(zas, 7.7.15) Einblick in die Dynamik der Protestbewegung in Guatemala. Geschrieben Anfang Juni, jüngst vom Guatemala-Netz veröffentlicht. Gegen das vom Autor erwähnte Verfahren zur Amtsenthebung hat der Präsident rekurriert. Eine parlamentarische Untersuchungskommission befürwortete soeben die Aufhebung der Immunität des Präsidenten, das Parlamentsplenum wird das am Freitag vermutlich ablehnen.
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Guatemala-Stadt, Juni 2015
Miguel
Mörth
Die Ereignisse überschlagen sich weiter, aber ich versuche heute eher die „grossen Linien“ der Geschehnisse zu beschreiben:
1. Die Exekutive ist kollabiert. Der Präsident Otto Pérez Molina
(OPM), der noch vor einem guten Jahr über eine Mandatsverlängerung auf 6 Jahre
schwadronierte, ist noch im Amt - aber kein Handelnder mehr. Nach dem Rücktritt
von Roxana Baldetti kam es zu neuen Verhaftungen am 21. Mai 2015. Hintergrund
war ein betrügerischer Vertrag des Vorstands des Gesundheitssystems für die
versicherten Arbeitnehmer (IGSS), der mindestens 10 Patienten das Leben
kostete. Festgenommen wurde neben dem ehemaligen Privatsekretär des Präsidenten,
den dieser als Chef des IGSS durchgesetzt hatte, der gesamte IGSS-Vorstand, darunter
der Präsident der Bank Guatemalas. In den Tagen danach traten wichtige Minister
zurück, darunter López Bonilla, der Innenminister; aber auch andere Vertraute des
inneren Präsidentenzirkels wurden zum Rücktritt gezwungen. Heute hält OPM sich
nur noch, weil die US Botschaft und der CACIF den Protesten nicht zu viel
nachgeben und einen von ihnen kontrollierten Wechsel wollen, „um 1 Am
10.Juni 2015., kurz nachdem ich dies schreibe, eröffnet das Oberste Gericht
(CSJ) das Verfahren zur Aufhebung der Immunität des Präsidenten. 2 Aktuell
existiert eine nicht unerhebliche Tendenz in der Bevölkerung, bei den Wahlen
„ungültig“ zu stimmen. Wie immer wurde das kritisiert mit dem ewigen Argument,
dass die staatliche Institutionalität zu
bewahren“. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Öffentliche Institutionen
finden nicht mehr statt. Ich wage zu behaupten, dass OPM sich nicht bis zum 14.
Januar 2016, dem Datum der Machtübergabe, halten wird1.
"Sie haben uns so viel genommen, dass sie uns am Schluss auch die Anggst genommen haben". Quelle: nomada.gt |
2. Die Wahlen im September sind sicher nicht die Lösung der Krise.
Fast alle der zur Wahl stehenden Parteien sind Teil des korrupten Systems;
daran zweifelt niemand, auch nicht die traditionell staatstragenden Sektoren.
Es ist Konsens, dass das Verfassungsmodell von 1985 untragbar geworden ist; der
Kongress ist längst Symbol der Korruption. Die Forderungen nach einer Reform
des politischen Systems sind Allgemeingut und öffnen interessante neue Wege2. Das ermöglicht Reformen und sogar die Einsetzung einer
Verfassungsgebenden Versammlung. Das Problem ist nur: wie können Reformen mit
diesem Kongress gemacht werden, und vor allem: Wie kann man garantieren, dass
eine neue Verfassung eben nicht von den alten Seilschaften bestimmt wird, die
die Situation ausnutzen zur Konsolidierung des korrupten Systems? Mindestens müssten
vorher zentrale Gesetze geändert werden, wie dasjenige zur Kontrolle der
politischen Parteien und deren Finanzierung. Aber reicht dafür die Zeit? Müssen
die Wahlen verschoben werden? Reicht die Kraft der Bewegung dazu, das zu
erzwingen? Die eher konservativen Sektoren haben sich dem „diese Stimmen dann verloren sind“.
Interessante Tatsache ist, dass heute auch der Präsident des obersten
Wahlgerichts und CEDECOM (Zentrum zur Verteidigung der Verfassung) öffentlich darüber nachdenken, ob nicht ein bestimmter
Prozentsatz solcher bewusster Nein-Stimmen zur Wiederholung der Wahlen zwingen
müsste. 2 zuerst
verschlossen, allerdings ist das jetzt nicht mehr so eindeutig.
3. Auch die Justiz wird als Teil des Problems wahrgenommen, zumal
die Skandale der letzten Wochen immer mehr RichterInnen mit einschliessen,
zuletzt die Präsidentin der Strafkammer des obersten Gerichts (CSJ), Blanca
Staling. Sie wurde in den Abhörmitschnitten als Garantin der Bestechung ihrer Schwägerin
erwähnt, der Richterin Siera de Staling, die die Köpfe des Steuerbetrugs- Syndikats
„La Línea“ im April gegen eine lächerlich geringe Kaution von der Haft
verschonte; am 21.Mai 2015 wurde dann noch ihr Sohn verhaftet wegen des
IGSS-Skandals. Als dann noch am 6. Juni 2015 Francisco Palomo, der Anwalt von
Ríos Montt und graue Eminenz dieser Art von Justizsystem, erschossen wird, kann
man nur ahnen, was zurzeit hinter den Kulissen abgeht. Die Empörung angesichts der
korrumpierten Justiz wird daher immer grösser und die Forderung nach einer umfassenden
Justizreform präsenter.
4. Die Bevölkerung demonstriert nicht nur, sie feiert ihr eigenes
Erwachen. Alle Schichten und Altersgruppen machen mit, trotzdem handelt es sich
vor allem um das Aufstehen der vorher passiven urbanen Mittelschicht. Es herrscht
eine Atmosphäre von zivilem Ungehorsam, die ansteckend scheint. Die 1. Mai- Demonstration
wie auch Aktionen von ländlichen Organisationen wie CODECA haben die Reform-
und Rücktrittsforderungen längst aufgenommen. Eine ständig gesungene Parole
lautet: „Ni Otto, ni la Roxana, se imaginaron esta fiesta ciudadana“.3 Es wird jeden Samstag demonstriert, jeden zweiten Samstag massiv.
Am 16. Mai waren es 60 – 80‘000 Menschen, 14 Tage später vielleicht noch mehr,
Gebete, Kunstaktionen, Nachmittags- und Nachtdemonstrationen eingeschlossen. Die
Kreativität dieser Aktionen bleibt ungeheuer beeindruckend und auch die
politische Richtung ist unstreitig: Rücktritt und Verurteilung der
Verantwortlichen, Rückzahlung der gestohlenen Gelder, politische Reformen im
oben genannten Sinne, Ende der Straffreiheit, Justizreform und richterliche Unabhängigkeit.
5. Was wird passieren? Alles ist möglich. Das korrupte System ist
nicht tot, seine Kandidaten machen Wahlkampf, nur geht gerade keiner hin. Die
Bevölkerung sagt entschieden: „Basta Ya“ und will wirkliche
Veränderungen. US Botschaft und CACIF halten zurzeit den Präsidenten, werden
diesen aber wohl fallen lassen, wenn es geboten erscheint. Die Handelskammer scheint
offener für die notwendigen Reformen, der industrielle Sektor setzt eher noch
auf OPM. Die runden Tische, die die Reformen technisch ausarbeiten sollen,
können das ohne Druck der Strasse sicher nicht tun, weil es Brems- und
Manipulierungsversuche geben wird. Die Stiftung Mack hat das für die
Justizreform heute schon denunziert.
1)
Am 10.Juni
2015., kurz nachdem ich dies schreibe, eröffnet das Oberste Gericht (CSJ) das
Verfahren zur Aufhebung der Immunität des Präsidenten.
2)
Aktuell
existiert eine nicht unerhebliche Tendenz in der Bevölkerung,bei den Wahlen
„ungültig“ zu stimmen. Wie immer wurde das kritisiert mit dem ewigen Argument,
dass „diese Stimmen dann verloren sind“. Interessante Tatsache ist, dass heute
auch der Präsident des obersten Wahlgerichts und CEDECOM (Zentrum zur
Verteidigung der Verfassung) öffentlich darüber nachdenken, ob nicht ein
bestimmter Prozentsatz solcher bewusster Nein-Stimmen zur Wiederholung der
Wahlen zwingen müsste.
3)
Übersetzt sinngemäss: „Nicht Otto
und auch nicht Roxana stellten sich vor, es gäbe so viel Konfetti....“