Wie funktioniert das venezolanische Wahlsystem?

Samstag, 27. April 2013



(zas, 26.4.13) Gestern hat der unterlegene Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles faktisch eine neue Verschärfung der Chaosstrategie in Venezuela angekündigt, indem er teilweise absurde Forderungen für die sogenannte Nachzählung stellte. Das ist keine Überraschung. So oder so oder so will die Rechte unter Anleitung aus Washington ihre Wahlniederlage nicht hinnehmen, sondern möglichst viele „Wirren“ provozieren, die kurz- oder mittelfristig ausländische Interventionen diverser Art legitimieren sollen. Wir werden darauf eingehen. Zuvor aber ist es nötig, das venezolanische Wahlsystem darzustellen, um die medial gehandelten Lügen dazu durchschauen zu können. Oder anders gesagt: Warum sagte Jimmy Carter letzten Herbst: „Von den 92 Wahlen, die wir [das Carter Center] beobachtet haben, würde ich sagen, dass der Wahlprozess in Venezuela der beste weltweit ist“ (Global Atlanta, 17.9.12)? (Und warum wohl meinte er bei derselben Gelegenheit bezüglich des US-Wahlsystems: „Wir haben eines der weltweit schlechtesten Wahlsysteme“?)

Beleg, nicht Stimmzettel
Das venezolanische Wahlsystem ist voll computerisiert, d.h., landesweit werden die Stimmen in den rund 40'000 Wahlzentren an Wahlcomputern abgegeben und von diesen zusammengerechnet. Die Wählerin, der Wähler wird über ein automatisiertes Fingerabdrucksystem identifiziert, um Betrugsmanöver wie Mehrfachwählen zu unterbinden. Erst diese Fingerabdruckidentifzierung aktiviert den Wahlcomputer für die Stimmabgabe. Dabei tippt man auf dem elektronischen Wahlzettel auf dem Bildschirm seine/ihre Wahl an (im aktuellen Fall: Nicolás Maduro oder Henrique Capriles), erhält davon einen Ausdruck und kann erst danach die elektronische Wahl validieren, indem man auf „votar“ (stimmen) drückt. Dies erlaubt, wäre die angegebene Wahloption im Ausdruck falsch, die elektronische Wahl zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. (Weder bei diesen noch bei früheren Wahlen ist offenbar auch nur ein Fall von Diskrepanz zwischen der angegebenen elektronischen Option und dem Ausdruck bekannt geworden.) Danach wirft man den erhaltenen Ausdruck in eine Urne ein. Die ParteivertreterInnen an den Wahltischen tragen dafür Sorge, dass das nicht vergessen geht. Bei diesem Ausdruck handelt es sich juristisch nicht um einen Stimmzettel, da die Stimme ja elektronisch abgegeben wird, sondern um einen Beleg – comprobante. (Ein Detail, auf das wir bei der Diskussion der rechten Manipulation rund um das Wahlergebnis zurückkommen werden.)
 
Fingerabdruck-Identifizierung

Pro Wahltisch sind 500 Wahlberechtigte eingetragen. Die Wählenden unterschreiben auch im handschriftlich geführten sogenannten Wahlheft. Nach Ende des Wahlvorgangs rechnet die Wahlmaschine in der sogenannten Stimmauszählungsakte (acta de escrutinio) die Stimmen zusammen. Darin sind enthalten die Angaben über die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen und die Zahl der Stimmen pro Kandidatur. Die Zahl der Wahlbeteiligten auf dieser Akte wird mit jener im schriftlich geführten Wahlheft verglichen. Anschliessend wird die elektronische Stimmauszählungsakte von allen Mitgliedern des Wahltischs – das sind die ComputertechnikerInnen des Wahlrates CNE (Consejo Nacional Electoral) und die ParteivertreterInnen – unterschrieben (so wie hierzulande auf dem Postbüro handschriftlich-elektronisch firmiert wird) und ausgedruckt. Danach wird die Maschine an ein vom Internet unabhängiges, gegen Fremdeinwirkung abgeschirmtes und von der staatlichen Telekom Cantv speziell geschaffenes Übertragungsnetz angeschlossen und die Daten der firmierten Schlussakte werden ans nationale Rechenzentrum des CNE, das sogenannte Totalisierungszentrum, übermittelt. Die VertreterInnen der beteiligten Parteien erhalten Kopien der Akte. 
Im Wahlheft unterschreiben


Nicht eine Divergenz
Als nächstes sieht das venezolanische Wahlgesetz die Überprüfung von 54 % der Wahltische, rund 20'800 an der Zahl, noch am Wahlabend vor. Diese Wahltische werden mit einem international anerkannten Zufallsgenerator ausgewählt; es gibt also keine Möglichkeit, „präparierte“ Wahltische unterzujubeln. Dabei vergleichen die Mitglieder jedes Wahltisches u. a. die elektronischen Wahlresultate mit den in der Urne deponierten „Wahlzetteln“ bzw. Belegen. Auch dafür wird eine Akte mit der Unterschrift aller Beteiligter, also auch der Opposition, erstellt; Kopien erhalten der CNE und die ParteivertreterInnen. Auch bei den letzten Wahlen ist wie bei früheren Wahlanlässen nicht eine, ich wiederhole, nicht eine Unstimmigkeit reklamiert worden. (Auch bei seiner sogenannten Beschwerde vor dem CNE vom letzten Mittwoch hat das des Oppositionsbündnis nicht einen konkreten Fall von Unstimmigkeit bei diesen 54% aller Wahltische geltend gemacht. Es hat stattdessen allgemeine Verdächtigungen und durch kein einziges Indiz erhärtete Zahlen zur angeblichen Massenhaftigkeit des Betrugs vorgetragen; ein durchsichtiges Manöver, um sagen zu können, man habe Rechtsmittel ergriffen, ohne diese aber real zu ergreifen.) Die Bestimmung der Nachkontrolle von 54 % der Wahltische war 2006 als Entgegenkommen an die Rechte ins Wahlgesetz aufgenommen worden. CNE-Vizepräsidentin Sandra Oblitas meinte dazu: „Statistisch liegt dies [die 54 %) weit über jedem rationalem Gebot, denn die das automatisierte System bildenden technologischen Elemente könnten zu 3 oder 5 % überprüft werden, aber es werden 54 % kontrolliert und das Resultat ist wie immer exakt“ (aporrea.org, 23.4.13).

Kontrollen
Das Papier Tecnología Electoral en Venezuela des CNE, in dem wohlverstanden die Opposition sowohl im nationalen Leitungsorgan wie auch in den technischen Bereichen vertreten ist, schildert eine Reihe Kontrollmechanismen, mittels derer das einwandfreie Funktionieren des Wahlsystems garantiert wird. Gemeinsam ist allen elektronischen Kontrollen, dass sie mit eine sogenannten Hashwert  „unterschrieben“ werden. Wird beispielsweise die Software eines Wahlcomputers (ihr in Programmiersprache geschriebener Quellcode) untersucht, wird nach der Prüfung ein einzigartiger Hashwert errechnet, der sich aus Elementen wie der Software, der betreffenden Maschine, dem Zeitpunkt seiner Erstellung u. a. ergibt. Erfolgt später irgendein Eingriff in die Software, verändert sich der Hash- oder Streuwert unweigerlich. Es handelt sich somit um eine Art situative Unterschrift, deren Aktivierung überdies die gemeinsame Beteiligung der VertreterInnen des CNE, der beteiligten Parteien oder Parteibündnisse und des Softwareherstellers Smartmatic bedingt. Eine einzelne Partei hat keine Möglichkeit, auf den Hashwert zuzugreifen.
Bei allen Kontrollen sind mindestens TechnikerInnen des CNE und der wahlteilnehmenden Parteien oder Parteibündnisse beteiligt. Von den im CNE-Papier zitierten Kontrollen seien hier folgende erwähnt:
1.            Vor der Wahl überprüfen CNE, Parteien und Smartmatic den Quellcode der Software für jede einzelne Wahlmaschine. Der danach generierte Hashwert wird bei jeder folgenden Kontrolle überprüft.
2.            Jede Wahlmaschine wird auf Hashwert und Funktionsweise überprüft. Ein Prozent der nach Zufallsprinzip ausgewählten Maschinen wird vor der Auslieferung nochmals überprüft.
3.            Kontrolle des Systems der biometrischen Identifizierung. Dabei geht es vor allem darum, sicherzustellen, dass eine Verbindung von Fingerprints mit der Sequenz der Stimmabgabe ausgeschlossen ist und damit das Wahlgeheimnis respektiert wird.
4.            Auch biometrische Maschinen werden, nach einem Zufallsprinzip ausgewählt, auf ihren Hashwert überprüft.
5.            Alle Elemente des Übertragungsnetzes werden überprüft und es wird sichergestellt, dass es keine Möglichkeit gibt, vom Internet aus darauf zuzugreifen.
6.            Das nationale Rechenzentrum (Totalisierungszentrum) des CNE, seine Komponenten, sein Quellcode und der Hashwert seines Anwendungprogramms werden überprüft. Nach den Wahlen erhalten die Parteien vom CNE das Logbuch mit den Daten, Zeitpunkt und Dauer der Verbindung zwischen Wahlmaschine und Rechenzentrum.
7.            Schlusskontrolle. Dabei handelt es sich um die 54 % zufällig ausgewählter Wahltische, bei denen die Gesamtstimmen und Stimmenzahl für im aktuellen Fall Maduro und Capriles der elektronischen Stimmauszählungsakten mit jenen der papierenen Belege in der Urne abgeglichen werden.
 
Wahltisch

Wie gesagt, es gibt noch eine Reihe gesetzlich vorgeschriebener Kontrollen mehr. Zu erwähnen ist auch, dass die Parteien natürlich mit Argusaugen darüber wachen, ob die im nationalen Rechenzentrum verwendeten Daten mit jenen der Stimmauszählungsakte des einzelnen Wahltisches übereinstimmen – von beiden Angabensets haben sie Kopien mitsamt den Unterschriften. Auch hier: Die Wahlbetrug schreiende Rechte hat nicht eine einzige Divergenz beanstandet.

Nachprüfung verweigern
Mit diesen Sicherungen gilt in Venezuela die elektronische Stimme als juristische Stimmabgabe (wie übrigens in den Teilen der USA oder anderswo, wo es elektronische Stimmabgabe gibt). Die nur auf den ersten Blick plausibel erscheinende Forderung von Capriles (und Washington) nach einer „Nachzählung“ der Papier-„Stimmzettel“ oder neu etwa nach einer „Überprüfung“ jeder einzelnen Unterschrift im Wahlheft, jedes einzelnen Fingerabdrucks zielt darauf ab, das ganze Wahlsystem abzulehnen. Deshalb kommt es zu Äusserungen von CNE-Mitgliedern, dass eine „Nachzählung“ im Sinne Washingtons und Capriles unmöglich sei. Eine Nachzählung im eigentlichen Sinn hat es ja schon in 54 % der Wahltische gegeben, mit Unterstützung und Validierung der jeweiligen OppositionsvertreterInnen an den Wahltischen. Der CNE hatte letzte Woche beschlossen, auch die restlichen Wahltische (bzw. einen grossen, nach Zufallsprinzip ermittelten Teil davon) in diesem Sinne nachzukontrollieren. Eine Herkulesarbeit, denn jetzt sind die insgesamt 7 Mitglieder der 40'000 Wahltische ja wieder verstreut. Auf heute oder morgen Freitag hat der Wahlrat deshalb die Ausarbeitung eines Chronogramms für diese zweite Nachkontrolle, die rund einen Monat dauern würde, angekündigt. Capriles stellte nun am Mittwoch ein „Ultimatum“, dessen gesammelte Elemente schlicht auf die Nichtanerkennung jenes Wahlsystems hinauslaufen, das sein Parteienbündnis nicht nur für diese und vorausgegangene Wahlen anerkannt, sondern auch für seine internen Primärwahlen beansprucht hatte, die ihn, den rechtsextremen Aktivisten aus reichem Haus, zum Präsidentschaftsanwärter gemacht hatten. Mit anderen Worten: Capriles weiss, dass auch die Nachkontrolle der restlichen Wahltische an seiner Niederlage nichts ändern würde. Also sabotiert er diese Nachkontrolle mit absurden Forderungen (die geforderte „Überprüfung“ jeder einzelnen Unterschrift, jedes einzelnen Fingerabdrucks der über 14 Millionen WählerInnen würde mindestens viele Monate erfordern.) Worum es ihm und Washington geht: sich jeglicher realen Kontrolle des Wahlergebnisses verweigern und die Strategie des Chaos aktiv voranzutreiben, trotz ungünstigen lateinamerikanischen Umfelds.

Den Angriff verschärfen
„Unsere“ Medien, so geil darauf, die Fährte des Wahlbetrugs in Venezuela aufzunehmen, leiden an der im Herrschaftslager üblichen politischen Schizophrenie: In den USA, wo Wahlcomputer anfällig sind für auch primitivste Manipulationen, ist zum Beispiel der Quellcode „Betriebsgeheimnis“ und kann nicht eingesehen werden, weder von der Wahlbehörde noch von den Parteien.  Das Krankheitsbild wird nicht dadurch geschönt, dass der elektronische Wahlbetrug durch andere, klassischere Methoden des zunehmenden Wahlausschlusses Wahlberechtigter aus den Unterklassen in den Schatten gestellt wird. US-Aussenminister John Kerry fordert heute „wegen“ des knappen Resultats eine „Nachzählung“ der geschilderten Art. Als er bei den Präsidentschaftswahlen 2004 mit einem viel knapperen prozentualen Resultat gegen Bush unterlag, akzeptierte er schnurstracks, ohne mit der Wimper zu zucken, zum Entsetzen vieler seiner AnhängerInnen, das offizielle Verdikt. Natürlich, damals ging es um eine interne Ausmarchung in der Elite, heute aber um eine von der Obama-Administration verschärfte Destabilisierungattacke auf Venezuela.