der im Communiqué erwähnte kolumbianische Ausweis ist schon längst verfallen; die Chávez-Behörde gab einfach wieder, was ihr die kolumbianische Dienste fütterten. Nur noch bitterer Hohn ist der Verweis auf die „Respektierung der Menschenrechte“.

Wer ist Joaquín Pérez Becerra Carlos Lozano, Chefredaktor des kolumbianischen KP-Blattes La Voz und international geachteter Vermittler im kolumbianischen Konflikt, sagt: „Pérez Becerra ist Direktor des Internetportals Anncol mit Sitz in Schweden, das mit Bewilligung der Regierung jenes Landes operiert. Man kann mit dem Stil von Anccol und mit einigen Veröffentlichungen nicht einverstanden sein, aber dies macht ihren Direktor nicht zum Terroristen oder zum FARC-Mitglied. Anncol verheimlicht ihre Sympathie für die Guerillagruppe nicht und hat das Recht dazu. Es handelt sich um eine freie Meinungsäusserung bei der Ausübung der alternativen Kommunikation“. Joaquín Pérez Becerra war vor seiner Flucht nach Schweden für die damalige Linkspartei Unión Patriótica (UP) Mitglied der Gemeinderegierung von Corinto im Departement Valle del Cauca. Sämtliche der 1988 gewählten UP-BürgermeisterInnen wurden in den folgenden Jahren vom Staatsterrorismus ermordet, dito hunderte von anderen UP-Mitglieder von Gemeindeexekutiven – insgesamt wurden 4000 oder 5000 UP-AktivistInnen „eliminiert“.  Joaquín Pérez’ Gattin wurde damals von den Paramilitärs entführt.
Joaquín Pérez Becerra bei seiner Auslieferung

Anncol wird vom kolumbianischen Repressionsapparat schon seit langem als organischer Propagandaarm der FARC dargestellt. Meist werden als Beleg für diese These „Emails aus dem Computer von Raúl Reyes“ genannt. So auch jetzt im Fall des von Chávez an seinen Freund Santos ausgelieferten Journalisten. Dies ungeachtet der bekannten Tatsache, dass an den fraglichen Datenträgern reihenweise Änderungen vorgenommen worden waren, bevor sie als „Beweise“ gegen zahllose Linke präsentiert wurden. Angeblich sollen sie beim Angriff 2008 auf ein von Reyes kommandiertes FARC-Lager in Ecuador unbeschädigt, trotz extremem Bombardement, erbeutet worden sein. Selbst der für die Auswertung der „Reyes-Computer“ zuständige Staatsschutzkader gab vor Gericht zu, die daraus gewonnenen „Informationen“ manipuliert waren (s. Kolumbien: Bulle gesteht, „FARC-Beweise“ manipuliert zu haben). Derzeit veröffentlicht die kolumbianische Presse gerade „FARC-Emails“, welche die Mitgliedschaft von Pérez Becerra untermauern sollen. Was Santos & Co.  real nerven dürfte, ist dass Anncol anscheinend die am viertmeisten aufgerufenen Kolumbien-Site ist.

Diesen Mann also liess Chávez verhaften und nicht ausliefern, sondern … deportieren. So drückte sich der kolumbianische Innenminister Germán Vázquez Lleras gestern in der Zeitung El Espectador aus. Tatsächlich spottet das venezolanische Blitzprozedere jeder Beschreibung.  Pérez Becerra war in den Räumlichkeiten des Geheimdienstes Sebin incomunicado gehalten, ohne Kontakt zu einem Anwalt. Seine Aushändigung an das Folterregime erfolgte vielleicht deshalb so rasch und ohne auch nur einen Hauch von ordentlichem Verfahren, weil sich offenbar selbst die schwedische Botschafterin für ihren Bürger eingesetzt hatte. Wäre es zu einem rechtsstaatlichen Verfahren gekommen, hätte das kolumbianische Begehren wohl keine Chance gehabt.

Es ist nicht die erste Auslieferung an die Folterer in Bogotá, die Chávez zu verantworten hat. Seit dem Amtsantritt von Santos und den folgenden Freundschaftsbeteuerungen der beiden Präsidenten ist es dreimal zu Auslieferungen mehrerer angeblicher Mitglieder des ELN und der FARC an Kolumbien gekommen. Umgekehrt hat Santos vor wenigen Tagen einen in Venezuela wegen Mordes gesuchten Drogenhändler an Caracas ausgehändigt. Im März 2010 liess Chávez den deutsch-baskischen Aktivisten Walter Wendelin nach Spanien ausliefern – Wendelin war ein bekannter Aktivist von Askapena, der internationalen Politsolidaritätsorganisation aus dem Umfeld von Herri Batasuna. In Spanien werden baskische Militante, ob ETA-Mitglieder oder nicht, im Normalfall gefoltert. Amnesty International und der UNO-Sonderberichterstatter zu Folter belegen dies regelmässig, wenn auch folgenlos. Die über 7000 politischen Gefangenen in Kolumbien gehören zu den „Glücklichen“, die die Folter lebend überstanden haben.

Als die Schweiz das frühere PKK-Leitungsmitglied Mehmet Esiyok an Ankara ausliefern wollte, war der Widerstand dagegen so gross, dass der Bundesrat sich von den türkischen Behörden die Zusicherung geben lassen musste, Mehmet nicht zu foltern, was von der Schweizer Botschaft überprüft werden dürfe. Das auslieferungsgierige Bundesbern musste sich in der Folge vorhalten lassen, nur zu gern den Lügen der Folterer glauben zu wollen. Mit Erfolg: Mehmet Esiyok wurde nicht ausgeliefert. Es schmerzt tief, sagen zu müssen, dass es in einem rassistischen, reaktionären Staat wie der Schweiz möglich ist, unter sehr günstigen Voraussetzungen eine Auslieferung an ein Folterregime zu verhindern, während im linken Venezuela die chavistische Solidarität mit dem kolumbianischen Widerstand zur Kollaboration mit seinen Massakrierern geworden ist.

Es ist zu befürchten, dass der Entscheid im Falle von Joaquín Pérez Becerra neue „Trends“ setzt. Denn in diesem Fall wäre es Chávez sehr einfach gefallen, die Auslieferung zu verweigern: ein seit langem naturalisierter schwedischer Bürger, Überlebender des in Lateinamerika noch immer unvergessenen Massakers an der UP; ein seit fast 20 Jahren in Schweden lebender Journalist, der ungehindert in Europa reisen konnte … Und, nicht minder wichtig, in diesem Fall hatten venezolanische Linksorganisationen sofort reagiert: mit öffentlichen Erklärungen gegen die Auslieferung wie etwa jener des Gewerkschaftsdachverbandes Unete und mit Protestkundgebungen vor Regierungsgebäuden.

Was ist los mit der Regierung Chávez? Erpressung?. So gibt es in den spanischen Medien unter Führung von El País seit langem eine Hetze für die Auslieferung des venezolanischen Bürgers baskischer Herkunft Arturo Cubillas, der zusammen mit anderen ehemaligen ETA-Häftlingen 1989 auf Ersuchen von Felipe González von der damaligen venezolanischen Regierung aufgenommen wurde. Cubillas arbeitet heute im Agrarministerium. Der klassisch franquistische Richter Eloy Gutiérrez vom Staatssicherheitsgericht Audiencia Nacional beschuldigt Cubillas, mit höchster Protektion seitens der Chávez-Administration ein zentrales Bindeglied zwischen FARC und ETA zu sein. Er stützt sich dabei auf Aussagen zweier ETA-Mitglieder, die sie unter Folter gemacht und schon längst wieder zurückgezogen haben, und auf Beweise aus … dem „Computer von Raúl Reyes“.  Diesen April hatte José Luis Zapatero seinen kolumbianischen Amtskollegen Santos in der Moncloa empfangen. Der spanische Premier kündigte an der Pressekonferenz auf eine Frage an, Chávez wegen der Auslieferung Cubillas’ „unter Druck zu setzen“ und Santos bot seine guten Dienste an … (Francisco, der Bruder des kolumbianischen Präsidenten, war unter dessen Vorgänger Uribe Vizepräsident und zuvor während zweier Jahre Subdirektor von El País vom Prisma-Konglomerat (PSOE-Tendenz) gewesen. Die wichtigste kolumbianische Tageszeitung El Tiempo, jahrelang im Besitz der superreichen Familie Santos, gehört jetzt dem spanischen Medienkonzern Planeta (PP), aber für ihre Editoriallinie sind nach wie vor die Santos zuständig.)

Dass es Beziehungen zwischen den bolivarischen Bewegungen in den beiden historisch besonders verbundenen Ländern gegeben hat, ist klar. Kolumbianische Guerillamissionen waren schon offiziell von Chávez empfangen worden. In der Vor-Chávez-Ära unterhielten die FARC ein offizielles Verbindungsbüro in Caracas. Unter Uribe war die Gefahr einer Grenzprovokation, die sich zu einer internationalen Intervention hätte ausweiten können, nicht von der Hand zu weisen. Santos, der heutige Präsident, war damals Kriegsminister. Im Gegensatz zu seinem damaligen Chef, dem Mafioso, vertritt er aber die klassische Grossbourgeoisie, deren Geschäfte aufgrund des venezolanischen Handelsboykotts riesige Verluste erlitten haben. Die Verbesserung der Beziehungen mit Venezuela (man nennt sich nun amigos, ein Begriff, mit dem Chávez ohnehin inflationär umgeht) im Interesse seiner Klasse verbindet Santos aber mit politischen Kosten für Chávez. So willfährig sich dieser zurzeit auch zeigt, das hindert das Regime in Bogotá nicht, immer wieder mit „Neuigkeiten“ über die angeblichen Intimitäten von FARC und Chávez aus den „FARC-Computern“, oft vom spanischen El País international verbreitet, aufzuwarten. Warum auch die Zitrone nicht weiter auspressen? Unterdessen macht sich der kolumbianische Paramilitarismus in immer grösseren Zonen Venezuelas breit (vgl. Brennt Caracas?).

Doch dies allein kann Chávez’ Auslieferungen nicht erklären. Offenbar ist die von ihm immer wieder als Gefahr gebrandmarkte „Bürokratisierung“ des Umbruchs in Venezuela mittlerweile so weit fortgeschritten, dass auch er aktiv mitmacht in den Bestrebungen des reaktionären Teils seiner Regierung, international weniger anzuecken. Das alles ist tragisch.