Haiti: Widerstand gegen Zwangsräumungen

Sonntag, 24. Juli 2011

Vertriebene Frauen verlangen Gerechtigkeit in Port-au-Prince

Bill Quigley, unter Mitarbeit von Jocelyn Brooks*

„Wir Frauen verlangen Gerechtigkeit für Marie“, skandierten mehr als hundert Stimmen. Marie, eine 25-jährige schwangere Mutter, wurde von Regierungsbeamten verletzt, als sie ihr bei einem frühmorgendlichen Einsatz in einem Lager von Erdbebenopfer in Port-au-Prince eine Holztüre in den Bauch schmetterten. Die Regierung wendet Gewalt an, um Tausende zu zwingen, die Lager zu verlassen. Die Leute, die keinen Ort haben, an den sie hingehen könnten, wehren sich.
Die Leute, die Gerechtigkeit verlangen, sind BewohnerInnen des provisorischen Lagers Camp Django im Stadtteil Delmas 16 in Port-au-Prince. Sie sind aufgebracht wegen der Verletzungen von Marie und der wiederholten Regierungsdrohung, ihr Lager werde geräumt werden. Trotz einer Temperatur von fast 40 Grad zogen über hundert BewohnerInnen, vor allem Mütter, durch die Stadt, um zu verlangen, dass die Regierung ihr Menschenrecht auf Wohnen respektiere.
Vertriebenenlager bei Port-au-Prince.

Auf ihre Einladung folgten wir ihnen dorthin, wo sie seit dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 wohnen, das Hunderttausende obdachlos machte. Auf einem abfallenden Geländer kleiner als ein Footballfeld, leben 250 Familien in selbstgebauten Unterkünften aus grauen und blauen Zeltblachen aus Plastik, Abfallholz und nicht zusammen passenden Blechen. Auf den von anderthalb Jahren Sonnenschein gebleichten Blachen sind immer noch die Logos von USAID, World Vision, Rotary International. UNICEF, UNIFAM, Taiwan und anderen zu erkennen. Die Familien leben ein paar Zentimeter von einander getrennt. Wasser kaufen sie auswärts und schleppen es herbei. Vier oben offene Holzboxen mit Blachen sind die Duschen, wo sich die Leute wachen können, wenn sie ihr eigenes Wasser und Seife mitbringen. Loch-im-Boden-Toiletten gibt es wenige, sie sind voll und stinken penetrant in der Hitze. Bei Regen fliesst das Regenwasser in die Zelte und der Toilettendreck wird überall verteilt.
Ein Lager in Delmas, Port-au-Prince.

Eine Frau mittleren Alters sitzt unter einem Bananenbaum und verpflegt ihre offene Fusswunde von der Grösse eines Dollarscheines; eine Erdbebenverletzung, die eine Hautverpflanzung braucht, die sie nicht bezahlen kann. Im Camp gibt es 375 kleine Kinder einschliesslich 29, deren Eltern beim Erdbeben umgekommen sind.
„Wir sind Erdbebenopfer“, sagen uns die Frauen und Männer, als sie uns herumfahren. „Wir haben ein Menschenrecht darauf, wo zu wohnen. Wir wollen nicht für das Recht kämpfen, in diesem Lager zu bleiben. Hier ist es sehr heiss und mittags können wir nicht in den Zelten bleiben. Aber wir alle suchen und suchen und finden keinen anderen Platz. Bis wir eine Wohnung erhalten, sind diese Heimstätten alles, was wir haben“.
Es gibt Tausende solcher Lager in Port-au-Prince. In einigen leben Tausende, in vielen, wie in Camp Django, Hunderte. Ein Regierungsmythos besagt, dass sich die Leute nur in den Lagern versammeln, um Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung zu erhalten. Die Wahrheit ist, dass viele, viele der Lager inklusive Cap Django kein Wasser, keine Nahrung und keine medizinische Versorgung erhalten.
Wir besuchten Marie (Name zu ihrem Schutz geändert) in ihrem Schachtel-ähnlichen Zelt. Sie liegt auf dem Bett und windet sich vor Schmerz. Sie hat sich erbrochen und geblutet. LagerbewohnerInnen wechseln sich ab, sie zu unterstützen und ihre Stirn zu kühlen. Sie erklärten uns, dass sie von Männern angegriffen wurde, die das Lager auf Befehl des Bürgermeisters von Delmas, dem Vorort von Port-au-Prince, betreten hatten.
Letzten Samstag stürmte eine teilweise mit Pistolen bewaffnete Gruppe von fünf Männern das Lager und bedrohten die bewohnerInnen. Vier von ihnen trugen die grünen T-Shirts mit der Aufschrift „Mairie de Delmas“. Die Männer des Bürgermeisters erklärten den Leuten, dass sie ihre Zelte bald zerstören würden. Sie prahlten, dass sie die Leute schlimmer „als in Carrefour Aero port“ behandeln würden, wo es vor weniger als einem Monat zu einer illegalen Räumung eines Vertriebenlagers durch den gleichen Bürgermeister und seine Polizei gekommen war. 
Die Leute des Bürgermeisters bahnten sich ihren Weg durch das Lager, nahmen die Namen und ID-Nummern der Haushaltsvorstände auf und sprayten Nummern auf die Zelte. Als die Männer auf die Holztüre in der Unterkunft hämmerten, in der Marie mit ihrem Mann lebte, versuchte sie, sie vom Eindringen abzuhalten. Marie versuchte zu erklären, dass ihr Mann nicht zuhause war. Aber der Gruppenführer JL brach die Tür mit Gewalt auf und traf damit ihren Bauch, worauf sie rücklings zu Boden stürzte.
Drei Tage später war Marie mit starken Schmerzen ans Bett gefesselt und halb verrückt vor Sorgen um ihr Kind.
Als ein Nachbar von Marie protestierte, wurde JL wütig und drohte, ihn zu ermorden. Die Leute fürchteten seine Worte, vor allem, als sie eine Pistole im Hosenbund erblickten.
Als die Regierung sich ihren Weg im Lager bahnte, riefen die BewohnerInnen MenschenrechtsanwältInnen des Bureau des Avocats Internationaux zu Hilfe. Jeena Shah, eine BAI-Anwältin, gelangte ins Camp Django, als die Regierungsbeamten noch dort waren. Jeena fragte JL, warum sie die Zelte mit Nummern markiert haben. JL war ausweichend und wiederholte dauernd, dass ihn „die Regierung“ geschickt habe. Schliesslich gab er an, der „Nationalpalast“, eine Bezeichnung für Staatspräsident Michel Martelly, habe ihn geschickt. Bei Verfassen dieses Artikels hat der Präsident die Autorisierung oder die Beteiligung an der angedrohten Räumung weder dementiert noch bestätigt.
Die BewohnerInnen von Camp Django befürchten zu Recht ein Schicksal wie das von so vielen anderen Erdbebenvertriebenen – gewaltsame Räumung, Verschärfung ihrer ohnehin schon verletzbaren Situation und Obdachlosigkeit.
Camp Django ist nur ein kleines Beispiel für das, was in Haiti geschieht. Die International Organisation on Migration schätzte, dass im April 2011 166'000 heimlose Erdbebenüberlebende unmittelbar von Räumung bedroht waren, also ein Viertel der vertriebenen Bevölkerung. Die Räumungen werden von der Regierung durchgeführt oder stillschweigend geduldet, trotz Entscheiden der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, welche die Regierung dazu anhielt, ein Moratorium für die Räumungen zu verhängen und angemessene Massnahmen für den Schutz der vertriebenen Bevölkerung vor ungesetzlichen Zwangsräumungen zu ergreifen.
Es ist immer noch unklar, on der Bürgermeister von Delmas die spezifischen Gewaltakte gegen die BewohnerInnen von Camp Django ermutigte oder billigte, doch seine Haltung zu Zwangsräumungen ist wohl bekannt. Nachdem er sich letzten Monat in einer Reihe von ungesetzlichen Räumungen austobte, verkündete er kürzlich im haitischen Fernsehen, dass er weiterhin vertriebene Communities aus ihren Zeltlagern räumen werde, obwohl sie nirgends hingehen können.
Präsident Martelly weigerte sich, die gewalttätigen Räumungen des Bürgermeisters von Delmas öffentlich zu verurteilen und ist verantwortlich für irgendwelche Drohungen oder einen Schaden zulasten der Community von Camp Django und der tausenden anderen Vertriebenenlagern in Haiti.
Die Frauen rufen nach Freiheit. „Die Reichen“, sagen sie uns, „brauchen Gewalt gegen die Armen in Haiti“. Sie verlangen Gerechtigkeit für Marie. Und sie beharren auf Schutz für ihr Menschenrecht auf Wohnen. Sie organisieren sich. Ihre Stimmen sind stark. Ihre Leidenschaft ist rein. Ihre Sache ist gerecht. Sie inspirieren uns, uns ihnen anzuschliessen.


* „Displaced Women Demand Justice in Port au Prince“, 30.6.11, Huffington Post.
Bill Quigley lehrt an der Loyola University von New Orleans und wurde bekannt als Menschenrechtsverteidiger von schwarzen Opfern von Stadtsanierung nach dem Wirbelsturm Katrina und der damit einhergehenden Repression. Er ist seit Jahren für Haiti engagiert (vgl. auch seinen Artikel zu der Rolle der USA in den Hungerrevolten von Haiti aus Correos 154, August 2008). Bill Quigley arbeitet im angesehenen Center for Constitutional Rights (CCR), mit. Jocelyn Brooks ist Fellow beim CCR und arbeitet im haitischen RechtsanwältInnenkollektiv Bureau des Avocats Internationaux.